Als Mutti in den Westen ging: Die verlassenen Kinder (2)
Die haben mir geholfen dabei.
Ich habe das dann für eine Fernsehproduktion gemacht.
Dadurch ist dann dieser Film entstanden.
Die verlassenen Kinder der DDR.
Unrecht, das in mehr als 30 gesamtdeutschen Jahren
kaum Beachtung gefunden hat.
Ich muss sagen, ich finde unmöglich, was da passiert ist.
Man darf nicht verallgemeinern.
Vielen Kindern ist es in den Heimen gutgegangen.
Das habe ich erfahren.
Aber dass die Eltern im Grunde nur für den "Goldenen Westen"
die Kinder einfach weggegeben haben!
Bei dem Thomas war es so:
Die Mutter war Säuferin hoch 3.
Durch den Sauerstoffmangel bei der Geburt war der Junge gehbehindert.
Und sie hat nicht mal den Mut besessen,
den Jungen selber abzugeben.
Sie hat ihren Freund gebeten, er soll den Jungen abgeben.
Der hat ihn auf den Schreibtisch gesetzt.
Man hat den Jungen allein gelassen und belogen.
Und so gibt's Hunderte von Fällen in der DDR.
Was muss im Leben schiefgelaufen sein,
um sein 5-jähriges Kind abzugeben, weil man es nicht mehr braucht?
Es allein zu lassen und jede emotionale Bindung zu kappen?
Von seiner leiblichen Mutter will Thomas nichts mehr wissen.
Für das, was sie ihm angetan hat, empfindet er nur Abscheu.
Wenn ich meine alte Mutti wiedersehen würde?
Ich würde ihr die Meinung sagen und vielleicht auf die Fresse schlagen.
Dazu ist es nie gekommen.
Auch 20 Jahre später hat sich die Mutter nie gemeldet.
Thomas ist im Leben angekommen.
Er studiert, wird Suchttherapeut.
Ich muss nicht für den Rest meines Lebens
Eltern, die mich verstoßen haben, in irgendeiner Form lieben.
Es besteht auch die Möglichkeit, neue Menschen kennenzulernen,
die auch wie Familie sind, aber eben nicht leibliche Eltern.
Und ... das ist schon ein Ansatz.
Den verfolge ich ein Stück weit durch meine eigene Geschichte.
Dass gerade junge Menschen eben lernen zu verstehen,
dass Familie viel ist, aber nicht alles.
Und so profitieren manchmal auch seine Patienten
von den persönlichen Erfahrungen ihres Therapeuten.
Thomas hat eigentlich einen vernünftigen Weg gemacht.
Jetzt muss ich doch mal petzen:
Als pubertierender Jugendlicher war es manchmal schwierig.
Die Gefährdungen, die es heute gibt, waren auch vorhanden.
Aber er fand den richtigen Weg und wurde Suchttherapeut.
Er hatte großes Glück und fand so eine tolle Frau.
Einmal musste er Kontakt zur leiblichen Mutter aufnehmen.
Da er nicht adoptiert ist,
benötigte er für den BAföG-Antrag ihre Daten.
Ich musste meine Mutter anrufen.
Und ... ja.
Was heißt "meine Mutter"?
Ist eigentlich der falsche Begriff.
Da ertönte eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
Wo bei mir nur noch das Gefühl war von:
"Oh mein Gott", erschrocken sein.
Also, es hatte einen ... Ausdruck von ...
Asozialität, wo ich mir gedacht habe:
"Bin ich froh, nicht bei ihr groß geworden zu sein."
Nun will er sich von seiner Pflegemutti adoptieren lassen.
Sonst könnte er an möglichen Pflegekosten
seiner leiblichen Mutter beteiligt werden.
Das ehemalige Kinderheim Fritz Weineck in Berlin-Friedrichsfelde.
Im November '89 spielt sich auch hier eine Tragödie ab.
Es wird zur Auffangstation für 3 weitere Geschwister.
Verlassen von einer Mutter,
die den Westen wohl verheißungsvoller fand.
Wie heißt du denn?
Steve.
Steve ist 5.
Sein Bruder Mark.
