Verheerende Folgen durch Beziehungsmangel – Historiker und Kindheitsforscher war
Der Historiker und Kindheitsforscher Michael Hüter wandte sich in seinem Vortrag vom 29.11
2019 an Eltern, Erzieher, Lehrer und andere Verantwortliche in Politik und Gesellschaft.
Er warnte, dass Kinder in der gesamten bisherigen Geschichte der Menschheit noch nie so wenig
Möglichkeit hatten, in Beziehung zu den ihnen von Natur aus emotional nahestehenden Personen
aufzuwachsen.
Die Auswirkungen werden, laut des Historikers, umfassender und verheerender sein, als alle
Seuchen der Menschheitsgeschichte.
Auch die ständig neu erzählte und von den Medien propagierte These, dass es Kindern
früher so schlecht und heute so gut ginge, diene in seinen Augen vor allem dazu, die
gegenwärtigen Misshandlungen, Unterwerfungen und Machtmissbräuche an Kindern zu rechtfertigen.
Welche historischen und aktuellen Fakten Herrn Hüter zu diesen Aussagen bewogen haben und
welche gangbaren Auswege er sieht, zeigt der nachfolgende, aufrüttelnde Vortrag „Evolution
durch Liebe“, den er anlässlich des 3.
Stiftungstages der Hans-Joachim Maaz-Stiftung in Halle (Saale) hielt.
Vortrag von Michael Hüter:
Michael Hüter: Ich glaube es ist ein Grundproblem unserer Zeit, dass wir vergessen haben, uns
die Frage zu stellen, bei all dem was wir tun, was wir denken: Wie geht es Kindern eigentlich
dabei?
Leopoldina: Herr Michael Hüter ist Historiker und Kindheitsforscher.
Mich hat ein Zitat besonders berührt: Sie sagen: „Kinder sind heute Waisen mit Eltern.“
Lieber Herr Hüter, Mikrofon frei für Sie.
Michael Hüter: In meinem Vortrag möchte ich ein Zitat des großen amerikanischen Historikers
Howard Zinn voranstellen.
„Geschichte ist wichtig.
Wenn Sie von Geschichte keine Ahnung haben, dann wäre das, als wären Sie gestern geboren.
Und wenn Sie gestern geboren sind, dann kann Ihnen jeder oben, der eine Machtposition hat,
alles mögliche erzählen.
Und Sie sind nicht in der Lage, es nachzuprüfen.“
Ich möchte Ihnen heute nicht eine, sondern von einer Geschichte erzählen.
Nicht nur als Historiker, sondern vor allem auch als dreifacher Vater, weiß ich nur zu
gut, nicht nur Kinder lieben Geschichten, sondern auch Erwachsene.
Die sogenannten Erwachsenen lieben oder erzählen aufs neue die Geschichten, von Krieg, von
Unterwerfung, Leid und Not, von Konkurrenz statt Kooperation, die von Egoismus und Ausbeutung,
statt die von der Verbundenheit.
Gegenwärtig lieben die meisten Erwachsenen die Erzählungen von Haben statt Sein, die
des Wachstums ohne Ende und neuerdings die von links und rechts und die der Erziehung
statt Beziehung.
Kinder hingegen, begeistern sich auch heute noch herzlich wenig für diese grausamen Geschichten
und Erzählungen der Erwachsenen.
Unter Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen herrscht weltweit, seit Jahren
schon, folgender Konsens.
Nahezu jedes Kind dieser Welt, 98 Prozent, ob in den Slums von Mumbai oder in einem Vorort
von Halle/ Saale, kommen hochbegabt zur Welt.
Sogenannte Erbkrankheiten, die auf einem Gen-Defekt beruhen, sind so selten (0,1 Prozent der Kinder),
dass wir sie als marginal bezeichnen können.
Jedes Kind dieser Welt kommt mit der Fähigkeit zur Empathie, sozialem Verhalten und einer
fast endlosen Lern- und Lebenslust zur Welt.
