KI im Fußball – Mit Algorithmen zum Sieg
Atmo:
ZDF Fußall-Spiel, Kommentar Béla Réthy: „Ein langer Ball von Lee – … Und Hon Min Son ist jetzt auf und davon! Und das deutsche Tor steht frei. Hon Min Son, geht an Hummels vorbei … und er verwertet den Treffer”)
Sprecherin: Bela Rethy ist entsetzt. Bei der Fußball-WM in Russland scheidet Deutschland in der Vorrunde aus.
Kommentar Béla Réthy: Der Videobeweis, der Ball kommt von Kroos, kein Abseits. Ja, das Tor zählt. Deutschland ist draußen, meine lieben Damen und Herren.“
Sprecherin: Trauer für die einen, Jubel für die anderen - große Fußballemotionen. Doch dahinter steckt eine Menge Kalkül: Die Koreaner sammelten massenhaft Daten über den amtierenden Weltmeister. Sie richteten ihr Spiel streng danach aus - und schlugen die Deutschen daher nicht nur mit ihrem Kampfgeist. Fernsehzuschauer kennen die immer komplexeren Statistiken über Ballbesitz oder Passquoten schon länger. Die Datennutzung im modernen Fußball geht aber viel weiter: Kameras mit Bilderkennung und Tracking-Apps verfolgen die Spieler auf Schritt und Tritt.
Antrittsgeschwindigkeit, Passgenauigkeit, Schusswinkel, Atemfrequenz, Erholungszeiten – alles wird erfasst und ausgewertet.
Ansage: Mit Algorithmen zum Sieg: Künstliche Intelligenz im Fußball. Von Jan Aleksander Karon und Tassilo Hummel.
Sprecherin: Der ZDF-Kommentator Béla Réthy kommentiert seit Anfang der 90-Jahre die Spiele der Nationalmannschaft. Er sah viele Trends kommen und gehen. Seit ein paar Jahren, sagt er, wird die komplexe, datenbasierte Analyse immer wichtiger. Ihm gefällt das nicht:
O-Ton Béla Réthy: Ich finde, in dem Fußball wird auch zu sehr verwissenschaftlicht. Das hört man auch schon bei vielen Fußballkommentatoren, die dann versuchen, diese dramatischen 90 Minuten analytisch so zu zerlegen, dass der Spaß, die Emotion und dieses Fluidum dann plötzlich verloren geht. Die wissen zum Teil gar nicht mehr, wovon sie reden.
Sprecherin: Doch mit ihren wissenschaftlichen Einlassungen kommen die Sportreporterinnen und Sportreporter nur einem Trend nach, der im Fußball um sich greift. So wenig wie möglich dem Zufall überlassen. Alles soll in Daten erfasst und analysiert werden.
Schließlich sind Fußballclubs große Wirtschaftsunternehmen. Béla Réthy:
O-Ton Béla Réthy: Also das erste Mal offiziell zugelassen worden ist das meines Wissens bei der Fußball-WM in Russland 2018, als dann schon ganz legal Assistenten auf der Trainerbank mit iPads schon parallel Bilder gesichtet haben und entsprechende Analysen vorgenommen haben. Davor war das eher undercover, da saßen halt irgendwelche Tribünenadler.
Musikakzent
Sprecherin: Die Grundlage für die Analyse bilden zwei verschiedene Kategorien von Daten: Mit sogenannten Scouting-Daten lassen sich alle Aktionen eines Spielers statistisch erfassen:
Sprecher: Wie oft schießt ein Spieler? Wie oft trifft er das Tor? Wie viele seiner Pässe finden ihr Ziel? Wie viele seiner Zweikämpfe gewinnt er?
Sprecherin: Hinzu kommen sogenannte Tracking-Daten. Mit ihnen wird das Laufverhalten und das Positionsspiel jedes einzelnen Spielers erfasst.
Sprecher: Wie viel läuft ein Spieler? Wohin läuft der Spieler und wie schnell? Wo auf dem Feld steht er?
Sprecherin: Für sich genommen sind diese Daten wertlos. Wer Erfolg haben will, muss verstehen, wie die Einzelinformationen zusammenhängen. Traditionell machen Scouts und Trainer diesen Job – doch immer öfter übernehmen Computerprogramme diese analytische Leistung.
Der FC Liverpool, Champions League-Sieger 2019 und noch immer eines der besten Teams im englischen Fußball, gilt darin als weltweit führend.