Er fühlt sich jetzt verantwortlich für seine Geschwister.
Der Jüngste: Martin.
3 Jahre alt.
Seit er im Heim ist, ist er still geworden.
Erst langsam gelingt es den Erzieherinnen,
Vertrauen bei ihm zu wecken.
Er leidet am meisten unter der Trennung von seiner Mutter.
Wenige Tage nach der Maueröffnung.
Die Volkspolizei entdeckt die Geschwister
in einer Wohnung in Prenzlauer Berg.
Wie lange sie allein waren, konnte nicht festgestellt werden.
Irgendwann machten sie sich bemerkbar, weil sie Hunger hatten.
Das Klinikum Buch, am Rande Berlins.
Die verwahrlosten Kinder benötigten zunächst medizinische Versorgung.
Wir haben Anfang November, am 12.11.,
ein fast 5-jähriges Kind eingewiesen bekommen.
Über das Referat Jugendhilfe.
Mit einer infektiösen Hauterkrankung und Durchfall.
Wobei uns mitgeteilt wurde, dass dieses Kind
von der alleinstehenden Mutter zu Hause alleingelassen wurde.
Und die Mutter soll die Republik verlassen haben.
Sie sei nicht mehr auffindbar.
Normalerweise gehen dann solche Kinder
in ein Dauerheim, in ein Pflegeheim.
Dieses Kind war infektiös und hatte eine bakterielle Hauterkrankung.
So wurde es zu uns zur Sanierung eingewiesen.
Kurze Zeit später, am 29., kam das 2. Geschwister dieser Familie
mit einer Durchfallerkrankung.
Die Mutter hat sich wohl bereits drei Tage nach dem Mauerfall
nach Westberlin abgesetzt.
Ihren Kindern machte sie zum Abschied falsche Versprechungen.
Mutti ist sonnabends, abends halb 12, losgegangen.
Und kam ... und kam ...
Hat uns dann auch noch einen Zettel geschrieben.
Und da stand drauf, wo die Sachen liegen.
Und es stand auch noch drauf, dass sie uns was mitbringt.
Hat sie uns noch ein bisschen Frühstück auf den Schrank gelegt.
War aber nur ...
Waren acht Stullen. Haben wir alle gegessen.
Mein Bruder hat 3 Eier alleine aufgegessen.
Steve weiß, wo seine Mutter ist.
Westberlin.
Und jetzt bin ich nur alleine.
Die kommt nie mehr wieder.
Ich bin dageblieben.
Zuerst kam bei mir die Polizei.
Die hat mich abgeholt.
Und nach einer Weile haben sie meine beiden Bruders abgeholt.
Brüder abgeholt.
Wusstet ihr, wo eure Mutter war?
Äh, drüben.
In Westberlin? Mhm.
Hat sie gesagt, dass sie wiederkommen will?
Dass sie drüben bleibt?
Na ja, sie hat auf den Zettel geschrieben,
sie kommt heute wieder.
Also nicht heute, sondern am Sonnabend.
Und dann hat sie noch geschrieben, dass sie uns was mitbringt.
Man geht davon aus, dass sich die Mütter Strafen entziehen wollten.
Immerhin waren es damals noch 2 deutsche Staaten.
Eine Wiedervereinigung längst nicht in Sicht.
Wir sind unheimlich daran interessiert,
dass man die Eltern auffindet.
Dass man den Aufenthaltsort der Eltern herausbekommt.
Und die Eltern zur Verantwortung zieht.
Und wenn es sein muss, strafrechtlich begeht.
* ruhige Musik *
So etwas kann man eigentlich, wenn man ein Gewissen hat,
als Mensch nicht vereinbaren.
Es sind fast immer alleinstehende Frauen,
die sich zu so einem Schritt entschließen.
Auch vor dem Fall der Mauer haben sich Mütter abgesetzt.
Manche Kinder werden in der Wohnung zurückgelassen.
Andere Mütter töten ihre Kinder.
Häufig ist Hilflosigkeit der Auslöser.
Nicht selten folgt ein gescheiterter Suizid.
In der DDR ein Tabuthema.