Ich hab' im Moment so das Gefühl, wir leben wieder in der Zeit des 16.
Jahrhunderts.
Die Erde ist wieder eine Scheibe.
Wenn man die wissenschaftlichen Forschungserkenntnisse aus Neurobiologie, Psychologie, Anthropologie,
Soziologie, aus der gesamten Kindheitsforschung, die wir derzeit haben, berücksichtigen würden
und ernst nehmen würden, müsste eigentlich jede Krippe sofort geschlossen werden, und
nebenbei mit Sicherheit 60 - 70 % unserer Schulen.
Aber die Geschichte, auf die ich Sie heute kurz aufmerksam machen möchte, ist nicht
nur wahr, sondern sie ist mit Sicherheit die berührendste, die der Sapiens nicht nur erfand,
sondern die er 10.000 Jahre auch lebte.
Also sie immer wieder aufs Neue weitererzählte.
Denn es kann nichts gelebt werden, was nicht beständig weitererzählt wird.
Diese Geschichte, von der ich Ihnen heute kurz berichten werde, trägt den Titel: Die
Evolution durch Liebe.
Es ist die vergessene, verdrängte und oft unterdrückte Geschichte der familiären Sozialisation
der elterlichen Liebe.
Sie ist so tief eingeprägt im evolutionären Programm des Sapiens, dass alle Babys und
Kinder, heute noch und weltweit, zuerst einmal und nur diese eine Geschichte lieben und mit
jeder Phase ihres Körpers danach verlangen.
Die Liebesbedürftigkeit des kleinen Sapiens ist unermesslich groß.
Wird sie beim Menschenkind nicht gestillt, bekommen wir, was heute eher die Regel als
die Ausnahme ist, einen ein Leben lang bedürftigen Menschen.
Mittlerweile profitieren nicht nur riesige Industriezweige von bedürftigen Menschen.
Und auch Totalitarismus, Krieg, gesellschaftliche Polarisierung, generell alle Formen von Missachtung
und Zerstörung werden ohne den frühen, auch elterlichen, Liebesmangel unmöglich.
Wer nicht früh Liebe erfahren, und somit gelernt hat, der wird später auch nichts
lieben und bewahren.
Auch die, und um nur ein Beispiel der vielen krankhaften Symptome unserer Zeit zu nennen,
maßlose Zerstörung unserer natürlichen Lebensräume lässt sich auf diesem frühen
und seit langem zur Norm gewordenen frühkindlichen Liebesmangel zurückführen.
Wir brauchen nicht das Klima oder die Natur retten, sondern lediglich die hohe Entfremdung
von unserer eigenen Natur beenden.
Das menschliche Klima, in dem der kleine Sapiens in 99 % der bisherigen Menschheitsgeschichte
hineingeboren wurde, war das der Achtsamkeit vor allem Lebendigen, des Stillens – hier
im doppelten Sinn des Wortes – von Bedürfnissen.
Doch wie ist es möglich, dass wir diese Geschichte der elterlichen Liebe, das im übrigen größte
Kontinuum der Menschheitsgeschichte, die Evolution durch Liebe unseren Kindern nicht mehr erzählen
und vorleben, sondern sie immer wieder mit neuen Erzählungen unterbrechen und sogar
bekämpfen.
USA 1974: Der amerikanische Psychoanalytiker Lloyd de Moos, Pionier und Mitbegründer der
sogenannten Psycho-Historie, eröffnete sein 1974 erschienenes Buch: „The history of
childhood“ mit folgendem und alsbald viel zitierten Satz: „Die Geschichte der Kindheit
ist ein Alptraum aus dem wir gerade alle erst erwachen.
Je weiter wir in der Geschichte der Kindheit zurückgehen, desto unzureichender wird die
Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie und desto größer wird die Wahrscheinlichkeit,
dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden.“
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nichts, nichts hat sich in den letzten Jahrzehnten
tiefer vor allem in dem sogenannten akademisch gebildeten Milieu der Mittelschicht, dem Bürgertum,
auch tief hinein in Bildung, Universität und Forschung, noch viel entscheidender auch
in die Politik der USA, viele Teile Europas und Asiens ins kollektive Bewusstsein eingegraben,
wie diese These, die verkürzt zu folgender Erzählung wurde: Die Geschichte der Kindheit
ist ein Alptraum und je weiter wir in diese Geschichte zurückblicken, desto größer
ist dieser Alptraum.
