Telegram – Der Messengerdienst als rechtsfreier Raum
MANUSKRIPT
Nachrichten-Signalton / darunter düsterer Klangteppich / Musik
Sprecherin: Obwohl Telegram deutlich kleiner ist als sein Konkurrent WhatsApp, kennen die meisten den Messenger-Dienst aus den Nachrichten – als Tummelplatz für Corona- Leugner und Rechtsextreme.
O-Ton 01 - William Callison: I think that Telegram represents an extremely dangerous development that should cause great concern for those of us committed to democracy.
Übersetzer: Ich denke, Telegram ist extrem gefährlich – es sollte allen, denen die Demokratie am Herzen liegt, große Sorgen machen.
Sprecherin: Der Messenger-Dienst weigert sich mit westlichen Behörden zu kooperieren, seine Chats gelten als geheim, die Server stehen an unbekannten Orten. Das macht Telegram gleichermaßen beliebt bei Aktivisten, bei Kriminellen und Extremisten sowie bei bereits einer halben Milliarde ganz normaler User weltweit. Alle vertrauen der App, die inzwischen auch Geld einbringen soll. Zu Recht?
Sprecher / Ansage: „Telegram – Der Messenger-Dienst als rechtsfreier Raum“. Von Jan Karon und Tassilo Hummel.
Sprecherin: Ein Messenger-Dienst ermöglicht „Kommunikation in Echtzeit“. Wir tauschen uns über wichtige und unwichtige, lustige oder ernste Dinge mit wenigen Sätzen und Bildern aus, so als säßen wir einander gegenüber. Dazu müssen wir nur eine App auf dem Smartphone installieren. Was in einer Großstadt wie Berlin viele wissen: Über Telegram-Gruppen kann man sich Drogen nach Hause liefern lassen, so wie andernorts eine Pizza.
Zitator / Sprecher: Asservatenkammer Berlin – verifizierter Verkäufer – High Quality Gras aus Holland – High Quality Kokain – Speed – Ketamin. Mindestbestellwert 50 Euro. Lieferungen innerhalb von 30 bis 50 Minuten, Montag bis Samstag bis 23 Uhr.
Sprecherin: Solche Werbeposts, hier etwa aus der Berliner Gruppe „Fast Delivery Store” mit rund 6000 Mitgliedern, muss man nicht etwa lange suchen. Sie sind allgemein sichtbar.
Bestellt wird per Geheimchat. Kürzlich berichtete im rbb-Format „Schattenwelten Berlin“ ein Drogendealer anonymisiert vor der Kamera. Er erklärt der Reporterin die verschiedenen Drogengruppen auf Telegram.
O-Ton 02 - Toni (Schattenwelten Berlin): Das ist auf jeden Fall so ein typischer Wochenendpost. Wenn ich weiß, okay, die Leute sind hungrig, dann geht es halt los: Ecstasy different types, pharmacy different types, fürs Runterkommen natürlich danach. Diazepam, Tilidin, viele setzen sich gerne auch Opiate auch am Wochenende und chillen dann einfach mal gerne ab. So, diesen Beitrag haben 939 Leute gesehen. Dementsprechend habe ich daran auch gut Umsatz gemacht an diesem Tag.
Musik rein
Sprecherin: Telegram ist in Deutschland der zweitbeliebteste Messenger-Dienst und sieht seinem großen Rivalen WhatsApp auf den ersten Blick sehr ähnlich. Doch die App hat einige Besonderheiten: etwa die Gruppenchats unter tausenden Usern oder Kanäle, deren Abonnenten nur mitlesen, aber selbst nichts posten können. Hinzu kommt eine als extrem sicher geltende Geheimchatfunktion. Die gibt es so nicht bei WhatsApp.
Und es gibt noch einen wichtigen Unterschied: WhatsApp gehört zum Facebook- Konzern und dieser kooperiert seit einigen Jahren mit den Sicherheitsbehörden, übergibt Daten verdächtiger Nutzer und moderiert problematische Inhalte. Ganz anders Telegram. Die App erscheint als rechtsfreier Raum. Europäischen Sicherheitsbehörden ist schon länger bekannt, dass Islamisten auf Telegram kommuniziert haben. Neonazis vernetzen sich über die Plattform. Auch Mitschnitte des antisemitischen Terroranschlags von Halle im Oktober 2019 kursierten ungehindert auf Telegrams Kanälen.