Das Frauengefängnis Hoheneck im sächsischen Stollberg.
Im Januar 1990 sitzen hier 100 Mörderinnen ein.
Allein 80 von ihnen haben ihre Kinder umgebracht.
* Radiomusik: "One Way Ticket" *
Seit der Wende dürfen die Gefangenen in der Anstalt Musik hören.
"One way ticket" - es gibt keinen Weg zurück.
Für Kindstötung gibt es meist lebenslänglich.
Das Rechtssystem der DDR ist anders
als die politische Theorie.
Umfeld und Gesellschaft wird nie eine Mitschuld gegeben.
Tödliches Ende einer Familientragödie auch in diesem Fall.
Die Mutter ließ ihre Tochter in der Wohnung.
Das Kind ist verhungert.
Wie kommen Sie heute damit klar?
Gar nicht, wenn ich ehrlich bin.
Ich hing doll an meiner Tochter.
Ich war immer mit ihr alleine.
Mein Verlobter arbeitete damals in der SU.
Er wäre durchaus fähig gewesen, mir damals zu helfen.
Was geldmäßig alles anbelangte.
Meine Arbeit musste ich aufgeben.
Ich wohnte zuerst mit meinem geschiedenen Mann zusammen.
Der schlug mich, auch während der Ehe, daher die Scheidung.
Er hat viel getrunken.
Ich konnte meine Tochter nicht ins Bett bringen.
Da gab ich die Arbeit auf.
Nach circa 3 Monaten hatte ich eine Wohnung.
Da wollte ich neue Arbeit haben,
stellte aber eine neue Schwangerschaft fest.
Da hat mich keiner genommen.
In ihrer Verzweiflung verließ sie ihre Tochter.
Ich bin nicht mit dem Gedanken weggegangen von zu Hause:
Jetzt lasse ich sie da und gehe nie wieder zurück.
War keine Absicht. Ihre Tochter ist verhungert.
Verhungert und ...
Na ja, es war zu kalt in der Wohnung nachher auch.
Ich hatte an dem Tag noch, mehr hatte ich ja nicht,
Brötchen und Wasser stehen lassen.
Und ...
Am 30. November, also nicht ganz einen Monat später,
fuhr ich durch Zufall zu meinem Verlobten.
Dort stellte ich fest, dass meine Tochter nicht da ist.
Daraufhin bin ich in die Wohnung gefahren.
Für mich war jetzt klar, vom 8. November bis zum 30. November ...
dass meine Tochter verhungert sein muss.
Ich ging nicht ins Zimmer, nur kurz in die Wohnung,
habe Schuhe geholt.
Hatte nur im Sinn, mich auch zu töten.
Bestraft werden für solche Taten immer nur die Frauen.
Auch wenn sie nicht allein schuld sind.
Die Umstände werden kaum berücksichtigt.
Zumindest in der DDR hat man es sich da einfach gemacht.
Gedanken einer Anstaltsleiterin.
Manche Frauen haben wegen ihrer Familienverhältnisse
Bedingungen vorgefunden, die sie zu so einer Tat ...
Die wirklich die Tat mit beeinflusst haben.
Das sollte man nicht außer Acht lassen.
Man sollte auch dort die moralische Schuld beim Ehemann suchen.
Aber sie sitzt im Strafvollzug, nicht der Ehemann.
* leises Surren *
* nachdenkliche Musik *
Herbst 1990.
Ein knappes Jahr ist es nun her,
dass Martin, Steve und Mark von der Mutter verlassen wurden.
Sie hat sich noch nicht gemeldet.
Seit dem Mauerfall ist sie verschwunden.
Die Brüder sind weiterhin im Kinderheim.
Martin, der Jüngste, muss sich nun allein anziehen.
Einmal am Tag ist Martin glücklich.
Da trifft er seinen Bruder im Waschraum wieder.
Der ist zwei Jahre älter
und wohnt deshalb auf einer anderen Etage.
* Kichern *
Mark ist der Älteste der drei Brüder.
Ich will meine Mutti auch mal anrufen.
Aber ich weiß die Nummer nicht.
Und auch mal schreiben.
