Fünftes Kapitel - Drei zerrissene Fäden - 02
Das Frühstück war recht heiter; von der Angelegenheit, die uns zusammengeführt hatte, wurde nicht viel gesprochen. Erst als wir nach dem Essen im anstoßenden Salon saßen, fragte Holmes Sir Henry Baskerville, was er zu tun gedächte.
»Ich gehe nach Baskerville Hall.«
»Und wann?«
»Ende dieser Woche.«
»Im großen und ganzen,« sagte Holmes, »finde ich Ihren Entschluß sehr richtig. Ich habe die vollkommene Gewißheit, daß Ihre Schritte hier in London überwacht werden, und in dieser Millionenstadt ist es schwer herauszufinden, was für Leute hinter Ihnen her sind, und was sie wollen. Wenn sie böse Absichten haben, so könnten sie Ihnen etwas zuleide tun, was wir nicht imstande wären zu verhindern. Sie wissen wohl nicht, Herr Doktor Mortimer, daß Ihnen heute vormittag jemand gefolgt ist, als Sie von meinem Haus fortgingen?«
Dr. Mortimer fuhr von seinem Stuhl auf und rief: »Uns folgte jemand? Wer?«
»Das kann ich Ihnen unglücklicherweise nicht sagen. Haben Sie unter Ihren Nachbarn oder Bekannten von Dartmoor irgendeinen Mann mit schwarzem Vollbart?«
»Nein – oder warten Sie mal – doch. Ja. Barrymore, Sir Charles' Kammerdiener, trägt einen schwarzen Vollbart.«
»Ha! Wo ist Barrymore?«
»Er ist Hausverwalter auf Baskerville Hall.«
»Wir wollen uns lieber vergewissern, ob er wirklich dort ist, oder ob er vielleicht in London sein könnte.«
»Wie können Sie das?«
»Geben Sie mir ein Telegrammformular. ›Ist alles bereit für Sir Henry?‹ So, das genügt. Adresse: Herrn Barrymore, Baskerville Hall. Wo ist das nächste Telegraphenamt? Grimpen. Sehr gut; wir schicken eine zweite Depesche an den Postmeister von Grimpen: ›Telegramm an Herrn Barrymore ist zu eigenen Händen zu bestellen. Wenn dieser abwesend, gefälligst Drahtantwort an Sir Henry Baskerville, Northumberland-Hotel.‹ Dadurch können wir vor heute abend wissen, ob Barrymore auf seinem Posten in Devonshire ist oder nicht.«
»Sie haben recht,« sagte Baskerville. »Übrigens, sagen Sie doch mal, Herr Doktor, was ist dieser Barrymore eigentlich für ein Mann?«
»Er ist der Sohn von dem früheren, jetzt verstorbenen Schloßverwalter. Die Familie ist schon seit vier Generationen im Amt. So viel ich weiß, sind er und seine Frau ein so respektables Ehepaar wie nur eines in der ganzen Gegend.«
»Zugleich ist es sehr klar,« fiel Baskerville ein, »daß, so lange niemand von der Familie im Schloß wohnt, die Leutchen ein großartig schönes Haus und nichts zu tun haben.«
»Das stimmt.«
»Hatte Barrymore irgendeinen Vorteil von Sir Charles' Testament?« fragte Holmes.
»Er und seine Frau bekamen je fünfhundert Pfund Sterling.«
»Oho! Wußten sie, daß sie das bekommen würden?«
»Ja. Sir Charles sprach mit Vorliebe von seiner letzten Verfügung.«
»Das ist sehr interessant.«
»Ich will hoffen,« sagte Doktor Mortimer, »Sie sehen nicht mit mißtrauischen Augen auf jeden, der von Sir Charles mit einem Vermächtnis bedacht worden ist, denn mir hat er auch tausend Pfund hinterlassen.«
»Was Sie nicht sagen. Und hat er auch sonst noch anderen Leuten etwas ausgesetzt?«
»Viele unbedeutende Beträge für einzelne Personen und viele größere für öffentliche Wohltätigkeitseinrichtungen. Der ganze Rest fiel an Sir Henry.«
»Und wieviel betrug dieser Rest?«
»Siebenhundertundvierzigtausend Pfund.«
Holmes zog überrascht die Augenbrauen empor und sagte:
»Ich hatte keine Ahnung, daß es sich um eine solche Riesensumme handelt.«
»Sir Charles galt für reich, aber wir wußten selbst nicht, wie ungeheuer reich er war, bevor wir an die Aufstellung seiner Papiere kamen. Der Gesamtwert des Vermögens belief sich auf beinahe eine Million.«
»Alle Wetter! Dafür dürfte wohl jemand ein verzweifeltes Spiel wagen. Noch eine Frage, Herr Doktor. Angenommen, unserem jungen Freund hier stieße etwas zu – verzeihen Sie, bitte, diese unangenehme Hypothese, Sir Henry – wer würde dann das Vermögen erben?«
»Da Sir Charles' jüngerer Bruder, Rodger Baskerville, unverheiratet gestorben ist, so würde der Besitz an die Desmonds kommen. Sie sind entfernte Verwandte. James Desmond ist ein älterer Geistlicher in Westmoreland.«
»Danke. Alle diese Einzelheiten sind von großer Bedeutung. Haben Sie Herrn James Desmond je persönlich gesehen?«