Branchenkenner sagen: Der Club setzt auf künstliche Intelligenz, also auf Algorithmen, die gewisse Muster in Daten erkennen und ihren Quellcode selbständig weiterentwickeln. Fünf Datenanalysten, genannt data scientists, arbeiten in Liverpool. Sie hätten, so erzählt man sich, 2015 auch ausgerechnet, dass der deutsche Trainer Jürgen Klopp für Liverpool der richtige sei, obwohl der am Ende in Dortmund keinen Erfolg mehr hatte.
Atmo: Baseball-Spiel
Sprecher: Die Idee, massenhafte Daten im Sport zu sammeln, kommt aus den USA. Genauer gesagt aus dem Baseball. Ähnlich wie Finanzanalysten an der Wall Street Unternehmensbilanzen analysieren, begannen Sport-Fanatiker Ende der 1970er-Jahre, das Baseball-Spiel in seine statistischen Einzelteile zu zerlegen. So verhalfen sie bald einigen Proficlubs zum Erfolg. Auch andere US-Sportarten übernahmen die komplexen Analyseverfahren.
Sprecherin: Im europäischen Fußball hielten solche Berechnungen lange keinen Einzug. Dass ausgerechnet der FC Liverpool einer der Vorreiter ist, ist kein Zufall: Der englische Club gehört zum amerikanischen Sportvermarktungskonzern Fenway Sports Group. Dessen Gründer wurde als Rohstoffhändler an der Börse reich. Er erfand einen Algorithmus, mit dem er Kursschwankungen auf dem Soja-Markt vorhersehen konnte. Wen wundert´s, dass er auch beim FC Liverpool auf die Datenanalyse setzte.
O-Ton Hugo Bordigoni: Liverpool ist eindeutig der Club, der am weitesten ist mit dem Datensammeln. Und ich glaube, es ist von allen in England und weltweit anerkannt, dass dieses Team das Beste ist. Dort gibt es fünf Datenanalysten, die wirklich nur da sind, um auf den Daten herumzukauen.
Sprecherin: Das sagt Hugo Bordigoni. Der Informatiker ist auf Fußballdaten spezialisiert und hat einen Vertrag mit Liverpool abgeschlossen. Die Daten-Nerds vom Liverpooler Team kennt er persönlich.
Atmo: Begrüßung Skill-Corner
Sprecherin: In seinem Pariser Startup-Unternehmen Skill-Corner arbeiten zehn Personen an Bildschirmen und starren auf Grafiken, die an abstrakte Kunst erinnern. Hugo Bordigoni ist kaum größer als Lionel Messi, er ist blass und sehr schmächtig. Ein Weltklasse-Fußballer wäre er allenfalls an der Playstation. Doch er verfügt vielleicht über mehr Daten über Fußball als irgendwer sonst. Die Zusammenarbeit mit dem FC Liverpool bahnte sich kurz nach der Fußball-WM 2018 an – für den Franzosen, dessen Land gerade Weltmeister geworden war, ein doppelter Grund zur Freude.
O-Ton Hugo Bordigoni: Wir wollten von uns reden machen und haben während der WM-Spiele Grafiken veröffentlicht (…). Wir hatten eine Art Datenjournalisten, der bei jedem Spiel da war und unsere Inhalte veröffentlicht hat. Und dann hat Ian Graham von Liverpool uns kontaktiert und gesagt: Oh, das bedeutet wohl, ihr gewinnt Daten direkt aus dem Fernsehbild. Das interessiert uns enorm. Lasst uns darüber ins Gespräch kommen.
Sprecherin: Genau das konnte Bordigoni den Liverpoolern liefern. Der Programmierer ist spezialisiert auf machine learning und entwickelte eine künstliche Intelligenz, die Fußballspiele auf der ganzen Welt beobachtet und automatisch in riesige Datensätze umwandelt.
O-Ton Hugo Bordigoni: Wir benutzen das Fernsehbild, das Sie auch sehen können, wenn Sie ein Fußballspiel gucken, aber bei uns sind es die Maschinen, die das Fußballspiel anschauen und erkennen, wo die Spieler auf dem Feld positioniert sind. Sie erkennen auch den Ball und können zuordnen, wer gerade den Ball hat. Damit sammeln wir ungefähr eine Million Datenpunkte pro Spiel, die wir anschließend an die Clubs, Medien, Sportwettenanbieter verkaufen.