Noch vereinfachter: Früher erging es Kindern so schlecht.
Das ist schlicht der große Leitsatz der mittlerweile zwei Generationen, die ihn inhaliert und letztendlich
zu einem Glaubensgrundsatz gemacht haben.
Das wirklich fatale an dieser Erzählung ist, und Sie ahnen es vielleicht schon: Wenn es
Kindern früher so schlecht erging, dann muss es ihnen doch heute so gut ergehen wie noch
nie.
Doch das Ganze ist nicht nur schwarz-weiß, sondern ein gewaltiger historischer und gesellschaftlicher
Irrtum.
Diese ständig neu erzählte und teils propagierte westliche These: Früher ging es Kindern so
schlecht, dient vor allem auch immer wieder dazu, die gegenwärtigen Misshandlungen, Unterwerfungen
und Machtmissbräuche an Kindern zu rechtfertigen.
Der emotionale Schmerz eines Babys oder Kleinkindes wird nicht dadurch geringer, wenn es mit einem
SUV in die Krippe gebracht wird.
Die entscheidende Frage, wie bei so vielen in der Geschichte des Sapiens ist, wo schauen
wir hin und, vor allem, wie weit schauen wir zurück.
Lloyd de Moos war ein Kind seiner Zeit.
Er konnte nicht sehen und schon gar nicht wissen, allein von der ihm damals zur Verfügung
stehenden Quellenlage, was sich in den 100.000 Jahren vor Sesshaftwerdung des Menschen, vor
der Domestizierung von Getreide, Tier und vor allem letztendlich des Menschen selbst,
sich alles auch an Liebe ereignete.
Lloyd de Moos wurde gegen Ende einer Epoche unzähliger Kriege der letzten Jahrtausende,
im besonderen der letzten Jahrhunderte geboren.
Er war ein traumatisiertes Kind, in einer traumatisierten Gesellschaft.
Durch die internationale Traumaforschung wissen wir heute, dass der traumatisierte Mensch,
wenn seines Traumas nicht vollständig bewusst und aufgearbeitet, seine Traumata immer und
immer wieder re-inszeniert.
Das gleiche gilt aber auch für die Gesellschaft als Ganzes.
Traumatisierte Gesellschaften und Kulturen re-inszenieren beständig ihre Traumata aufs
Neue.
Wenn auch in unterschiedlichen Erscheinungsformen.
Traumata heilen nicht, noch sind sie vollends therapierbar.
Alles was wir tun können ist, die Ursachen, die zur Traumatisierung des Einzelnen oder
einer ganzen Gesellschaft geführt haben, bekämpfen und eine Gesellschaftsordnung schaffen,
in der zuallererst das Kind nicht mehr traumatisiert wird.
Kind ist Mensch.
Und aus dem Alptraum Kindheit, folgt immer der Alptraum Menschheit.
Das zeigt die Geschichte wiederholt und das habe ich auch versucht, in meinem Buch: „Kindheit
6.7“ sichtbar zu machen.
Alptraum Kindheit, wertes Publikum, liegt nicht 20.000, liegt nicht 50.000 Jahre zurück.
Seit Jahren und zunehmend weltweit findet die größte und kollektive Re-Inszenierung
frühkindlicher Traumatisierung statt.
Noch nie, noch nie in der Geschichte der Menschheit außerhalb von Kriegszeiten, erging es der
großen Mehrheit an Kindern seelisch und emotional – man mag es auch psychisch nennen, so schlecht
wie heute.
Nur kurz im Stakkato, und ich betone auszugsweise den gegenwärtigen psychischen und physischen
Befund unserer Kinder.