Doch in den öffentlichen Fokus rückte Telegram in letzter Zeit aus einem anderen Grund:
Musik raus
O-Ton 03 - William Callison: Telegram is extremely popular among both the Anti-Lockdown crowd…
Übersetzer: Telegram ist extrem beliebt geworden bei Lockdown-Gegnern, Corona-Skeptikern, aber auch in der extremen Rechten und bei Anhängern von Verschwörungen wie QAnon. Diese ganzen Strömungen aus dem Internet sind zu Telegram gewandert. Und dort werden Fehlinformationen von bestimmten Kanälen in die Welt gesetzt und dann auch in andere Kreise, nicht unbedingt extremistische Kreise, hineingetragen.
Sprecherin: Analysiert der amerikanische Politikwissenschaftler William Callison. Callison hat mehrere Forschungsaufenthalte in Deutschland verbracht und seither einen besonderen Blick auf die Vorgänge hier. Im Januar 2021 veröffentlichte er im Magazin Boston Review eine vielbeachtete Analyse der deutschen Corona- Skeptiker-Szene. Er zog Parallelen zwischen dem Versuch der Querdenker- Bewegung, das Reichstagsgebäude zu kapern, und dem Sturm von Trump-Anhängern auf das Capitol. Eine Schlüsselrolle in der politischen Mobilisierung spielte laut Callison die Messenger-App Telegram.
O-Ton 04 - William Callison: A period of time in which this kind of exploded was with the pandemic…
Übersetzer: In der Pandemie ist das dann explodiert. Die Leute saßen allein zuhause herum, waren frustriert über ihre Isolation. Und dann wurden sie da in diese neue App reingezogen, oft weil Leute, denen sie auf Facebook oder Youtube gefolgt sind, gesagt haben: „Hey, folgt mir auf Telegram.“ So sind sie bei dieser App gelandet, über die sie seither mit Fehlinformationen und Propaganda überschwemmt werden.
Soundfläche, darüber Nachrichten-Signalton, dann Clip Attila Hildmann / … Die Lösung ist ganz einfach: Der Volksdeutsche muss sich seinen Boden zurückholen. Denn er hat ja auf seinem Boden nichts mehr zu melden, seitdem der Jude den Krieg gewonnen hatte und seine jüdische Staatssimulation erschaffen hat.
Sprecherin: Solche Sprachnachrichten schickt Attila Hildmann täglich seinen Fans. Sein Telegram-Kanal ist komplett öffentlich, auch Jugendliche müssen nur den Namen des inzwischen untergetauchten und per Haftbefehl gesuchten rechten Hetzers dort eingeben und finden Holocaust-Leugnung, Hakenkreuze und jede Menge Fake News. Über 100.000 Leute haben Hildmanns Kanal abonniert. Fast 200 000 Leserinnen und Leser hat der Kanal von Eva Herman, die dort Verschwörungsmythen, Esoterik-Literatur und Haushaltsprodukte vermarktet. Auch Sekten, extremistische Kleinstparteien und Pseudo-Journalistinnen und -Journalisten betreiben Kanäle mit zehn- und hunderttausenden Abonnenten auf Telegram. Viele rufen dort zu Spenden auf. Sie eint der Unmut über die Corona-Maßnahmen.
Besonders beliebt ist die App bei allen, die auf den großen sozialen Medien keinen Platz mehr finden.
Sound raus
Sprecherin: Die wichtigste Gegenmaßnahme gegen Hass und andere strafbare Inhalte ist seit 2017 das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Das erst Anfang 2021 erweiterte Gesetz zwingt die großen sozialen Netzwerke in Deutschland zum Handeln – nicht aber die Messenger-Dienste. Davon hat vor allem Telegram profitiert:
Zitator: „Telegram“ ist unter anderem bei Verschwörungsideologen, Rechtsextremisten sowie „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ aufgrund dieses Eindrucks der „Zensurfreiheit“ beliebt. Die Verlagerung der rechtsextremistischen Szene hin zu derartigen Diensten ist das Resultat von staatlichen und privaten Gegenmaßnahmen.