Sprecherin: Die Technologie dahinter ist Bilderkennung durch sogenannte neuronale Netzwerke, ähnlich wie sie im autonomen Fahren oder bei der Gesichtserkennung durch Überwachungskameras angewendet wird. Im Fußball ist das bereits ein umkämpfter Markt.
O-Ton Hugo Bordigoni: Es gibt heute viele Methoden, um Daten zu sammeln von Fußballspielen. Viele Firmen sammeln die Daten von Hand. Sie haben drei Leute, die sich jedes Spiel anschauen, und zählen: Das war ein Pass, das war ein Dribbling, das war ein Schuss. Das ist recht beschränkt, weil ein Mensch nicht in der Lage ist, alle Bewegungen von allen Spielern und das alles auch noch live zu erfassen. Wir machen das komplett automatisch. Wir sind nicht die einzigen, die das machen, aber wir gehen noch ein bisschen weiter als die anderen.
Sprecherin: Doch massenhaft Daten über sich, seine Gegner und potentielle Neuzugänge zu horten, macht ein Team noch nicht erfolgreich.
O-Ton Hugo Bordigoni: Wir sammeln so viele Daten wie möglich und bieten sie am Markt an, aber dann kommt es auf die Expertise der Clubs an, auf der Grundlage von diesen rohen Daten, die eigentlich nur Raum-Zeitpunkte sind, Entscheidungen zu treffen. Um die Daten zu verstehen, muss man sie in den richtigen Kontext setzen.
Sprecherin: Genau das betreibt der FC Liverpool seit Jahren mit Erfolg. Schon 2012 holte Liverpool dafür den promovierten Physiker Ian Graham an Bord – eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Heute sehen Journalisten in ihm einen “Guru”. Der Grund: Graham gelang es durch seine Analysen, dem Club geniale Transfers vorzuschlagen. Mithilfe großer Mengen von Scouting- und Trackingdaten konnte er ausrechnen, welche Spieler am besten ins Gesamtkonzept des Clubs passten – und angesichts niedriger Ablöseforderung unterschätzt waren. Obwohl die von Oligarchen finanzierten Clubs wie Manchester City oder Chelsea mehr Finanzkraft als Liverpool hatten, stellten die Manager an der Anfield Road das momentan beste Team des Landes zusammen.
O-Ton Hugo Bordigoni: Die haben es geschafft Spieler auszugraben und dabei herausragende Wertsteigerungen zu schaffen.
Sprecherin: Neben dem Angreifer Coutinho und dem Abwehrchef Virgil van Dijk hat Graham auch den Transfer des ägyptischen Erfolgsstürmers Mohammed Salah empfohlen. 2017 kam er für 42 Millionen Euro vom AS Rom. Heute wird sein Wert auf 100 Millionen Euro geschätzt. Doch wie arbeitet der Mann, der hinter solchen Käufen steckt? Einblicke in seine Algorithmen gibt der FC Liverpool nicht.
O-Ton Hugo Bordigoni: Jeder weiß, dass hier ein sehr wichtiger Wettbewerbsvorteil liegen kann. Also haben sie keine Lust, ins Detail zu gehen, was sie wirklich mit den Techniken machen.
Sprecherin: Ian Graham und sein Team lehnen systematisch Interviewanfragen ab – auch die von SWR2 Wissen.
Atmo: BBC Royal Institution Lectures
Sprecherin: Eine Ausnahme machte der Club im Dezember für die große BBC. Tim Waskett, ein studierter Astrophysiker aus dem Team von Ian Graham, kam im Dezember einer Einladung der Royal Institution Lectures auf Channel 4 nach. Fans waren begeistert, denn Waskett gab einige, natürlich sorgfältig ausgesuchte, Einblicke.
Sprecher: Waskett erklärt der Moderatorin das Konzept der Expected Goals, abgekürzt xG einem der Parameter, der auf Grundlage von Torchancen und Torschüssen ermittelt, wie viele Tore ein Team mathematisch gesehen eigentlich hätte schießen müssen:
O-Ton Tim Waskett: Seine Berechnungen basieren auf Daten aus tausenden von Spielen überall auf der Welt. Daraus sei eine Formel entstanden, um auszurechnen, von wo und wie es sich statistisch gesehen überhaupt lohnt, aufs Tor zu schießen, erklärt Waskett. Und mehr noch: Mit Trackingdaten könne er die Position aller Spieler und des Balls auf dem Feld gleichzeitig analysieren und berechnen, wie hoch die Torwahrscheinlichkeit ist, je nachdem, wo der Ball sich gerade befindet.