Noch nie in der Geschichte war das Risiko so hoch, dass Kinder chronische Krankheiten
entwickeln, für die es keine Heilung gibt.
Bereits jedes zweite Kind in Europa weist zumindest eine chronische Krankheit auf.
Auch sogenannte Erwachsenen Krankheiten wie Krebs sind bei Kindern seit Jahren im Vormarsch.
Bereits ein Prozent der Kinder in Deutschland haben Krebs.
Babys werden tagelang zu Tode gequält.
Für 12.000 Schweizer Franken können Sie sich im Internet ein Kind nach Wahl im Alter
zwischen ein bis zwölf Jahren für den Zweck kaufen, es zu schänden und es zu Tode zu
quälen.
Allein der internationale Markt für Kinderpornografie wird von Experten auf sieben Billionen - derzeit
auf sieben Billionen Dollar geschätzt.
Deutschland und Österreich haben seit 20 Jahren konstant einen der höchsten Alkohol-
und Drogenkonsumraten weltweit, außerhalb der USA.
Mobbing und alle Formen von Gewalt auch Schulen und Kitas und vor allem in den Social-Media
nehmen seit etwa zehn Jahren ebenso in rasantem Tempo zu.
Manifestiert in Zahlen: 40 Prozent der Kinder gehen wieder mit Angst zur Schule, 80 Prozent
der Kinder haben nach der Grundschule bereits ein beschädigtes Selbstwertgefühl, jeder
zweite Pädagoge und auch Elternteile stehen vor dem psychischen Burnout, hier in Deutschland
und auch anderswo.
Seit mindestens 15 Jahren erleben über 50 Prozent aller Kinder vom sechsten Lebensjahr
die Trennung ihrer Eltern – Tendenz steigend.
Die elterliche Trennung ist für jedes Kind, zu mal in diesem Alter, Traumatisierung.
Eine Serie von internationalen Studien ergab, dass der Kontaktabbruch zum zweiten Elternteil
im Zuge der elterlichen Trennung nachhaltiger schädigt und effektiver krank macht, als
der Verlust eines Elternteils durch Tod.
Jedes vierte Kind braucht irgendeine Therapie.
Psychische Auffälligkeiten ADHS, Autismus und generell schwere psychische Störungen
nehmen in ungeheuerlich rasanten Tempo zu.
So das wir gegenwärtig davon ausgehen können, das nur noch etwas 15 – 20 Prozent der Kinder
heute in Psyche und Physis gesund und stabil sind.
Einzelne Kompetenzen, die der Mensch bisher im Zuge seines Heranwachsens von allein erworben
hat, das ist etwas was Wissenschaftler weltweit im Moment am allermeisten alarmiert, werden
überhaupt nicht mehr oder nur noch schwach entwickelt.
Kompetenzen, die der Mensch von ganz allein in 10.000 Jahren erworben hat, also das Kind,
wird beobachtet weltweit, dass diese Kompetenzen erst gar nicht mehr entwickelt werden.
Alle Formen von Sprachver-armung nehmen seit Jahren zu.
Vor der Industriellen Revolution Ende des 18. / zu Beginn des 19.
Jahrhunderts, haben Wissenschaftler in einem großangelegten Forschungsprojekt in den USA,
die wollten mal wissen, wie stehts denn so um die Mär, wir würden immer gebildeter
werden.
Und wollten mal herausfinden, wie die Analphabetisierungsrate vor der Industriellen Revolution war, also
vor der wirklich großangelegten Massenbeschulung.
Und die Analphabetisierungsrate, damals Ende des 18./
Beginn des 19.
Jahrhunderts, war genau so hoch wie sie auch heute wieder ist, nämlich bei 15 – 18 Prozent.
In den letzten 200 Jahren wurde der Mensch weder gebildeter noch kompetenter, noch umsichtiger
und schon gar nicht liebender.