Sprecherin: Das schreibt der baden-württembergische Verfassungsschutz an SWR2 Wissen. Die Pandemie habe das Wachstum von Telegram beschleunigt.
Zitator: Löschwellen von Facebook, Twitter und YouTube haben diesen Trend im Zuge der Corona-Pandemie noch einmal beschleunigt, da dort nun auch Falschinformationen zum Coronavirus aktiv reguliert und mit entsprechenden Warnhinweisen versehen werden.
O-Ton 05 - William Callison: They are kind of entrepreneurs of conspiracy…
Übersetzer: Auf Telegram schanzen sich die Kanalbetreiber als Unternehmer für Verschwörungen und Fake News ihre Nutzer untereinander zu. Anders als etwa auf Twitter geht das hier nicht über einen Algorithmus, sondern über die Weiterleitungsfunktion. So können sich die Anführer der verschiedenen Kanäle gegenseitig bewerben und verlinken und die Nutzer geraten immer tiefer hinein.
Sprecherin: Der US-Forscher William Callison hat die deutsche Querdenker-Szene, genauer gesagt ihre Aktivitäten im Internet, untersucht. Hier sind längst nicht alle rechtsextrem wie Attila Hildmann, der wegen Sperrungen bei Facebook und Co. mit seinem radikalen Weltbild zu Telegram umziehen musste. Doch Callison hat festgestellt, dass auch für eher gemäßigte Corona-Skeptiker Telegram äußerst beliebt ist. Ein Problem, denn Telegram hat großes Radikalisierungspotential.
O-Ton 06 - William Callison: You are being forwarded…
Übersetzer: Man leitet ihnen Inhalte weiter und zwar in Gruppen, die Sie sich selbst ausgesucht haben, oder die vielleicht sogar ihren Familienkreis berühren. Da glauben Sie natürlich eher, was Ihnen da erzählt wird. Ich denke, Telegram ist extrem gefährlich – es sollte allen Demokraten große Sorgen machen.
O-Ton 07 - Lars Wienand: Es ist ein weitgehend widerspruchsfreier Raum, der dann für Nutzer auch eine andere Realität schafft. Also wer in diesen Gruppen unterwegs ist, trifft fast ausschließlich auf Gleichgesinnte. Da lässt sich in Teilen zuschauen, wie Thesen, die dort aufgestellt werden, immer demokratiefeindlicher werden.
Sprecherin: So Lars Wienand, Investigativ-Journalist bei der Nachrichtenwebsite T-Online. Wienand hat zusammen mit Kollegen vom rbb-Fernsehmagazin Kontraste aufgedeckt, dass eine Vielzahl problematischer Telegramkanäle auf ein und dieselbe Person zurückgehen: einen IT-Spezialisten, der sich als Lebenskünstler geriert, laut dem Thüringischen Verfassungsschutz den Reichsbürgern nahesteht und sich „Frank, der Reisende“ nennt. Die Recherche wirft ein Schlaglicht darauf, wie Telegram als politischer Raum genutzt wird. Beispiel: Thema Corona-Skepsis:
Clip „Frank der Reisende“ (Kontraste): Dass diejenigen, die mit diesem Thema sich identifizieren möchten oder können, eine Plattform haben, darüber miteinander sich auszutauschen.
Sprecherin: Sagte der Telegram-Profi „Frank der Reisende” in einem Interview mit Kontraste, das im April 2021 ausgestrahlt wurde. 4000 Telegram-Gruppen soll er als riesiges Netzwerk aufgebaut haben. Journalist Wienand berichtet, dass Frank seine Dienste führenden Querdenkern, aber auch Rechtsextremen und Verschwörungserzählern wie Xavier Naidoo für Geld anbietet.
O-Ton 08 - Lars Wienand: Er hat feste Kosten und er hat auch Tarife quasi. Vorstellungen, dass er wohl für Nutzung seiner Bots oder Bots, die er beauftragt hat, die über ihn laufen. Dass er dafür dann auch eine Aufwandsentschädigung bekommt.