O-Ton Tim Waskett: Waskett zeigt dem Publikum eine sogenannte heatmap: Die Ansicht eines Fußballfeldes wie mit einer Wärmebildkamera; ein Rasen, der an eine meteorologische Wetterkarte erinnert. Der Großteil der Karte ist blau, nur vereinzelt leuchten rote Flecken auf. Dazu sind Spieler mit Punkten und kleinen Pfeilen als Vektoren vermerkt. Ein Liverpooler Außenverteidiger hat den Ball – der Beginn eines Angriffs.
O-Ton Tim Waskett: Der Ball wird in eine rote Zone im Mittelfeld gepasst. Eine Anzeige am Bildschirmrand meldet, dass die Torwahrscheinlichkeit dadurch schon einmal erhöht wurde. Jetzt hat Außenverteidiger Trent Alexander-Arnold den Ball, der zum Sprint ansetzt. Während seines Laufs verändern sich auch die roten Flächen auf dem Spielfeld. Schließlich legt er den Ball kurz vor dem Tor wieder exakt in einen weiteren roten Flecken auf der Karte, zum Stürmer Mané, der ihn verwandelt. Es war der perfekte Angriff – genauso, wie es der Algorithmus ausgerechnet hat.
Atmo: “Geisterspiel”-Fußballstadion
Sprecherin: Erinnern wir uns zurück: Im Frühjahr 2020 war der Spielbetrieb in der Bundesliga für mehr als zwei Monate komplett ausgesetzt worden. Die Saison wurde dann vor leeren Rängen zu Ende gespielt. Im Juli 2021 wurde schließlich die ausgesetzte Europameisterschaft nachgeholt und in den Stadien Publikum zugelassen, zur Freude der Fans. Doch die Pandemie mit ihren Folgen hat viele Vereine vor große Herausforderungen gestellt.
Atmo: Fußball-Training
Sprecherin: in Deutschland halfen moderne digitale Technologien den Spielern dabei, ihren Fokus und ihre Form während des Lockdowns aufrecht zu erhalten, zum Beispiel beim FSV Mainz 05.
O-Ton Karim Onisiwo: Ich würde sagen, ganz am Anfang, wo komplett die Bundesliga abgebrochen wurde und wir zwei Wochen nur zu Hause waren, da war es eine Riesen Umstellung für jeden Einzelnen, denke ich.
Sprecherin: Erinnert sich der österreichische Stürmer von Mainz 05, Karim Onisiwo im April 2020. Interviewen lässt er sich nur am Telefon – zu groß wäre das Risiko, Pressevertreter auf das Vereinsgelände zu lassen.
O-Ton Karim Onisiwo: Wir haben dann Heimprogramme bekommen von den Athletiktrainern und auch so digitale Sachen, was wir machen können, so wie Kraftzirkel, keine Ahnung, Athletiktraining halt bisschen, das, was man halt zuhause machen kann. Es war halt dann schon sehr schwierig am Anfang, sich umzustellen, weil es doch eine Ausnahmesituation war.
Sprecherin: Das Grundlagentraining des FSV Mainz 05 ist komplex, es wird vom Trainerstab auf jeden einzelnen Spieler zugeschnitten. Das Trainerteam erfasst in einer App Bewegungsprofile bei Intervallläufen in der Natur und Herzschlagfrequenzen bei Belastungen. Der Mainzer Athletiktrainer Sven Herzog fand die digitale Datenvermessung während der Corona-Krise besonders hilfreich.
O-Ton Sven Herzog: Wir haben wir ein GPS-Tracking, wir haben ein Herzfrequenz-Monitoring, wir haben YouTube, wir haben WhatsApp, damit kann ich Videos verschicken.
Sprecherin: Beim Bundesligisten aus Rheinhessen hat sich in den letzten Jahren eine digitale Trainings-Infrastruktur durchgesetzt. Sie macht die Spieler zwar gläsern, aber erlaubt dem Verein, Trainingsleistungen schnell und einheitlich auf Grundlage von Daten auszuwerten. Sven Herzog:
O-Ton Sven Herzog: In der Polarflow-App-Cloud sieht so aus, dass ich genau nachvollziehen kann: Wo ist der gelaufen, mit welcher Schrittfrequenz, welches Höhenprofil hatte die Strecke, welche Herzfrequenz hatte er dabei.