Die vollkommene Trennung des Kindes von der Familie, von intimen Gemeinschaften, also
von ihm nahestehenden Bezugspersonen, sowie die vollkommene Entfernung des Kindes aus
der öffentlichen Gemeinschaft im realen Leben, ist der größte menschliche und historische
Irrtum der gesamten bisherigen Menschengeschichte.
Der amerikanische Psychoanalytiker und Historiker Lloyd de Moos war der Erste, und das ist eigentlich
sein ganz großer Verdienst, der diesem großen Bruch in der Menschheitsgeschichte, und auch
ein Bruch eines evolutionären Kontinuums, einen Namen gab: Weggabemodus.
Ist dann auch kein Wunder, dass eine Konsumgesellschaft auf Basis des Weggabemodus des Kindes besonders
gut gedeiht.
Mit Ganztageskrippen, Ganztageskitas und Ganztagesschulen, weggesperrt vom ersten bis zum 18.
Lebensjahr wird der Mensch nicht gebildeter, nicht kompetenter und schon gar nicht humaner
werden.
Im Gegenteil, dieser frühe Weggabemodus im Zeitraum der eigentlichen Kindheit, die nicht
nur historisch betrachtet über 100.000 Jahre bis zum zweiten Zahn angesehen wurde.
Also das, was wir heute als Kindheit haben, ist im Prinzip eine junge Erfindung der Geschichte,
der Menschheit.
Also die Kindheit wurde immer bis zum, über 100.000 Jahren bis zum zweiten Zahne, die
Kindheit bis zum 6.
7.
Lebensjahr und danach trat der Mensch ein oder wurde ein, das Kind in die Gesellschaft
eingeführt.
Jedenfalls dieser frühe Weggabemodus im Zeitraum der eigentlichen Kindheit ist die Basis für
alle Formen von Tolitarismus, Normopathie* und vor allem Selbstzerstörung, worüber
noch viel zu wenig gesprochen wird.
Kriege führte der Sapiens ja bekanntlich zur Genüge in den letzten Jahrtausenden.
Aber es gibt nichts, absolut nichts Vergleichbares in der gesamten Geschichte der Menschheit,
als die Faschismen, Totalitarismus und die beiden Weltkriege, die zwischen 1914 und 1915
allein in Europa etwa 100 Millionen Menschen das Leben gekostet haben.
Und meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist historisch betrachtet vielleicht eine
halbe Sekunde zurück und wer meint, so etwas wäre nie wieder möglich, dem muss ich als
Historiker sagen: Es gibt nur eine Konstante in der Geschichte der Menschheit und die ist
nicht zu sagen, es wäre etwas nicht möglich.
Durch die lange Fixierung der Geschichtswissenschaft und die Historie, vor allem in Europa, von
Militär-, Politik- und Kriegsgeschichte, wurde ein wichtiges und ziemlich signifikantes
Detail der jüngeren Geschichte übersehen.
Seit Ausdehnung des Weggabemodus auf die ersten sechs, sieben Lebensjahre, wie auch die Ausdehnung
der Erziehung auf diesen Zeitraum, frühe Kindheit, seit Auslöschung der Großfamilie
und einige Jahre später die Aufsplitterung auch noch der Kernfamilie Mutter und Vater,
nehmen unzählige Formen von menschlicher Selbstzerstörung zu, die es in diesem Umfang
bisher in der Menschheitsgeschichte überhaupt nicht gab.
In den letzten 14 Jahren wurde durch den Mensch bereits etwa ein Drittel aller Pflanzen und
Tierarten dieses Planeten unwiederbringlich vernichtet.
Gleichzeitig hat sich in den letzten 35 Jahren die Weltgeburtenrate halbiert.
Damit nicht genug, seit Ausdehnung der Schulzeit, die von dem 1980er Jahrgang bis heute: Krippe,
Ganztages-Kita, Ganztageskindergarten, Ganztagesschulen, hat sich die Selbstmordrate in der Adoleszenz
in allen OSZE-Staaten und Industriestaaten vervierfacht.
Seit etwa zehn Jahren sterben weltweit etwa eine Million Menschen durch Suizid, also vielfach
mehr Personen, als durch kriegerische Auseinandersetzungen und Terroranschläge ums Leben kommen.
