Kapitel 5 – Der wunderbare Brief - 02
Beim Hinausgehen wechselte der Advokat einige Worte mit Poole.
„Es wurde heute ein Brief hier abgegeben“, sagte er, „wie sah der Bote aus?“
Aber Poole wußte gewiß, daß alles nur durch die Post gekommen war und durch diese auch nur Empfehlungsschreiben.
Diese Auskunft erfüllte den Besucher von neuem mit Befürchtungen. Gewiß war der Brief durch die Tür des Laboratoriums gekommen, möglicherweise war er sogar in dem Kabinett geschrieben, und wenn dem so war, mußte die Angelegenheit anders angefasst und mit desto größerer Vorsicht behandelt werden. „Neueste Nachrichten, Ermordung eines Parlamentsmitglieds!“, riefen die Zettelträger auf den Straßen. Das war der Begräbnisschmuck eines Freundes und Klienten, und er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß auch der Name eines anderen mit in den Strudel dieser Wandelgeschichte gerissen würde. Es war wenigstens eine kitzliche Entscheidung, welche er zu treffen hatte, und selbstvertrauend wie er war, fing er an, sich nach einem guten Rat zu sehnen. Dieser war nicht so leicht zu finden, aber er konnte ihn doch suchen.
Bald nachher saß er mit Mr. Guest, seinem Vorgesetzten, am eigenen Herde, eine Flasche guten alten Weins, der lange tief verborgen im Keller seines Hauses gelegen, stand zwischen ihnen in einiger Entfernung vom Feuer. Der Nebel lagerte noch über der Stadt, und die Laternen leuchteten wie Feuerkugeln. Trotz dieser dampfigen Atmosphäre rollte das Leben und Treiben der Stadt wie gewöhnlich sich ab. Das Zimmer wurde durch das Feuer erhellt, die Farben der bemalten Fenster traten heller hervor, und die Sonne eines heißen Herbstnachmittags fing an, den Londoner Nebel zu zerstreuen. Allmählich wurde der Advokat mitteilsamer. Vor niemand hatte er weniger Geheimnisse als für Mr. Guest, wußte aber auch, daß dieser sie für sich behielt. Guest war oft in Geschäftsangelegenheiten bei dem Doktor gewesen, erkannte Poole, es war kaum möglich, daß er nicht gehört haben sollte, wie vertraut Mr. Hyde mit dem Hause gewesen war, daraus konnte er Vermutungen ziehen. War es nicht ebenso gut, wenn er ihm den Brief zeigte, der das Geheimnisvolle der Sache aufklärte? Und vor allen Dingen war Guest ein großer Kenner der Handschriften. Er konnte vielleicht den natürlichen und pflichtgemäßen Schritt leicht herausfinden. Außerdem war der Gelehrte ein guter Ratgeber, er würde kaum dieses seltsame Schriftstück sehen, ohne eine Bemerkung fallen zu lassen, und durch diese — dachte Mr. Utterson — würde ihm vielleicht sein künftiger Weg vorgezeichnet sein.
„Es ist eine traurige Sache mit Sir Danvers,“ sagte er.
„Ja, gewiß, es hat viel Aufsehen erregt,“ entgegnete Guest, „der Mensch war natürlich verrückt.“
„Ich würde gerne Ihre Ansicht darüber hören,“ erwiderte Utterson. „Ich habe hier ein Schriftstück von ihm; es bleibt unter uns, denn ich weiß kaum, was ich tun soll, es ist wenigstens eine sehr unangenehme Angelegenheit. Aber hier ist es, ganz nach Ihrem Geschmack: der Autograf eines Mörders!“
Guests Augen leuchteten, und er setzte sich sofort hin und studierte den Brief mit Leidenschaft. „Nein,“ sagte er, „verrückt ist er nicht, aber es ist eine merkwürdige Handschrift.“
„Und auf jeden Fall ist der Schreiber erst recht merkwürdig,“ fügte der Advokat hinzu.
Da kam gerade der Diener mit einem Billet.
„Ist das von Dr. Jekyll?“ forschte der Gelehrte. „Ich glaubte, die Handschrift zu erkennen. Ist es eine Privatangelegenheit, Mr. Utterson?“
„Nur eine Einladung zum Mittagessen. Weshalb wünschen Sie es zu sehen?“
„Einen Augenblick, ich danke Ihnen, Mr. Utterson,“ Und der Gelehrte legte die beiden Schreiben nebeneinander und verglich sie voller Eifer. Dankend gab er dann die beiden Schriftstücke zurück und setzte hinzu: „Ein sehr interessanter Autograf!“
Einen Augenblick kämpfte Mr. Utterson mit sich selbst. „Weshalb dieser Vergleich, Guest?“ forschte er dann plötzlich.
„Die Handschriften gleichen sich sehr, in manchen Punkten sind sie ganz ähnlich, nur verschieden gesenkt.“
„Etwas verstellt,“ meinte Utterson.
„Ja, Sie haben Recht, ein wenig verstellt.“
„Ich wollte von diesem Billet hier nicht sprechen, wie Sie wissen,“ sagte der Advokat.
„Nein, gewiss,“ sagte Guest, „ich verstehe das wohl.“
Aber kaum war Mr. Utterson in jener Nacht allein, als er das Schriftstück in seinen Geldschrank schloss, wo es von jener Zeit an ruhen blieb. Was, dachte er, Henry Jekyll fälscht für einen Mörder? Und bei dem Gedanken erstarrte ihm das Blut in den Adern.