Das Jahr 1968
In den sechzigern führte wachsender Wohlstand im Westen zu einem
tiefgreifenden sozialen Wandel. Immer mehr junge Menschen gingen auf Universitäten.
Oft arbeiten sie während des Studiums und wurden so von ihren Eltern
unabhängig. Die wachsende Rolle der visuellen Medien, insbesondere des
Fernsehens beschleunigte das Tempo der Veränderungen. Kleidung und Lebensstil
veränderten sich. Die Antibabypille bewirkte eine sexuelle Revolution. Zur
gleichen Zeit verstärken sich in den USA Proteste gegen die Diskriminierung von
Afroamerikanern. Friedliche Demonstrationen mündeten im Mai 1963 in
einem Blutvergießen. Um eine "schwarze Revolution" zu verhindern
reichte Präsident John F. Kennedy ein Bürgerrechtsgesetz im Kongress ein.
Dieser Schritt wurde am 28. August 1963 durch den Marsch nach Washington
unterstützt, wo der Baptistenpastor Martin Luther King seine berühmte Rede
über die Gleichberechtigung aller US- Bürger hielt. Nach der Ermordung Kennedys
im November 1963 in Dallas wurden Reformpläne stark gekürzt. Kennedys
Nachfolger Lyndon B. Johnson setzte wenig später ein
Bürgerrechtsgesetz im Kongress durch, das allen Bürgern gleichen Zugang zu
öffentlichen Institutionen garantierte. Es verbot die Diskriminierung von Angestellten
aufgrund ihrer Hautfarbe. Die rassistische Gewalt ging weiter und
gipfelte in der Ermordung von Martin Luther King im April 1968. Das
militärische Engagement der USA in Vietnam stieß in der Öffentlichkeit auf immer
stärkeren Widerstand. Im Mai 1970 wurden die USA durch die Ereignisse an der Kent State University erschüttert.
Dort hatte die Nationalgarde das Feuer auf
protestierende Studierende eröffnet. Vier von ihnen starben.
Die "Revolution der Hippies" war ein markanter Ausdruck des Protests. Seit
Mitte der 1960er hatten Tausende junge Menschen die Schulen verlassen und sich
den "Blumenkindern" angeschlossen, deren Slogan "Macht Liebe nicht Krieg"
war. Schriftsteller und Sänger von Protestliedern wie Angela Davies, bob Dylan und Joan Baez
wurden zu Helden dieser Generation. Auch Westeuropa erlebte Jugendaktivismus.
Proteste in Frankreich und Westdeutschland, begleitet von Anti- Kriegs
und linken Slogans forderten - stärker als in den USA -
demokratischer Verhältnisse an den Universitäten und
Vergangenheitsbewältigung ein. Diese war in Westdeutschland von
besonderer Bedeutung, da dort viele Eltern der Achtundsechziger in den
Nationalsozialismus verstrickt gewesen waren.
Die Spannungen im Sowjetblock hatten einen ganz anderen Charakter.
In Polen kam es nach dem Bühnenverbot des Stücks "Dziady" von Adam Mickiewicz zu den
sogenannten Märzereignissen. Diese lösten eine Protestwelle zur
Verteidigung der Redefreiheit aus. Die Demonstrationen von Studierenden,
Intellektuellen und jungen Arbeitern wurden brutal niedergeschlagen.
Die kommunistischen Behörden nutzten sie als Vorwand um eine antisemitische
Kampagne einzuleiten. Während in der UdSSR und den meisten
Ostblockstaaten relative Stabilität herrschte, liefen die Ereignisse in der
Tschechoslowakei auf einen ernsten Konflikt hinaus. Anfang 1968 wurde
Alexander Dubcek Chef der dortigen kommunistischen Partei und versprach
"Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Der Kreml reagierte nervös und
veranlasste am 21. August 1968 unter dem Vorwand der Verteidigung
des Sozialismus die Intervention von Truppen des Warschauer Pakts. Der zivile Widerstand gegen die
Besatzer hielt an. Im Januar 1969 verbrannte sich der
Student Jan Palach in Prag in einem Akt des Protests. Im April 1969 kam es in
Prag nach einem Eishockeyspiel zwischen der Slowakei und der UdSSR zu
Auseinandersetzungen und letztlich zum Sturz von Dubcek. Sein Nachfolger Gustáv Husák
trieb die "Normalisierung" des Landes voran.
Es begannen Säuberungen, die Zensur wurde eingeführt, die Reformer wurden aus
Leitungspositionen entfernt. Die Unterdrückung des Prager Frühlings
markierte einen Wendepunkt bei der Verbreitung des Kommunismus sowjetischer Prägung.
Im Westen ging die Unterstützung für
diese Ideologie stark zurück. Ihre Anhänger stellten fest, dass der Glaube
an die humanistischen Werte des bestehenden Systems zur Illusion wurde.
Ein sozialismus mit menschlichem Antlitz erwies sich als irreal.