Sprecherin: Bots – noch so eine Besonderheit von Telegram. Die App erlaubt es versierten Tüftlern wie Frank, selbst kleine Programme zu entwickeln, die dann automatisiert Gruppen moderieren und ihren Administratoren damit Arbeit abnehmen.
Musik rein
Sprecherin: Mit seinen riesigen Kanälen und Gruppenchats und seinen über 500 Millionen Nutzern, ähnelt Telegram zunehmend einem Sozialen Netzwerk. Dazu passt, dass die App-Betreiber Ende 2020 angekündigt haben, in den Kanälen bald Werbung zu schalten und Premium-Funktionen anbieten zu wollen – und damit erstmals öffentlich sichtbar Geld mit der App zu machen. Deshalb meinen Kritiker – wie die Digitalpolitik- Experten von netzpolitik.org – sollte der deutsche Staat Telegram wie eine Social Media-Plattform dazu verpflichten, gegen rechtswidrige Inhalte vorzugehen. Denn freiwillig dürfte sich Telegram nicht in diese Richtung bewegen. Im Gegenteil – das anarchische Element ist Markenkern des Dienstes.
Musik raus
O-Ton 09 - Chantal Gärtner: Dass sich Telegram immer präsentiert als Messenger, der nicht mit Staaten kooperiert und insofern auch staatsfern ist. Und dass es deswegen ja auch ein Grund sein kann, warum Personen, die jetzt quasi gegen das aktuelle System sind, dahin abwandern.
Sprecherin: Sagt die Kommunikationsforscherin Chantal Gärtner. Sie ist Co-Autorin einer Ende 2020 veröffentlichten Studie der Universität Greifswald für die Landesmedienanstalt NRW, die erstmals in Deutschland Telegram auf rechtswidrige Inhalte untersucht hat. Ihr Forscherkollege Jakob Jünger erklärt, dass Geschichten wie die von „Frank dem Reisenden“ kein Einzelfall sein dürften:
O-Ton 10 - Jakob Jünger: Eine für uns zentrale Erkenntnis von dem, was wir beobachtet haben, ist, dass die eben nicht immer so Graswurzelbewegungen sind, die einfach so bottom up entstehen aus den Interessen und dann finden sich Gleichgesinnte. Sondern dass die eben zum Teil auch sehr strategisch koordiniert werden, dass wir eben einzelne Leute haben, so Figuren in diesen Bewegungen, die sehr strategisch eine Vielzahl von Kanälen und Gruppen aufbauen und dann eben auch sehr gut die Techniken zu nutzen wissen, die wir dann auf diesen Plattformen haben, um eine Vernetzung herbeizuführen, um eine Reichweite zu bekommen.
Sprecherin: Neben dem Feld des Rechtsextremismus fanden die Kommunikationswissenschaftler Chantal Gärtner und Jakob Jünger die meisten Rechtsverstöße in den Bereichen Drogenhandel, Dokumentenfälschung und Pornografie – und zwar flächendeckend in öffentlich zugänglichen Gruppen und Kanälen. Interessanterweise scheint Telegram im Porno-Bereich Inhalte zu sperren. Die Wissenschaftler vermuten, dass es „irgendwelche Strukturen“ im Hintergrund geben muss. Doch kriminelle Geschäfte und Volksverhetzung laufen ungestört ab.
O-Ton 11 - Jakob Jünger: Während auf anderen Plattformen viel restriktiver mittlerweile das Community- Management betrieben (wird), ist das bei Telegram erst einmal völlig unklar. Am Ende muss man sagen, gibt es halt eine Person, die darüber entscheidet, was auf dieser Plattform passiert und was auf dieser Plattform nicht passiert. Und das ist halt der Gründer von Telegram. Das ist ja eine hierarchisch durchstrukturierte Organisation. Und das ist erstmal auch hochproblematisch.
Musik rein
Sprecherin: Gemeint ist ein Mann namens Pawel Durov. Durov ist Russe, kleidet sich wie Keanu Reaves in Matrix und ist bekennender Libertärer. Mit Anfang 20 baute er das russische Facebook-Pendant VKontakte auf, fiel jedoch 2012 bei den russischen Behörden in Ungnade, weil er sich weigerte, Putin kritische Gruppen zu sperren.