Sprecherin: Heutzutage nutzt neben dem FSV Mainz 05 so gut wie jeder Profiverein digitale Technologien zur Leistungserfassung. Sie unterstützen nicht nur das Training der Athleten, sondern dienen auch zur Spielvorbereitung. Der Stürmer Karim Onisiwo:
O-Ton Karim Onisiwo: Also ich denke, vor zehn, 15 Jahren hat es das noch nicht gegeben, dass so intensiv, also vor dem Spiel, die Daten von den anderen Spielern hergezeigt werden und du dir anschauen kannst, wie der Spieler ins Dribbling geht oder wie schnell er ist oder wie viel er halt läuft.
Sprecherin: Doch nutzen Deutsche Clubs – ganz nach dem Liverpooler Vorbild – schon flächendeckend Algorithmen oder gar künstliche Intelligenz? Experten wie Hugo Bordigoni erklären, dass die englische Premier League hier Wegbereiter ist.
Deutsche Fußballclubs interessierten sich zunehmend für die Nutzung von Daten, aber die Bundesliga sei noch lange nicht auf demselben Level.
Atmo: Fußball-Training TSG Hoffenheim
Sprecherin: Etwa 120 Kilometer südlich des Traditionsvereins Mainz 05 wird in der Nähe von Heidelberg ein anderes Data-Sciences-Projekt aufgebaut: Mit Daten versucht die TSG Hoffenheim, langfristig in der Bundesliga zu bleiben.
O-Ton Peter Görlich: Quantitativ muss man bei der TSG Hoffenheim sagen, dass wir schon seit Jahren Daten gezielt sammeln und mittlerweile 250 Millionen Datenpunkte mit 830 verschiedenen Variablen haben, also das ist eine Menge an Daten und das ist auch das Wesen von allem Handeln, was danach kommt.
Sprecherin: Peter Görlich, sportlicher Geschäftsführer der TSG bis Ende Mai 2021, sagt, dass die Hoffenheimer im deutschen Fußball damit vorne mit dabei sind:
O-Ton Peter Görlich: Also ich glaube, wir befinden uns tatsächlich noch in so einer Art Pionierphase. Dass angefangen bei der DFL, beim DFB, aber auch bei den einzelnen Clubs, dass diese Verfahren noch nicht so standardisiert sind, dass sie Mainstream sind und dadurch finanziell auch für jeden verfügbar sind, und ich bin mir sicher es gibt an der ein oder anderen Stelle immer noch Clubs, die keine eigene Spielanalyseabteilung haben, sondern sich das zukaufen, weil sie die Verfahren noch gar nicht bei sich im Haus haben.
Musikakzent
Sprecherin: Doch sind die Hoffenheimer schon so weit, dass Algorithmen Daten so auswerten, dass die Software dem Trainerstab konkrete Empfehlungen macht, etwa welcher Spieler gegen welches Team auf dem Rasen stehen sollte oder welche Taktik der Trainer spielen sollte?
O-Ton Peter Görlich: Beim Fußball geht es erst einmal darum, dass man sich einen Blick über die vorhandenen Daten macht. Wie kann ich die erfassen? Weil wir über ein sehr komplexes und dynamisches Spiel sprechen. Und dann macht der Spielanalyst und der Trainer gemeinsam eine Strategie, aber das basiert natürlich darauf, dass ich alle verfügbaren Daten sammle, relevante Informationen sammeln für meine Strategie, für meinen Match-Plan ausarbeite, und dazu hilft tatsächlich diese Massendaten.
Sprecherin: Endgültige Entscheidungen träfen aber immer noch der Trainer und seine Assistenten.
O-Ton Peter Görlich: Also ich glaube, man muss da mal so ein bisschen aufräumen mit dieser Annahme, dass die künstliche Intelligenz im Fußball schon so Einzug gehalten hat. KI ist für mich, der Begriff ist zu groß. Und den muss man unterteilen, der macht ja eher dem Fußballfan so ein bisschen Angst.
Sprecherin: Vielversprechender ist es, KI anzuwenden, um überhaupt die richtigen Daten zu erfassen und Muster zu erkennen. Dazu arbeitet die TSG Hoffenheim mit dem Walldorfer Softwareunternehmen SAP zusammen, das der Mäzen der TSG, Dietmar Hopp, gegründet hat. Dort ist Fadi Naoum der Mann, der den Bereich KI im Fußball voranbringen soll.