Dennoch wird dieses Thema in den Medien weitgehend tabuisiert.
Kurz: Noch nie hatten wir in den Familien, in den sogenannten Industrienationen der westlichen
Länder, so wenige Kinder und von diesen wenigen Kindern sind über 50 Prozent krank und ein
erschreckend hoher Teil nimmt sich auch noch das Leben.
Kaiserschnittkinder, Muttermangel und die Fremdbetreuung des Kindes vom ersten bis zum
18.
Lebensjahr, 38 Stunden die Woche und das am besten auch noch in den Ferien, so sind, so
scheint es, sind zu einem von der Mehrheit nicht mehr hinterfragten Kulturgut geworden.
Die Konsequenz, die Welt wird immer radikaler, undemokratischer und vor allem empathieloser,
während der Hunger, nicht nur nach fossilen Brennstoffen, Strom, Konsum und auf Kinder,
steigt und steigt.
„Hunger“ ist ein 1890 veröffentlichter und weltberühmt gewordener Roman des norwegischen
Schriftstellers und Nobelpreisträger Knut Hamsun.
Zur selben Zeit malt der norwegische Maler Edvard Munch dieses weltberühmt gewordene
Gemälde „Der Schrei“ Die beiden höchst unterschiedlichen Künstler Hamsun und Munch
wussten um den kollektiven Alptraum Kindheit im 19.
Jahrhundert, der zum kollektiven Alptraum Menschheit im 20.
Jahrhundert wurde.
Kinder und Künstler sind seit jeher, die genauesten Seismographen einer Gesellschaft.
Der frühkindliche und generelle Mangel an Liebe und Beziehung in der Kindheit ist wieder
groß . Der Hunger nach Stillung dieses Mangels ebenso.
Erstmals in der Geschichte der Menschheit sterben mehr Menschen, weil sie zu viel essen
und nicht weil sie zu wenig essen. 2010 starben rund 3 Millionen Menschen an Fettleibigkeit,
zunehmend auch schon Kinder.
Last but not least, die Schere zwischen Arm und Reich hat weltweit ein historisch noch
nie dagewesenes Ausmaß erreicht.
Was muss eine Gesellschaft in ihrer Kindheit nicht alles ertragen und erduldet haben, dass
sie diese großen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten heute ohne nennenswerten Widerstand erduldet.
Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk schreibt in seinem Buch: „Die schrecklichen Kinder
der Neuzeit“: Waren Fortschritt und Reaktion die Leitbegriffe des 19. sind Pfusch und Reparatur
die des 21.
Jahrhunderts.“
Ich ergänze:
„Waren Erziehungsdiktatur und Vaterterror die Leitbegriffe des 19., sind Mutter-, Eltern-
und Liebesmangel die des 21.
Jahrhunderts.“
Wertes Publikum, noch nie, noch nie in der gesamten bisherigen Geschichte der Menschheit
hatten Kinder so wenig Möglichkeit, in Beziehung zu den ihnen von Natur aus emotional nahestehenden
Personen aufzuwachsen.
Das ist historisches Faktum.
Ein historisches Novum, von dem wir nicht einmal ansatzweise vorhersagen können, welche
verheerenden Folgen das für Kultur, Natur und Gesellschaft noch weiter mit sich ziehen
wird.
Vergessen Sie die großen Seuchen der Menschheitsgeschichte wie Pest, Ruhr, Cholera und Co.
Die Auswirkungen des mittlerweile und zunehmend weltweit zur gesellschaftlichen Normopathie*
erwachsenen Muttermangels werden noch umfassender und verheerender sein als alle Seuchen der
Menschheitsgeschichte bisher.
Wenn wir wollen, dass sich der gegenwärtige und kollektive Alptraum Kindheit nicht wieder
in einen Alptraum Menschheit wandelt, brauchen wir nichts anderes tun, als uns zu erinnern,
und das täglich weltweit Neugeborene einfach wieder in Liebe begleitend wachsen lassen.