Letztlich verließ Durov VKontakte – das heute regierungsnahen Geschäftsleuten gehört –, besorgte sich die Staatsbürgerschaft eines Karibikstaates und gründete im August 2013 Telegram. Um Putins Behörden dieses Mal zu entgehen, verlegte Durov Telegram erst nach Berlin. Er führte die russische Regierung, die Telegram bis Sommer 2020 verboten hatte, durch seine geschickte Server-Infrastruktur so an der Nase herum, dass die App für Millionen von Russen online blieb. Heute arbeitet Telegram nach eigenen Angaben von Dubai aus. Wo auf der Welt die Server von Telegram stehen, ist unbekannt. Pawel Durov und sein Team geben keine Interviews. Die App hat nicht mal ein Impressum und auch eine Anfrage von SWR2 Wissen blieb unbeantwortet.
Musik raus
Sprecherin: Doch Telegram hat auch eine andere Seite, eine helle, wichtige Seite:
O-Ton 12 - Dasha Dudley: Also Pawel Durov ist nicht gleich ein Held in der russischen Protestbewegung. Aber er ist schon eine sehr wichtige Figur. Die russische Regierung versucht natürlich immer wieder, Telegram zu unterminieren und als ein Medium zu verbieten, und diese Versuche werden wahrscheinlich zunehmen, weil es wird natürlich nicht übersehen, dass sich die Protestbewegung ausschließlich per Telegram vernetzt hat.
Sprecherin: So die Russin Dasha Dudley, eine Putin-Kritikerin, die mit ihrem britischen Mann in Berlin im Exil lebt. Hier organisiert sie Protestveranstaltungen, um auf Menschenrechtsverletzungen und Demokratieprobleme in ihrer Heimat aufmerksam zu machen. Per Telegram sind Dudley und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter beim Protestcamp am Brandenburger Tor dabei, wenn Oppositionelle in Russland auf die Straße gehen.
O-Ton 13 - Dasha Dudley: Wir vernetzen uns wirklich über Telegram vor allem und es gibt mittlerweile gut organisierte Telegram-, nicht nur Chats, also wirklich gut ausgearbeitete Telegram- Kanäle, über die wir unsere Aktivitäten koordinieren sozusagen. Telegram ist nicht zum Chatten gedacht. Telegram ist zum Arbeiten gedacht, damit sich Menschen miteinander vernetzen und dann wirklich bestimmte Projekte sehr schnell und effektiv auf die Beine stellen können.
Sprecherin: Dudley sagt, Telegram sei mit Abstand das wichtigste Tool in ihrer politischen Arbeit.
O-Ton 14 - Dasha Dudley: Ich kenne mich jetzt mit der technischen Organisation nicht so gut aus. Aber was ich aus den Medien lese, ist Telegram schon ziemlich sicher. Das ist das eine. Das andere ist vielleicht eine gewisse Sympathie mit dem Team von Pawel Durov. Und schließlich ist einfach eine ganz andere Arbeitsform da, also sehr viel kreative Gestaltung dabei.
Sprecherin: Die Putin Kritikerin hat es über Telegram sogar geschafft, Kontakt zum Team von Alexey Nawalny herzustellen, den aktuell wichtigsten Widersacher Putins. Ihre Arbeit zeigt, warum Telegram in Russland, aber auch in Ländern wie Belarus und Iran zu einem mächtigen Instrument für Protestbewegungen geworden ist. Die App beinhaltet Coworking-Funktionen, kann große Dateien in so gut wie jedem Format verschicken und wiedergeben, hat eine Umfrage-Funktion, erlaubt riesige Massenchats, Telefongespräche und bald auch Videokonferenzen. Gleichzeitig nutzen so gut wie alle kritischen russischen Medien und Journalisten Telegram- Kanäle als Plattform für ihren Journalismus.