Da weiß ich aber keine Adresse.
Ich weiß nicht, wo sie ist.
Und ...
Manchmal abends denke ich an Mutti.
Eigentlich vermisse ich Mutti.
Nachts, wenn alles schläft im Heim, liegt Mark noch lange wach.
Dann sucht er eine Erklärung für das Unerklärliche.
Eine Antwort hat er bisher nicht gefunden.
Viele dieser Eltern haben sich ein süßes Leben im Westen gemacht.
Fernab einer Strafverfolgung im Nachbarland DDR.
Einige sollen aus dieser Tat auch noch Kapital geschlagen haben.
Diese Eltern haben sich überhaupt nicht gekümmert.
Die haben sogar noch Kindergeld zum Teil bezogen,
weil ja ihre Kinder im Ausweis standen.
Dann haben die Eltern vorgelogen, sind bei meiner Mutter oder Tante.
Dann haben die Sozialämter einfach Kredite ausgezahlt,
Sozialhilfe gegeben.
Die Banken gaben Eingliederungshilfe von 6.000 Mark.
Die machten sich ein schönes Leben.
Die Kinder wurden nicht rausgenommen.
Die ließen die brutal im Heim.
Unmöglich so was.
Das ist ein Verbrechen.
Die Eltern müssten heute bestraft werden.
Auch Andreas wird in einem Erfurter Heim abgegeben.
Seine Mutter, die ihn als Baby adoptierte,
ging nach Niedersachsen.
Seinen Bruder nahm sie mit.
Für den 12-Jährigen aber war in ihrem Leben kein Platz mehr.
Ich bin ein halbes Jahr hier.
Als ich bei meinem Vater war, erfuhr ich,
dass meine Mutter im Westen ist.
Mit meinem Bruder. Erst habe ich das nicht gedacht.
Dann sah ich, dass meine Mutter mir ein Paket geschickt hat.
Und da sah ich die Adresse.
Wie fühlst du dich hier im Heim?
Ach, gut. Ich fühle mich gut.
Ich habe viele Freunde gefunden.
In der Schule klappt es nicht so gut.
Und ...
Einiges im Heim finde ich nicht gut.
Dass viel gestohlen wird.
Dass vieles kaputtgemacht wird.
Und die meisten Erzieher handeln nicht so.
Und ...
Wenn man den Erziehern mal was sagt, handeln die gar nicht darauf.
Erklärungsversuche eines ratlosen Kindes.
Ich habe darüber nachgedacht.
Warum meine Mutter mich alleingelassen hat.
Einmal bin ich dazu gekommen.
Da dachte ich, ich wüsste es.
Aber ich weiß nicht, ob es das Richtige ist.
Da überlege ich jeden Tag immer noch.
Ich weiß noch immer nicht, ob es das Richtige ist.
Soll deine Mutti dich abholen?
* gefühlvolle Musik *
* Stimmen von draußen *
Mithilfe der Behörden in Ost- und Westdeutschland
kann Andreas' Mutter gefunden werden.
In einem Dorf in der Nähe von Celle.
Die Frau wohnt zur Untermiete, ist arbeitslos.
Auch sie bezieht Sozialhilfe.
Reporter Eberhard Weißbarth, der als Kind in einem Heim war,
will erreichen, dass die Mutter Andreas wieder zu sich nimmt.
Guten Tag. (Kind) Hallo.
Was hat die Frau bewogen, so einen Schritt zu gehen?
Eines ihrer Kinder allein in der DDR zurückzulassen.
Als sie den Hilferuf ihres Jungen auf Video sieht,
ist ihr Verhalten verblüffend.
"Ich bin ein halbes Jahr hier.
Als ich bei meinem Vater war, erfuhr ich,
dass meine Mutter im Westen ist."
Der kleine Bruder kann seine Tränen nicht zurückhalten.
Ihm fehlt Andreas.
(Video) "Soll deine Mutti dich abholen?"
Ja, Andreas.
Das mache ich auch nicht und hole dich ab.
Du weißt auch ganz bestimmt, warum.
Denn du wolltest mich ja nicht mehr sehen.
Du hast ja gesagt zu mir: