Herzog über seine Graffiti-Crew, türkische Freunde und Adrenalinkicks
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Ich hasse es, zu sagen, ich bin Ossi.
Ich finde es auch blöd, wenn man sagt, ich bin Wessi.
Scheiß auf Ost-Berlin.
Ich bin ein Wossi, ich verbinde irgendwie beides.
Das war mir immer relativ wichtig.
Ich bin der Herzog, Baujahr 1985.
Komme aus Berlin, bin hauptberuflich Musiker.
Vom Westen, was mich gestört hat, war diese westliche Arroganz.
Diese West-Berliner Arroganz hat mich immer gestört.
Das Beste, was ich aus dem Osten mitgenommen habe,
ist eine gewisse Bescheidenheit.
Ich bin zur Grundschule gegangen in der Adalbertstraße.
Einzugsgebiet Kotti.
Die 1., 2., 3. Klasse waren wir fast rein deutsch.
Erst ab der 3., 4. Klasse kamen die ersten Kosovo-Flüchtlinge.
Mit ihren Kindern.
Das war meine erste Begegnung mit Menschen mit Migrationshintergrund.
Ich habe nie hinterfragt, woher kommst du?
Welche Nation hast du?
Das spielt für Kinder überhaupt gar keine Rolle.
Bist du cool? Können wir miteinander Fußball spielen?
Versteht man sich? Stimmt die Chemie? Dann ist die Sache geritzt.
Ich hatte relativ zeitig die Pubertät erreicht.
Ersten Bart-Pflaum bekommen.
Habe mich zu den älteren Türken und Kurden hingezogen gefühlt.
Mir dann die Kokos-Pomade von denen in die Haare geschmiert.
Ich habe angefangen, immer einen Kamm dabei zu haben.
Die Transition von Grundschule zu Gymnasium,
das war schon eine krasse Umstellung.
Ich bin von einer gemischten Klasse
auf ein fast rein deutsches Gymnasium gekommen.
Natürlich hatte ich zu Beginn den Spitznamen "Der Türke" weg.
Ich hatte einen Schnurrbart, immer noch die Kokos-Pomade.
Immer noch den Kamm dabei.
Da gab es eine Sitzecke mit Couch.
Wir haben uns dort irgendwelche belegten Brötchen geholt.
Ich ziehe gerade wieder den Kamm aus meiner Tasche.
Schmiere mir die Pomade rein.
Dann kamen von irgendwelchen Mädels der Spruch, voll der Türke!
Irgendwas Beleidigendes.
Das war das erste Mal, wo mir das bewusst aufgefallen ist.
Hat mich irritiert, weil ich das nicht so kannte.
Weil für mich es normal war, so herumzulaufen.
Sich so zu geben.
Sachen, die man im Alltag standardmäßig dropped.
Das ist schnell aus meinem Wortschatz entfernt worden.
Weil es in der Situation nicht reingepasst hat.
Es hat mich nicht verletzt.
Aber dazu gebracht, den eigenen Stil etwas anzupassen.
Da wurde aus dem kleinen, deutschen Jungen,
der mit Türken und Kurden gechillt hat,
der sich in der Hinsicht angepasst hatte,
hinten heraus doch wieder der deutsche Junge.
Ende der Schulzeit habe ich jemanden kennengelernt,
der mich in die Welt des Graffitis hinein gebracht hat.
Mich seiner eigenen Crew vorgestellt hat.
Da bin ich in einer neuen Szene, einer neuen Welt gelandet.
Die sich mir vorher nicht erschlossen hatte.
Ich bin ziemlich schnell drin abgetaucht.
Habe mich kopfüber reingestürzt. Wildeste Sachen gemacht.
Auf Baustellen irgendwelche Farbeimer klauen.
Nachts 2.00 Uhr zur S-Bahn-Line gesteppt,
mit Farbrollern und Teleskopstangen
ein zwölf Meter langes und vier Meter hohes Bild gezimmert.
Wir sind durch U-Bahn-Schächte gebottet.
Dann weißt du, in 17 Minuten kommt die nächste U-Bahn.
Wir müssen schnell sein. Dann hast du dein Bild gezaubert, im Schacht.
Und bis durch den Notausstieg wieder hoch.
Graffiti-Ideologie oder -Philosophie
beruhte in der Crew auf dem Gruppenverband.
Diese Gruppen-Dynamik, das Loyalitätsverständnis.
Zusammen durch Dick und Dünn gehen.
Verschwiegen sein, wenn irgendwas mit Bullen ist.
Das schweißt schon alles ziemlich zusammen.
Das war der Punkt, wo ich zum 1.Mal begriffen habe,
ich bin jetzt Teil von etwas Größerem.
Das ist nicht nur Gelaber, hier wird wirklich Action gestartet.
Ich würde es so nicht noch mal machen.
Ich würde auch niemandem draußen empfehlen,
durch U-Bahn-Schächte zu gehen.
Da dann doch lieber auf das eigene Wohl und die Unversehrtheit achten.
Aber das war damals wichtig für mich,
um zu begreifen, was Leben ist, was lebendig sein bedeutet.
Dieser Nervenkitzel.
So frei wie in dieser Zeit habe ich mich nie wieder gefühlt.
Klar, ich habe einen anderen Status.
Ich habe meine Firmen, mich geschäftlich etabliert.
Aber du hast ganz andere Sorgen.
Du musst jetzt Rechnungen zahlen, Miete zahlen.
Diverse Leute sind von dir abhängig. Damals hattest du das nicht.
Das Adrenalin damals habe ich mir geholt durch U-Bahn-Schacht Actions.
Heute ist es mehr Body-Flying mit meiner Frau,
vor einem Auftritt halt.
Dieser Adrenalin-Rush, kurz bevor man auf die Bühne geht,
der ist auch sehr schön.
Aber das ist Routine, sobald der erste Satz auf der Bühne gesagt ist.
Aber ich bin immer noch ein kleiner Adrenalin-Junkie.
Ich brauche das immer noch.
Ich hole mir das heutzutage ein bisschen anders.
Auf legale Art und Weise.
* Abspannmusik *
Untertitel: ARDtext im Auftrag von Funk (2019)