»Ja. Er kam einmal herüber, um Sir Charles zu besuchen. Er ist ein Mann von würdiger Erscheinung und gottseligem Lebenswandel. Ich erinnere mich, daß er sich weigerte, von Sir Charles eine Rente anzunehmen, obwohl dieser sie ihm geradezu aufdrängte.«
»Und dieser Mann von einfachen Lebensgewohnheiten würde also Sir Charles' Hunderttausende erben.«
»Er würde der Erbe des Landbesitzes sein, weil es ein Familiengut ist. Er würde ebenfalls das Geld erben, wenn nicht etwa der derzeitige Eigentümer anderweitig darüber verfügte, was er natürlich ganz nach seinem Belieben tun kann.«
»Und haben Sie Ihr Testament gemacht, Sir Henry?«
»Nein, Herr Holmes, das habe ich nicht getan. Ich habe keine Zeit dazu gehabt, denn ich erfuhr überhaupt erst gestern, wie die Verhältnisse liegen. Aber nach meinem Gefühl sollte das Geld an den kommen, der Titel und Landbesitz erhält. Wie soll denn der Besitzer den alten Glanz der Baskerville wieder herstellen, wenn er nicht Geld genug hat, um den Besitz in gutem Stand zu halten? Haus, Land und Geld müssen beieinander bleiben.«
»Ganz recht! Nun, Sir Henry, ich bin ebenfalls Ihrer Meinung, daß es sich empfiehlt, wenn Sie unverzüglich nach Devonshire gehen. Nur muß ich einen Vorbehalt machen: Sie dürfen auf keinen Fall allein reisen.«
»Dr. Mortimer fährt mit mir zurück.«
»Aber Dr. Mortimer hat seine Praxis und wohnt ein paar Meilen weit von Ihnen weg. Beim allerbesten Willen würde er wohl nicht imstande sein, Ihnen zu helfen. Nein, Sir Henry, Sie müssen irgend jemand mitnehmen, einen zuverlässigen Mann, der Ihnen nicht von der Seite geht.«
»Wäre es vielleicht möglich, daß Sie selber mitkämen, Herr Holmes?«
»Wenn es zu einer Krise kommt, werde ich mich nach Kräften bemühen, persönlich anwesend zu sein. Aber Sie werden begreifen, daß ich mich bei meiner ausgedehnten Praxis und in Anbetracht der fortwährenden Hilfsgesuche von allen Seiten unmöglich für unbestimmte Zeit von London entfernen kann. Gerade in diesem Augenblick ist einer der ehrwürdigsten Namen Englands damit bedroht, von einem Erpresser besudelt zu werden, und nur ich kann einen unheilvollen Skandal verhindern. Sie sehen gewiß selber ein, daß ich unmöglich mit nach Dartmoor gehen kann.«
»Wen würden Sie mir also dann empfehlen?«
Holmes legte seine Hand auf meinen Arm und sagte:
»Wenn mein Freund bereit wäre, so könnten Sie in einem Augenblick der Bedrängnis keinen besseren Mann an Ihrer Seite haben. Das kann niemand zuversichtlicher behaupten als ich.«
Der Vorschlag kam mir völlig unerwartet, aber bevor ich Zeit hatte etwas zu erwidern, ergriff Baskerville meine Hand und schüttelte sie herzlich, indem er ausrief:
»Das ist wirklich sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Doktor. Sie sehen, wie es mit mir steht, und Sie wissen von der ganzen Geschichte ebensoviel wie ich selber. Wenn Sie mit nach Baskerville Hall kommen und mir beistehen wollen, so werde ich Ihnen das nie vergessen.«
Die Aussicht auf ein Abenteuer hatte stets einen berückenden Zauber für mich, auch schmeichelten mir Holmes' anerkennende Worte und die Freudigkeit, womit der Baronet mich als Begleiter begrüßte. Ich sagte daher:
»Ich will mit Ihnen gehen, mit Vergnügen. Ich wüßte nicht, wie ich meine Zeit besser verwenden könnte.«
»Sie werden mir sehr getreulich Bericht erstatten,« sagte Holmes. »Wenn eine Krise kommt – und es kommt eine, das ist ganz sicher – so werde ich Ihnen Weisung geben, was zu tun ist. Bis Samstag können Sie wohl mit allen Geschäften hier in London fertig sein?«
»Wäre das Herrn Doktor Watson recht?«
»Vollkommen.«
»Also treffen wir uns, wenn Sie nichts Gegenteiliges hören, am Samstag zum Halbelf-Zug am Bahnhof Paddington.«
Wir waren aufgestanden, um uns zu verabschieden, als plötzlich Baskerville einen Triumphruf ausstieß, in eine der Zimmerecken stürzte und einen braunen Schuh unter einem Schrank hervorzog.
»Mein verloren gegangener Schuh!« rief er.
»Mögen alle Ihre Schwierigkeiten sich so leicht lösen,« sagte Sherlock Holmes.
»Aber das ist doch eine sehr sonderbare Sache,« bemerkte Doktor Mortimer. »Ich hatte vor dem Frühstück das Zimmer ganz sorgfältig durchsucht.«
»Und ich auch,« sagte Baskerville. »Jeden Zoll breit.«
»Es war ganz bestimmt kein Schuh im Zimmer.«
»Dann muß ihn der Hausdiener hingestellt haben, während wir beim Frühstück saßen.«
Der Deutsche wurde gerufen, beteuerte aber, er wisse von nichts, alles Fragen führte zu keinem Ergebnis.