Georg Trakl: Prosa, Traumland, Eine Episode 1/2
Manchmal muß ich wieder jener stillen Tage gedenken, die mir sind wie ein wundersames, glücklich verbrachtes Leben, das ich fraglos genießen konnte, gleich einem Geschenk aus gütigen, unbekannten Händen. Und jene kleine Stadt im Talesgrund ersteht da wieder in meiner Erinnerung mit ihrer breiten Hauptstraße, durch die sich eine lange Allee prachtvoller Lindenbäume hinzieht, mit ihren winkeligen Seitengassen, die erfüllt sind von heimlich schaffendem Leben kleiner Kaufleute und Handwerker und mit dem alten Stadtbrunnen mitten auf dem Platze, der im Sonnenschein so verträumt plätschert, und wo am Abend zum Rauschen des Wassers Liebesgeflüster klingt. Die Stadt aber scheint von vergangenem Leben zu träumen.
Und sanft geschwungene Hügel, über die sich feierliche, schweigsame Tannenwälder ausdehnen, schließen das Tal von der Außenwelt ab. Die Kuppen schmiegen sich weich an den fernen, lichten Himmel, und in dieser Berührung von Himmel und Erde scheint einem der Weltraum ein Teil der Heimat zu sein. Menschengestalten kommen mir auf einmal in den Sinn, und vor mir lebt wieder das Leben ihrer Vergangenheit auf, mit all' seinen kleinen Leiden und Freuden, die diese Menschen ohne Scheu einander anvertrauen durften. Acht Wochen habe ich in dieser Entlegenheit verlebt; diese acht Wochen sind mir wie ein losgelöster, eigener Teil meines Lebens – ein Leben für sich – voll eines unsäglichen, jungen Glückes, voll einer starken Sehnsucht nach fernen, schönen Dingen. Hier empfing meine Knabenseele zum erstenmale den Eindruck eines großen Erlebens.
Ich sehe mich wieder als Schulbube in dem kleinen Haus mit einem kleinen Garten davor, das, etwas abgelegen von der Stadt, von Bäumen und Gesträuch beinahe ganz versteckt liegt. Dort bewohnte ich eine kleine Dachstube, die mit wunderlichen alten, verblaßten Bildern ausgeschmückt war, und manchen Abend habe ich hier verträumt in der Stille, und die Stille hat meine himmelhohen, närrisch-glücklichen Knabenträume liebevoll in sich aufgenommen und bewahrt und hat sie mir später noch oft genug wiedergebracht – in einsamen Dämmerstunden. Oft auch ging ich am Abend zu meinem alten Onkel hinunter, der beinahe den ganzen Tag bei seiner kranken Tochter Maria verbrachte. Dann saßen wir drei stundenlang schweigend beisammen. Der laue Abendwind wehte zum Fenster herein und trug allerlei verworrenes Geräusch an unser Ohr, das einem unbestimmte Traumbilder vorgaukelte. Und die Luft war voll von dem starken, berauschenden Duft der Rosen, die am Gartenzaune blühten. Langsam schlich die Nacht ins Zimmer und dann stand ich auf, sagte »Gute Nacht« und begab mich in meine Stube hinauf, um dort noch eine Stunde am Fenster in die Nacht hinaus zu träumen.
Anfangs fühlte ich in der Nähe der kleinen Kranken etwas wie eine angstvolle Beklemmung, die sich später in eine heilige, ehrfurchtsvolle Scheu vor diesem stummen, seltsam ergreifenden Leiden wandelte. Wenn ich sie sah, stieg in mir ein dunkles Gefühl auf, daß sie sterben werde müssen. Und dann fürchtete ich sie anzusehen.
Wenn ich tagsüber in den Wäldern herumstreifte, mich in der Einsamkeit und Stille so froh fühlte, wenn ich mich müde dann ins Moos streckte, und stundenlang in den lichten, flimmernden Himmel blickte, in den man so weit hineinsehen konnte, wenn ein seltsam tiefes Glücksgefühl mich dann berauschte, da kam mir plötzlich der Gedanke an die kranke Maria – und ich stand auf und irrte, von unerklärlichen Gedanken überwältigt, ziellos umher und fühlte in Kopf und Herz einen dumpfen Druck, daß ich weinen hätte mögen.
Und wenn ich am Abend manchmal durch die staubige Hauptstraße ging, die erfüllt war vom Dufte der blühenden Linden, und im Schatten der Bäume flüsternde Paare stehen sah; wenn ich sah, wie beim leise plätschernden Brunnen im Mondenschein zwei Menschen enge aneinander geschmiegt langsam dahinwandelten, als wären sie ein Wesen, und mich da ein ahnungsvoller heißer Schauer überlief, da kam die kranke Maria mir in den Sinn; dann überfiel mich eine leise Sehnsucht nach irgend etwas Unerklärlichem, und plötzlich sah ich mich mit ihr Arm in Arm die Straße hinab im Schatten der duftenden Linden lustwandeln. Und in Marias großen, dunklen Augen leuchtete ein seltsamer Schimmer, und der Mond ließ ihr schmales Gesichtchen noch blasser und durchsichtiger erscheinen. Dann flüchtete ich mich in meine Dachstube hinauf, lehnte mich ans Fenster, sah in den tiefdunklen Himmel hinauf, in dem die Sterne zu erlöschen schienen und hing stundenlang wirren, sinnverwirrenden Träumen nach, bis der Schlaf mich übermannte.
Und doch – und doch habe ich mit der kranken Maria keine zehn Worte gewechselt. Sie sprach nie. Nur stundenlang an ihrer Seite bin ich gesessen und habe in ihr krankes, leidendes Gesicht geblickt und immer wieder gefühlt, daß sie sterben müsse.
Im Garten habe ich im Gras gelegen und habe den Duft von tausend Blumen eingeatmet; mein Auge berauschte sich an den leuchtenden Farben der Blüten, über die das Sonnenlicht hinflutete, und auf die Stille in den Lüften habe ich gehorcht, die nur bisweilen unterbrochen wurde durch den Lockruf eines Vogels. Ich vernahm das Gären der fruchtbaren, schwülen Erde, dieses geheimnisvolle Geräusch des ewig schaffenden Lebens. Damals fühlte ich dunkel die Größe und Schönheit des Lebens. Damals auch war mir, als gehörte das Leben mir. Da aber fiel mein Blick auf das Erkerfenster des Hauses. Dort sah ich die kranke Maria sitzen – still und unbeweglich, mit geschlossenen Augen. Und all' mein Sinnen wurde wieder angezogen von dem Leiden dieses einen Wesens, verblieb dort – ward zu einer schmerzlichen, nur scheu eingestandenen Sehnsucht, die mich rätselhaft und verwirrend dünkte. Und scheu, still verließ ich den Garten, als hätte ich kein Recht, in diesem Tempel zu verweilen.