Musik rein
Sprecherin: Aktivistinnen wie Dudley und natürlich Millionen ganz normaler Nutzerinnen und Nutzer – auch in Deutschland – vertrauen Telegram, obwohl über das Unternehmen und seinen Gründer nur wenig bekannt ist. Doch wie sicher ist die App? Verstörend wirkt eine Nachrichtenmeldung aus dem Jahr 2020, wonach Telegram in Russland nun überraschenderweise wieder offiziell erlaubt ist. Denn die Betreiber der App haben sich bereit erklärt, gegen – Zitat – „Extremismus und Terrorismus“ – vorzugehen. Gibt es nun also einen Deal mit der russischen Regierung? Es ist völlig unklar.
Musik raus
O-Ton 15 - York Yannikos: Vielleicht gibt's irgendwelche Deals im Hintergrund, vielleicht ist das gar nicht geplant von ihm. Das ist alles. Für mich ist das alles offen.
Sprecherin: York Yannikos arbeitet am Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung in Darmstadt als Experte für IT-Forensik. Er analysiert, wie sicher die Daten der User und Userinnen bei Telegram sind:
O-Ton 16 - York Yannikos: Also ich glaube der, der oder die Benutzer, Benutzerinnen von solchen Diensten denkt immer, wenn man was verschlüsselt abschickt, kommt es auch verschlüsselt, ohne dass jemand reingucken kann beim Empfänger an. Das nennt man Ende zu Ende Verschlüsselung. Und genau das ist bei Telegram zwar ein Punkt, der möglich ist. Also man kann Ende zu Ende Verschlüsselung benutzen. Das ist aber standardmäßig überhaupt nicht der Fall und es wird auch standardmäßig nicht eingesetzt.
Sprecherin: Telegram habe zwar die sogenannte geheime Chatfunktion, bei der Daten verschlüsselt verschickt werden und laut Angaben der Betreiber nicht auf Telegrams Servern, sondern nur auf den beiden beteiligten Smartphones gespeichert werden. Dies muss jedoch jedes Mal explizit beim Chatten eingestellt werden. Außerdem funktioniert die Funktion nicht bei Chats zwischen mehr als zwei Personen oder bei Sprachanrufen.
O-Ton 17 - York Yannikos: Warum ist denn nicht jeder standardmäßige Chat irgendwie ein geheimer Chat? Warum kann man das denn nicht pauschal Ende zu Ende verschlüsselt machen? Wie das Threema macht, wie das Signal macht, wie das WhatsApp eigentlich macht und dann argumentieren sie: „Ja naja, es geht um Backups und es ist dann schwieriger zu backen.“ (...) Und das sind halt Argumente, die insbesondere von Kryptographie-Experten an eben nicht so gern gesehen werden.
Sprecherin: Der Großteil der Kommunikation ist also deutlich schwächer geschützt – auch wenn Telegram behauptet, sie sei verschlüsselt.
O-Ton 18 - York Yannikos: Und das, was eigentlich nur verschlüsselt ist, ist in dem Moment, wo ich meine Datei wegschicke der Transport quasi. Also auf dem Weg kann keiner da reingucken. Aber sobald sie auf dem Server oder den Servern von Telegram angekommen ist und dann da verteilt wird an die Empfänger und so weiter, können die Server-Betreiber z.B. alles lesen. Das wird auch gespeichert.
Sprecherin: Yannikos sieht außerdem Probleme mit dem Verschlüsselungsprotokoll, das Telegram benutzt.
O-Ton 19 - York Yannikos: So wie sie es zusammen gestrickt haben, ist das ziemlich selbst gestrickt. Und das ist immer ein, ich sage mal mehr oder weniger No-Go in der Crypto-Community. Man sollte eigentlich immer altbewährte gut, ich sage mal gut abgehangene, gut funktionierende Verfahren, die schon viele Leute, viele Experten bewertet haben und als sicher befunden haben, sollte man eigentlich immer nehmen. Man sollte nicht irgendwie anfangen, selbst was zu bauen.
