Der Schatten über Innsmouth - Kapitel 3 – 06
Eine weitere Sache, die mich störte war die Abwesenheit eines Riegels an der Tür meines Zimmers. Es hatte sich dort einer befunden, wie Spuren klar zeigten, doch gab es Anzeichen, dass er kürzlich entfernt wurde. Zweifellos war er kaputt gegangen wie so viele andere Dinge in diesem heruntergekommenen Gebäude. In meiner Nervosität schaute ich mich um und entdeckte einen Riegel an der Kleiderpresse, der seinen Markierungen nach von der gleichen Größe wie jener, der an der Tür angebracht gewesen war. Um mir etwas Erleichterung von meiner allgemeinen Anspannung zu verschaffen, beschäftigte ich mich damit, dieses Teil mit Hilfe eines Multifunktionswerkzeuges an meinem Schlüsselbund, welches einen Schraubenzieher beinhaltete, zu dem freien Platz an der Tür zu versetzen. Der Riegel passte perfekt und ich war ein wenig erleichtert, als ich sicher war, dass ich ihn feste vorschieben können würde, wenn ich zu Bett ging. Nicht, dass ich wirkliche Besorgnis hegte, ihn zu benötigen, doch war mir in einer solchen Umgebung jedes Symbol der Sicherheit willkommen. Die beiden Türen zu den Nebenzimmern hatten angemessene Riegel, welche ich vorschob.
Ich zog mich nicht aus, sondern entschied mich, zu lesen bis ich müde war und mich dann hinzulegen und lediglich Mantel, Kragen und Schuhe abzulegen. Ich nahm eine Taschenlampe aus meiner Reisetasche und steckte sie in meine Hose um die Uhr lesen zu können, falls ich später im Dunkeln aufwachen sollte. Schläfrigkeit überkam mich jedoch nicht und als ich aufhörte, meine Gedanken zu zergliedern, fiel mir zu meiner Beunruhigung auf, dass ich in Wirklichkeit unbewusst nach etwas lauschte --- etwas, vor dem ich mich fürchtete, doch es nicht benennen konnte. Die Geschichte des Inspektors musste schlimmer auf meine Vorstellungskraft eingewirkt haben als ich erwartet hatte. Ich versuchte wieder zu lesen, doch kam damit nicht voran.
Nach einer Weile schien es mir als hörte ich die Treppen und Korridore wiederholt knarren als wie durch Schritte und ich fragte mich, ob die anderen Räume begannen, sich zu füllen. Da waren jedoch keine Stimmen und es war mir als hätte dieses Knarren etwas Verstohlenes. Mir gefiel dies nicht und ich erörterte ob ich überhaupt versuchen sollte, zu schlafen. Diese Stadt hatte einige merkwürdige Einwohner und es waren hier zweifellos schon ein paar Menschen verschwunden. War dies eines von jenen Gasthäusern wo Reisende ihres Geldes wegen umgebracht wurden? Sicherlich barg ich an mir nicht den Anschein übermäßigen Reichtums. Oder waren die Bürger so verärgert über neugierige Besucher? Hatten meine unübersehbare Besichtigungstour mit ihren häufigen Konsultationen meiner Karte unvorteilhaftes Aufsehen erregt? Mir fiel auf, dass ich in einem hochnervösen Zustand sein musste wenn durch ein zufälliges Knarzen solche Spekulationen in mir hervorrief --- doch ich bereute nichtsdestoweniger, dass ich nicht bewaffnet war.
Als mich endlich eine Erschöpfung überkam, die nichts an Schläfrigkeit in sich barg, verriegelte ich die neu ausgestattete Tür, schaltete das Licht aus und warf mich auf das harte, unebene Bettzeug, mit Kragen, Schuhen und allem. In der Dunkelheit schien jedes Geräusch verstärkt und eine Welle von gleich doppelt unbehaglichen Gedanken fegte über mich hinweg. Ich bedauerte, dass ich das Licht abgeschaltet hatte, doch war ich zu müde, aufzustehen und es wieder einzuschalten. Dann, nach einer langen, düsteren Zeitspanne, eingeleitet durch neuerliches Knarren von Treppe und Korridor, erklang jenes gedämpfte, unmissverständliche Geräusch, das wie eine unheilvolle Erfüllung aller meiner Befürchtungen schien. Ohne den leisesten Schatten eines Zweifels, versuchte jemand, das Schloss an meiner Zimmertür zu öffnen --- vorsichtig, heimlich, zaghaft --- mit einem Schlüssel.
Mein Aufsehen als ich dieses Zeichen tatsächlicher Gefahr wahrnahm, waren eher weniger stürmisch, wegen meiner vorangegangenen vagen Ängste. Ich war, obgleich ohne eindeutigen Grund, auf der Hut gewesen --- und dies war zu meinem Vorteil in dieser neuen und sehr wirklichen Notlage, welcher Natur sie auch immer sein möge. Nichtsdestotrotz war der Wechsel der Bedrohung von einer unklaren Vorahnung zur unmittelbaren Realität ein tiefgreifender Schock und traf mich mit der Macht eines echten Schlages. Es kam mir nicht einmal in den Sinn, dass das Tasten vielleicht ein schlichtes Versehen sein könnte. Eine bösartige Absicht war alles, an das ich denken konnte und ich verhielt mich totenstill, den nächsten Schritt des möglichen Eindringlings abwartend.