O-Ton Fadi Naoum: Wir sind noch am Anfang, wir sind noch am Forschen bei der Mustererkennung, bei den Charakteristiken-Definitionen. Wir arbeiten sehr eng mit Hoffenheim. Hoffenheim ist natürlich für uns ein Light-House, also ein Leuchtturm.
Sprecherin: Fadi Naoum lässt auf seinem Bildschirm ein Spiel der Hoffenheimer Mannschaft laufen. Jetzt meldet sich sein Assistent zu Wort und erklärt:
O-Ton Assistent:
Da geht es darum, gezielt aus diesen Big Data, aus dieser Ansammlung von Daten auf diese kleine Menge zu reduzieren, die man wirklich sucht. Zudem bieten wir auch an, statistische Auswertung zu machen und direkten Zugriff auf statistische Informationen zu bekommen: Wer sind denn die ausführenden Spieler, wer sind die Spieler, die den Ball erhalten, auf welchen Feldpositionen geschieht das – und was ist eigentlich das Resultat der Aktionen?
Sprecherin: Fragen über Fragen, auf die der Algorithmus Antworten finden soll. Er erkennt automatisch die Schlüsselszenen im Spiel, die sich die Trainer und Spieler dann bequem per Klick in der Videoanalyse anschauen können, ohne sich Dutzende von Spielen in voller Länge anschauen zu müssen. Die SAP hat für die Profis auch die passende App im Angebot, eine Art team-internes soziales Netzwerk.
O-Ton Fadi Naoum: SAP Sports One: Dabei handelt es sich um die 360-Grad-Sicht des Spielers. Um seine Gesundheitsdaten, seine Leistungsdiagnostik, seine Verletzungen, Scouting, Trainingskatalog und so weiter. Und Challenger Inside, das ist ein Teil, wo sich das Team nachher auf den Gegner vorbereiten kann. Da kann der eine Spieler, wer sein Gegenspieler ist und sich auf den vorbereiten kann. Das wird auch von vielen Clubs genutzt, auch während des Spiels im Locker Room eingesetzt, auch in der Pause.
Dass sie es nochmal gucken, was ist die Stärke des einen Spielers, wo sind seine Schwächen. So kann sich ein Spieler genau auf seinen Gegner vorbereiten.
Sprecherin: Auch der Spieler Karim Onisiwo und sein Trainerstab bei Mainz 05 nutzen die Software von SAP. Die App soll den Spielern, Trainern und Analysten die Kopfarbeit nicht abnehmen, sondern sie effektiver machen. Der Ursprung des Ganzen sind Tausende, wenn nicht gar Millionen Bruchstücke von Spielsequenzen, die ein Computer einfach schneller auswerten kann als das menschliche Gehirn. Besonders beim Scouting, also der Suche nach neuen Talenten, kann die Digitalisierung Clubs und freischaffenden Scouts einen entscheidenden Vorteil verschaffen. Algorithmen können sich theoretisch auf der ganzen Welt durch Datensätze wühlen und interessante Spielerprofile entdecken. Hier zeigt sich das Potential von großen Datensätzen, erklärt Hugo Borigioni, der mit seinem KI-Startup Skillcorner in Paris genau diese gewinnt und weiterverkauft.
O-Ton Hugo Bordigoni: Bei der Talentsuche kann Data Science noch besser eingesetzt werden als bei der Analyse eines konkreten Spiels, weil es hier weniger Raum für Zufall und mathematisch Unvorhergesehenes gibt. Man wertet nicht nur eines, sondern Spiele eines Spielers aus.
Sprecherin:
Die Digitalisierung erleichtert Talentsuchern damit insbesondere in einer Zeit, in der Reisen um den Globus wegen der Corona-Pandemie erschwert sind, den Job. Fadi Naoum von SAP:
O-Ton Fadi Naoum: Und man kann jetzt weltweit Scout von Büro sein, von zu Hause, man muss nicht jetzt durch die Welt reisen und viel Zeit verschwenden, um nachher effizienter zu arbeiten.
O-Ton Peter Görlich: Diese Daten kann ich auch nutzen, um zu sagen, das ist die Ausgangssituation für ein gewisses Profil eines Spielers, defensives Mittelfeld, über diese verschiedenen defensiven Mittelfeldspieler haben wir die Datensätze: Die sind so schnell, die reagieren in der Art und Weise, die machen so und so viel Beschleunigungen, haben so und so viel Tempoläufe.