Sprecherin: Die Folge: Bei Telegram – wo auch immer seine Server stehen – liegen massenhaft private Daten, die Telegram auslesen, analysieren, theoretisch auch weiterverkaufen oder an Regierungen geben könnte. Nutzerinnen und Nutzer müssen schlicht und einfach hoffen, dass Daten auch wirklich gelöscht werden, die etwa nach der Datenschutzgrundverordnung gelöscht werden müssen. Telegram schreibt auf seiner Website, alles laufe datenschutzkonform ab. Doch Kontrollinstanzen wie zum Beispiel einen Aufsichtsrat gibt es im Durov'schen Unternehmen nicht.
O-Ton 20 - York Yannikos: Je weniger Vertrauen man jemandem entgegenbringen muss, um das Produkt zu verwenden und trotzdem sicher ist, desto besser. Und hier muss man viel vertrauen. Man muss viel vertrauen, dass die Daten vom Server verschwinden, wenn man sagt „Lösch mal!“. Man muss vertrauen, dass diese Verschlüsselung, die sie sich mehr oder weniger ausgedacht haben, gut funktioniert und wirklich sicher ist und nicht irgendwie vielleicht doch die eine oder andere Hintertür hat oder so ist. Das sind Punkte, die alle eigentlich eher nicht positiv zu bewerten sind.
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Sprecherin: Allein im Januar 2021 hat Telegram 25 Millionen User innerhalb von nur 72 Stunden hinzugewonnen – nachdem WhatsApp angekündigt hatte, seine Datenschutzbestimmungen zu verändern. Auch in Deutschland hat die App, nach Schätzungen, mehrere Millionen aktive Nutzerinnen und Nutzer. Umso dringender erscheint es, gegen problematische Umtriebe auf der Plattform vorzugehen. Nur wie? Vertreter aus Justiz und Geheimdiensten werden von den Betreibern des Dienstes ignoriert. Doch es gibt eine Ausnahme: Europol in Den Haag. Die Behörde hat es geschafft, dass Telegram mit ihr kooperiert. Wenn Europol Inhalte und Nutzer rund um Aktivitäten des Islamischen Staats meldet, dann sperrt Telegram diese. Aber wie genau ist diese Kooperation zustande gekommen?
Musik raus
Zitator: Die Kooperation mit Telegram basiert auf einer vertrauensbasierten Beziehung mit der Plattform. Über das Melden von Inhalten hinaus pflegt unsere Ermittlungseinheit einen steten Austausch mit Telegram, um über neue Trends beim Missbrauch durch Terroristen zu informieren und Telegram bei der Verbesserung ihres Mechanismus zum Aufspüren von Inhalten zu unterstützen.
Sprecherin: Heißt es in einer E-Mail von Europol an SWR2 Wissen. In Bezug auf islamistische Terrornetzwerke scheint Telegram sich seiner Verantwortung also bewusst zu sein.
Zitator: Wir unterstützen freie Meinungsäußerung und friedlichen Protest, aber Terrorismus und Propaganda von Gewalt haben keinen Platz auf Telegram.
Sprecherin: So wird ein Telegram-Sprecher in der entsprechenden Europol-Pressemitteilung zitiert.
Im Bereich Rechtsextremismus scheint das allerdings nicht zu gelten – auf unzähligen deutschen Kanälen finden sich Hass und Hetze. Und Telegram tut nichts. Fast nichts. Nach Informationen der digitalen Nachrichtenplattform „netzpolitik.org“ soll Telegram nach dem Sturm von Trump-Anhängern auf das Capitol am 6. Januar 2021 gegen einige Rechtsextreme in den USA vorgegangen sein. Wohl aus Sorge, es könnte ansonsten von Google und Apple aus den App-Stores geworfen werden, wie es der App Parler widerfahren ist. Wirtschaftliche Aspekte scheinen die Betreiber also durchaus zu interessieren.
Atmo: Bundestagsdebatte
Sprecherin: Der Deutsche Bundestag in Berlin, im Mai 2021. Beraten wird ein Gesetz, mit dem die Bundesregierung den deutschen Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse zur Überwachung von Messenger-Diensten verleihen will. Im Kern der Gesetzesreform steht eine Regelung, die Innenminister Horst Seehofer schon lange fordert: Der deutsche Verfassungsschutz soll gefährliche Personen künftig in Messenger- Diensten ausspionieren dürfen. Per spezieller Software – genannt Staatstrojaner oder auch Quellen-TKÜ –, mit denen die verschlüsselten Nachrichten von Telegram, Whatsapp und Co. direkt auf dem Smartphone ausgelesen werden können. Ähnliche Befugnisse plant der Innenminister auch für die Bundespolizei. Die Opposition ist entsetzt.