Nach einer Weile endete das vorsichtige Rütteln und ich hörte, wie der Raum zum Norden mit einem Schlüssel betreten wurde. Dann wurde das Schloss der Verbindungstür zu meinem Zimmer probiert. Der Riegel hielt natürlich und ich hörte den Boden knarren, als der Umherstreifende den Raum verließ. Einen Moment später erklang ein weiteres sanftes Rütteln und ich wusste, dass das Zimmer im Süden betreten worden war. Wieder wurde vorsichtig das Schloss der verriegelten Verbindungstür probiert und wieder gab es ein leiser werdendes Knarren. Diesmal ging das Knarzen entlang des Flures und die Treppe herab und ich wusste, der Eindringling hatte den verriegelten Zustand meiner Türen realisiert und hatte seinen Versuch auf kurz oder lang aufgegeben, wie es die Zukunft zeigen sollte.
Die Bereitwilligkeit mit der ich in einen Schlachtplan verfiel bewies, dass ich ihn unterbewusst zurechtgelegt haben musste, eine Bedrohung fürchtend und mögliche Fluchtwege seit Stunden erwägend. Von Anfang an spürte ich, dass der ungesehene Fremde eine Gefahr darstellte, auf die man nicht treffen oder es mit ihr zu tun bekommen, sondern vor der man so hastig wie möglich fliehen sollte. Das einzige was zu tun war, war so schnell wie möglich lebend aus dem Hotel zu entkommen und das auf einem anderen Weg als durch das Treppenhaus und die Lobby.
Leise aufstehend und schien meine Taschenlampe auf den Lichtschalter, um die Birne über meinem Bett einzuschalten und ein paar Habseligkeiten für eine schnelle Flucht ohne meine Reisetasche zusammenzusuchen und einzustecken. Es passierte jedoch nichts und ich musste feststellen, dass der Strom abgestellt worden war. Offenbar war hier ein groß angelegtes, rätselhaftes, böses Uhrwerk im Gange --- doch mehr konnte ich nicht ahnen. Als ich grübelnd dastand, die Hand noch auf dem nutzlosen Schalter, hörte ich ein gedämpftes Knarren im Stockwerk unter mir und glaubte, mit Mühe und Not Stimmen im Gespräch miteinander unterscheiden zu können. Einen Moment später war ich mir weniger sicher ob es sich bei den tieferen Lauten wirklich um Stimmen handelte, da das scheinbar heisere Gebell und dumpfe Quaken sowenig von bekannter menschlicher Sprache bargen. Dann dachte ich mit erneuter Macht daran, was der Fabrikinspektor in der Nacht in diesem zerfallenden, pesterfüllten Gebäude gehört hatte.
Nachdem ich meine Taschen im Licht der Taschenlampe gefüllt hatte, setzte ich meinen Hut auf und schlich auf Zehenspitzen an die Fenster um meine Möglichkeiten für einen Abstieg zu erkunden. Trotz staatlicher Sicherheitsvorschriften, gab es an der Seite des Hotels keine Feuerleiter und ich sah, dass von meinen Fenstern aus nur ein steiler Sturz über drei Stockwerke möglich war. Rechts und links grenzten jedoch ein paar uralte backsteinerne Geschäftsbauten an das Hotel, deren schräge Dächer in annehmbarer Sprungweite aus der Höhe des vierten Stocks lagen. Um eine dieser Gebäudezeilen zu erreichen, würde ich in ein Zimmer zwei Türen weit von meinem --- im einen Fall im Norden, im anderen im Süden gelangen müssen --- und mein Verstand machte sich sofort daran, zu berechnen welche Chancen ich wohl hätte, den Sprung zu schaffen.
Ich konnte, so entschied ich, es nicht riskieren, auf den Korridor hervorzutreten, wo meine Schritte sicherlich gehört werden würden und wo die Hindernisse, das gewünschte Zimmer zu betreten unüberwindbar sein würden. Mein Entkommen, sollte ich es überhaupt schaffen, würde durch die weniger solide gebauten Zwischentüren, die die Räume verbanden, führen müssen. Deren Schlösser und Riegel würde ich mit Gewalt aufzuzwingen haben indem ich meine Schulter als Rammbock gebrauchte, wo immer sie sich mir entgegensetzten. Dies würde, so dachte ich, durch die wacklige Natur des Hauses und seiner Einbauten möglich sein, doch mir wurde klar, dass ich dies nicht geräuschlos durchführen konnte. Ich würde auf bloße Geschwindigkeit zählen müssen und auf die Chance, ein Fenster zu erreichen, bevor irgendwelche feindseligen Kräfte koordiniert genug agieren würden um die richtige Tür vor mir mit einem Schlüssel zu öffnen. Meine eigene Zimmertür verstärkte ich indem ich die Kommode Stück für Stück dagegen schob um nur ein Minimum an Geräuschen zu verursachen.
Ich erkannte, dass meine Chancen sehr mager aussahen und war auf jede Katastrophe gefasst. Auch ein anderes Dach zu erreichen würde das Problem nicht lösen, denn es würde dann immer noch die Aufgabe bleiben, den Boden zu erreichen und aus der Stadt zu fliehen. Eine Sache die zu meinen Gunsten stand war der menschenleere und verfallene Zustand der angrenzenden Gebäude und die Anzahl an Dachluken, die in jeder Reihe schwarz aufklafften.