Die Geschichte von dem letzten Drachen der Welt (2)
Der Mumrik saß vor dem Zelt und malte einen Angelkorken an. Im Augenblick, da Mumintroll ihn erblickte, freute er sich auch wieder über seinen Drachen. »Oh«, sagte Mumintroll, »Familien sind schon manchmal eine Plage.« Der Mumrik brummte zustimmend und ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Sie saßen eine Weile lang da und schwiegen, in freundlichem und männlichem Einverständnis. »Also wegen dem Nichts!« began Mumintroll. »Bist du auf deinen Reisen mal auf einen Drachen gestoßen?« »Du meinst weder einen Salamander, Eidechsen noch Krokodile«, sagte Mumrik nach einer langen Pause. »Du meinst natürlich einen Drachen.Nein. Die gibt es nicht mehr.« »Vielleicht ist einer übriggeblieben«, meinte Mumintroll vorsichtig. »Einer, den jemand in einem Marmeladenglas gefangen hat. ..«
Der Mumrik schaute auf, musterte ihn scharf und merkte, daß Mumintroll vor lauter Entzücken und Spannung beinahe platzte. Daher sagte er nur abweisend: »Das glaube ich nicht.« »Möglicherweise ist er nicht größer als eine Streichholzschachtel und kann Feuer speien«, fuhr Mumintroll fort und gähnte. »Unmöglich«, meinte Mumrik, der wußte, wie man eine Überraschung vorzubereiten hat. Sein Freund schaute in die Luft und sagte: »Ein Drache aus echtem Gold mit winzig kleinen Tatzen . . . anhänglich und treu könnte er werden, überallhin mitkommen .. .« Und dann sprang er auf und schrie: »Ich habe ihn gefunden! Ich habe einen kleinen Drachen gefunden, der nur mir gehört!« Während sie zum Haus hinaufwanderten, probierte Mumrik alles durch: Mißtrauen, Überraschung und Bewunderung. Er verstand wirklich etwas davon, überrascht zu sein. Sie gingen die Treppe hinauf, öffneten behutsam die Tür und traten in die Bodenkammer. Das Gefäß mit dem Wasser stand noch auf dem Tisch, doch der Drache war verschwunden. Mumintroll suchte unter dem Bett, hinter der Anrichte, er kroch überall herum und suchte und lockte. »Schau mal«, sagte der Mumrik, »er sitzt auf der Gardine.« Der Drache saß tatsächlich auf der Gardinenstange unter der Decke. »Wie ist er da bloß hingekommen«, stieß Mumintroll angstvoll aus. »Wenn er runterfällt . . . Beweg dich nicht, warte mal. .. nichts sagen .. .« Er riß das Laken aus dem Bett und breitete es unter dem Fenster auf dem Fußboden aus. Dann nahm er das alte Schmetterlingsnetz des Hemuls und hielt es dem Drachen vor die Nase. »Spring!« flüsterte er. »Komm, komm schon, sei vorsichtig, sei ja vorsichtig!« »Du verjagst ihn ja!« sagte der Mumrik. Der Drache sperrte den Rachen auf und zischte. Er biß in das Schmetterlingsnetz und fing an zu summen wie ein kleiner Motor. Und mit einem Mal flatterte er ins Zimmer und begann, an der Decke herumzufliegen. »Er fliegt! Er fliegt!« schrie Mumintroll. »Mein Drache fliegt!« »Natürlich«, sagte der Mumrik. »Hopse nicht so herum, Bleib ruhig.« Jetzt blieb der Drache mitten unter der Decke stehen, die Flügel vibrierten wie bei einem Nachtschmetterling. Und dann machte er einen Sturzflug, biß Mumintroll ins Ohr, so daß er aufschrie, flog fort und setzte sich auf Mumriks Schulter. Er rückte dicht an sein Ohr heran und begann mit geschlossenen Augen zu spinnen. »So ein kleiner Schlingel«, sagte der Mumrik verblüfft. »Ganz heiß ist er. Was tut er?« »Er hat dich gern«, sagte Mumintroll. Am Nachmittag kam das Snorkfräulein von einem Besuch bei der Großmutter der Kleinen My nach Hause und erfuhr natürlich umgehend, daß Mumintroll einen Drachen gefunden hatte. Der Drache saß auf dem Kaffeetisch neben Mumriks Tasse und leckte sich die Pfoten. Alle hatte er gebissen außer den Mumrik, und jedesmal, wenn er böse wurde, sengte er irgendwo ein Loch hinein. »Wie süß«, sagte das Snorkfräulein. »Wie heißt er?« »Er heißt nicht«, murmelte Mumintroll, »es ist nur ein Drache«, und vorsichtig ließ er eine Pfote über die Tischdecke spazieren, bis er an einem der vergoldeten Beinchen anstieß. Schwupp! fuhr der Drache herum, zischte und spie eine kleine Rauchwolke aus. »Oh, wie entzückend!« jubelte das Snorkfräulein. Der Drache rückte näher an den Mumrik heran und beschnüffelte die Pfeife. Auf der Tischdecke, wo er gesessen hatte, war ein rundes braunes Loch. »Möchte nur wissen, ob er auch in Wachstuch Löcher brennen kann«, sagte die Muminmutter. »Ohne weiteres«, erklärte die Kleine My: »Ist er erst noch mehr gewachsen, zündet er das ganze Haus an. Paßt nur auf!« Sie schnappte sich ein Stück Kuchen, doch im Nu schoß der Drache auf sie zu wie eine kleine goldene Furie und biß sie in die Pfote. »Teufelsbiest!« schrie My und haute dem Drachen eine mit der Serviette runter. »Wenn du so etwas sagst, kommst du nicht in den Himmel«, begann sofort die Mymla. Doch Mumintroll unterbrach sie und rief heftig: »Das war nicht seine Schuld, der Drache dachte, du willst die Fliege aufessen, die auf dem Kuchen saß.« »Du und dein Drache«, schrie My, die sich ordentlich weh getan hatte. »Im übrigen ist er nicht deiner, sondern er gehört dem Mumrik, denn nur den hat er gern.« Einen Augenblick lang war es still. »Was schnattert die Kleine?« fragte der Mumrik und stand auf. »In ein paar Stunden wird er wissen, wer sein Herrchen ist. Also. Mach, daß du fortkommst. Flieg zu deinem Herrchen.« Doch der Drache, der jetzt auf Mumriks Schulter saß, klammerte sich mit allen sechs Tatzen fest und klapperte wie eine Nähmaschine. Der Mumrik nahm das Tierchen in die Faust und steckte es unter die Kaffeemütze. Dann öffnete er die Glastür und ging hinunter in den Garten. »Er erstickt ja«, sagte Mumintroll und hob die Kaffeemütze hoch. Der Drache schoß wie der Blitz heraus, flog ans Fenster, saß dort, die Pfoten an der Scheibe, und starrte hinter Mumrik her. Nach einem Weilchen fing er an zu jaulen, und die Goldfarbe wurde grau bis ans Schwanzende. »Drachen«, sagte der Muminvater plötzlich, »die verschwanden den vor etwa siebzig Jahren aus jedermanns Gedächtnis. Ich habe im Konversationslexikon nachgeschlagen. Die Art, die sich am längsten gehalten hat, ist die gefühlvolle Sorte mit starker Verbrennung. Die sind ganz besonders eigensinnig und ändern ihre Meinung nie ...« »Mahlzeit!« sagte Mumintroll und stand auf. »Ich gehe mein Zimmer.«