O-Ton 21 - Benjamin Strasser: Eines muss man dieser großen Koalition ja lassen. Die Seehofer-Doktrin wird konsequent umgesetzt. Alle dürfen alles.
O-Ton 22 - Konstantin von Notz: Statt Rechtssicherheit zu erhöhen, legen sie dem BfV mit der Quellen-TKÜ gleich das nächste offen verfassungswidrige Ei ins Nest.
Sprecherin: So wetterten die Netzpolitiker Benjamin Strasser von der FDP und Konstantin von Notz von den Grünen in der ersten Bundestagssitzung zum Thema. Die Bundesregierung hielt dagegen: Es gehe darum, den Rechtsstaat zu schützen. Und so haben auch einige Bundesländer bereits Polizei und Staatsanwaltschaft mit ähnlichen Rechten ausgestattet. Auf europäischer Ebene gehen die Pläne sogar noch weiter. Auch auf Druck des deutschen Innenministers Horst Seehofer wird in Brüssel über eine sogenannte „Backdoor”-Lösung nachgedacht: Betreiber von Messenger-Diensten sollen verpflichtet werden, bereits in das Verschlüsselungsprotokoll absichtlich eine Schwachstelle einzubauen. Die Idee: So könnten Behörden Kommunikation anzapfen, auch ohne auf das einzelne Smartphone zuzugreifen. Das findet der IT-Experte York Yannikos vom Darmstädter Fraunhofer-Institut höchst problematisch. Eine weitreichende Verschlüsselung, also Kryptografie, müsse immer gewährleistet sein.
O-Ton 23 - York Yannikos: Wir brauchen sichere Kryptographie. Wir können quasi jetzt nicht hergehen und sagen „Ja, es gibt auch Verbrecher, die natürlich diese kryptografischen Tools und Apps und Methoden einsetzen. Und deswegen müssen wir kryptografische Grundprinzipien schwächen und müssen da Hintertüren einbauen und so weiter.” Denn das lädt halt total dazu ein, dass das Ganze auch missbraucht wird für andere Sachen irgendwie zweckentfremdet wird, dass andere Geheimdienste da z. B. dann diese Hintertüren nutzen und man plötzlich als jemand, der aber sicher kommunizieren muss und zwar komplett legal, als Politiker zum Beispiel oder (...) auch einfach der Ottonormalbürger, der seine medizinischen Daten z. B. übertragen möchte von A nach B, dass er plötzlich keine Möglichkeit mehr hat, sicher zu kommunizieren.
Sprecherin: Auch für den Kommunikationswissenschaftler Jakob Jünger greift das Ausspionieren von besonders gefährlichen Einzelnutzern zu kurz. Schließlich seien auch auf Telegram gefährliche, kriminelle Nutzer in der Minderheit. Jünger argumentiert deswegen nicht für polizeiliche und geheimdienstliche Befugnisse, die die Kommunikation am Ende für alle Messenger-Nutzer ein wenig unsicherer machen. Sondern für umfassende Regulierung.
O-Ton 24 - Jakob Jünger: Es ist erst einmal ganz wichtig in diesem Feld, Regulierungsinstrumente zu schaffen, die ebenso Transparenz bringen. Wir wissen halt einfach zu wenig darüber, wie das Community-Management bei Telegram funktioniert und da die gesetzlichen Grundlagen, die haben wir ja in Deutschland dafür auch.
Musik nochmal rein
Sprecherin: Etliche Expertinnen und Experten, aber auch Politikerinnen und Politiker finden, die Regelungen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes sollten heute auch für Dienste wie Telegram gelten. Dann wäre die App wie eine Social-Media-Plattform gezwungen, gegen rechtswidrige Inhalte vorzugehen und darüber öffentlich Rechenschaft abzulegen. Schließlich ist die App viel mehr als ein Messenger-Dienst.
Musik raus
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