Das große Erfolgsgeheimnis des Sapiens, warum er sich als einzige Menschenform letztlich
durchsetzte, neben Neandertaler und Co, lag über 100.000 Jahre bis zu seiner Sesshaftwerdung,
nicht in Krieg und nicht in Konkurrenz, nicht in Egoismus.
Sondern das Geheimnis des Sapiens, wie im übrigen nahezu aller Säugetiere war, dass
er besonders behutsam und liebevoll mit seinem Nachwuchs umging.
Am Anfang war nicht das Wort, sondern zuerst einmal die elterliche Liebe.
Das ist das große Erfolgsgeheimnis des Sapiens.
Nochmals: Kind ist Mensch.
Alle krankhaften gesellschaftlichen Erscheinungen können Sie letztendlich auf die Kindheit
zurückführen.
Als Historiker muss ich Ihnen leider sagen, dass sich die breite Mehrheit in den letzten
200 Jahren immer, absolut immer geirrt hat.
Es wird nie ein richtiges Leben im falschen und es wird nie eine gute Krippe geben.
Etwa 80 Prozent aller Persönlichkeiten, auch der letzten Jahrhunderte, die auch herausragend
Positives für die Menschheit geleistet haben, wie Goethe, Humboldt, Marx, Einstein, Gandhi
und Co, aber auch der größte Erfinder der Menschheitsgeschichte bisher Thomas A.
Edison oder beispielsweise der größte Eisenpionier aller Zeiten Georges Stevenson, die Liste
ist lang.
All‘ diese Persönlichkeiten wurden zu allererst lange familiär sozialisiert und auch teilweise
schon in Zeiten, wo das keineswegs mehr selbstverständlich war, und vor allem nicht oder nur kurz beschult.
In den Herzen dieser genannten Personen waren nebenbei in diesem Zeitraum erst sechs, sieben
Lebensjahre auch keine Trennungskinder.
Der ungarische Wissenschaftsphilosoph Ervin László hat einmal malend und treffend gesagt:
„Die Illusion des Getrennt-Seins ist eine der negativsten Mythen unserer Zeit.“
Vor drei Jahren gab der österreichische Schriftsteller, Poet und Nobelpreisträger Peter Handke dem
ORF eines seiner seltenen Interviews.
Die Journalistin, damit komme ich zum Abschluss meines Vortrages, stellte unter anderem folgende
Frage: „Es ist ganz viel in diesen Tagen, Wochen, Monaten, es ist ganz viel von den
europäischen Werten die Rede, davon, dass diese verteidigt gehören.
Können Sie dieser Debatte etwas abgewinnen?“
Peter Handke antwortete u.a.: „Ich bin nicht auf dem Laufendem.
Ich bin eher auf dem Gehenden.
Europäische Werte, das ist doch ein Schmäh.
Alle tiefen, feinen, zarten Werte der Menschheit sind überall.
Die Werte sind in den Formen der großen Werke.
Die Werte sind im Schluchzen eines Kindes oder im Hüpfschritt eines Kindes.
Das ist für mich Musik.
Das ist ein Wert.“
Und damit möchte ich ganz kurz und schnell zum Ende kommen … Es ist scheinbar ein unbedeutendes
Bild – ist es aber nicht.
Ist ein Gemälde von Paoblo Picasso, eine Zeichnung, leider im Privatbesitz, in keinem
Museum dieser Welt, wie viele ganz bedeutende Kunstwerke.
Sie waren alle mal sicher in …, Madrid oder in irgendeinem kunsthistorischen Museum oder
haben vielleicht auch mal in Geschichte in der Schule davon gehört, wie viele Kunstwerke
in der europäischen Malerei in den letzten 400 Jahren entstanden sind.
Ist eine unerschöpfliche Fülle.
400 Jahre hat das gedauert, das ist das Besondere an diesem Bild, dass die Zärtlichkeit des
Vaters zum Kind in die Kunst Einzug gefunden hat.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.