Sprecherin: Peter Görlich, bis vor drei Monaten sportlicher Geschäftsführer der TSG Hoffenheim.
O-Ton Peter Görlich: Ich kann mir frei zugänglich Daten auf dem Markt von Spielern besorgen, von verschiedenen Dienstleistern, die es da gibt, und kann diese Daten auswerten. Also ich hole mir noch einen externen Big Data Datensatz dazu und lass den gegen meine eigenen Daten laufen, und sehe Auffälligkeiten bei externen und sehe Auffälligkeiten bei uns und dann kann ich die korrelieren lassen und sagen: Ok, das Fitting ist relativ hoch. Ah, der Spieler bringt das und das passt genau in unser Anforderungsprofil.
Sprecherin: Daten sind neutral – sie lassen keinen Platz dafür, welche Hautfarbe ein Spieler hat, wie er sich auf dem Feld gebärdet, ob der Scout ihn sympathisch oder unsympathisch findet. Doch kann man die Leistung eines Fußballspielers auf seine Statistiken reduzieren? Béla Réthy, der als Fußballreporter schon so manchen persönlichen Höhenflug oder Absturz bei Spielern beobachten konnte, ist skeptisch.
O-Ton Béla Réthy: Es gibt Spieler, die funktionieren bei der Beobachtung hervorragend, weil das Umfeld stimmt, weil die Mentalität stimmt, weil die Trainer klarkommen. Das ist ein gutes Beispiel, zum Beispiel der Stürmer Ciro Immobile, der ist mit großem Abstand führt der die Torschützenliste in Italien an, der war in Dortmund, da kam er mit Mühe und Not in den Kader. Der hat ganz selten gespielt. Wurde gescoutet, galt als toller Torjäger, hat aber in Dortmund alleine irgendwo in einem Vorort gewohnt, da gab es nicht seinen geregelten Ablauf, da hat die Sonne nie geschienen. Der war todunglücklich und dann war er wieder weg.
Sprecherin: Den menschlichen Faktor, die Tagesform, die good vibrations zwischen zwei Spieler-Persönlichkeiten, Irrtümer des Schiedsrichters, können Algorithmen nicht erfassen. Sie können allenfalls eine Vorauswahl treffen. Das sei der Vorteil der Algorithmen, betont Peter Görlich, Sportwissenschaftler und bis vor kurzem Manager bei der TSG Hoffenheim.
O-Ton Peter Görlich: Also wenn ich einen Spieler verpflichte, möchte ich ja den Menschen dahinter kennenlernen. Aber ich habe einfach diese lästig wiederkehrenden Teile meiner Arbeit, die meine Prozesslandkarte, auch so eine Scoutingprozess-Landkarte, immer an der ein oder anderen Stelle erschweren, kann ich optimieren, und ich gebe den Experten mehr Raum, um tatsächlich den Spieler auf sich wirken zu lassen.
Sprecherin: Date Science und ihre Algorithmen seien schlicht und einfach ein Tool, um Spieler, Teams und Trainer besser zu machen. Doch letztlich bleibt der Profi-Fußball ein Spiel zwischen 22 Menschen auf dem Platz, für Tausende im Stadion und Millionen an den Bildschirmen, in dem Emotionen, Individual- und Gruppenpsychologie und irrationale Faktoren immer ihren Platz haben werden.
O-Ton Peter Görlich: Deshalb werden wir nie total bestimmt sein, wir werden keine eine Mannschaft haben, wo 22 Akteure plus die Ergänzungsspieler alle auf Basis von Algorithmen ausgewählt worden sind. Nein, da werden persönliche Themen immer eine große Rolle spielen und dann reden wir über Fantasie und Kreativität.
Musikakzent
Atmo: Fußballspiel ARD 2014
Sprecherin: Fantasie und Kreativität – dafür lieben Fans den Fußball. Wenn einfach irgendwie alles passt – und in der Magie eines genialen Moments das Stadion vor Freude überkocht. Daran werden wohl auch die besten Algorithmen der Welt nie etwas ändern.
Atmo: Fußballspiel ARD 2014: Kommentar Béla Réthy: Da kommt der Ball in die Mitte rein, die Möglichkeit für Götze und Tooooooooooor. Tor für Deutschland. Mario Götze macht das 1 zu 0.