Der Schatten über Innsmouth - Kapitel 4 – 02
Als mein Onkel langsam und widerwillig begann, die Stücke auszuwickeln, bat er mich, nicht schockiert zu sein ob der Fremdartigkeit und häufigen Hässlichkeit der Formen. Die Handwerkskunst war von Künstlern und Archäologen als überragend und exquisit exotisch beurteilt worden, doch niemand konnte das genaue Material bestimmen oder sie irgendeiner speziellen Kunsttradition zuordnen. Da waren zwei Amulette, eine Tiara und eine Art Pektorale, welches im Hochrelief diverse Figuren von nicht auszuhaltender Extravaganz darstelle.
Während dieser Beschreibung hielt ich meine Emotionen fest im Zaum, doch muss mein Gesicht meine wachsende Furcht verraten haben. Mein Onkel schaute betroffen und hielt im Auswickeln inne um meine Miene zu studieren. Ich gab ihm ein Zeichen, fortzufahren und er tat dies noch zögerlicher als zuvor. Er schien irgendeinen Protest zu erwarten, doch ich bezweifle, dass er mit dem, was nun wirklich passierte gerechnet hatte. Ich hatte damit auch nicht gerechnet, denn ich dachte, ich sei sorgfältig vorgewarnt, wie der Schmuck aussehen würde. Ich fiel lediglich leise in Ohnmacht, wie ich es im Jahr zuvor in dem von Sträuchern überwucherten Bahnkanal getan hatte.
Seit diesem Tag ist mein Leben ein Alptraum voller Grübelei und Sorge und ich weiß auch nicht, was davon grässliche Wahrheit ist und was Wahnsinn. Meine Urgroßmutter war eine Marsh unbekannter Herkunft deren Ehemann in Arkham lebte --- und hatte nicht der alte Zadok erzählt, dass die Tochter von Obed Marsh und einer abscheulichen Mutter durch einen Trick an einen Mann aus Arkham verheiratet wurde? Was war es, das der alte Säufer über die Ähnlichkeit meiner Augen zu denen von Käpt'n Obed gemurmelt hatte? Auch in Arkham hatte der Kurator mir erzählt, ich hätte die echten Marsh-Augen. War Obed Marsh mein leibhaftiger Ur-Urgroßvater? Wer --- oder was --- war dann meine Ur-Urgroßmutter? Doch vielleicht war all dies Wahnsinn. Jene weiß-goldenen Ornamente könnten auch leicht durch den Vater meiner Urgroßmutter, wer immer er war, von einem Seemann aus Innsmouth gekauft worden sein. Und der Blick in den starräugigen Gesichtern meiner Großmutter und dem Onkel, der den Freitod gewählt hatte, könnten bloße Einbildung meinerseits sein --- bloße Einbildung, bestärkt durch den Schatten von Innsmouth, der meine Vorstellungskraft so dunkel färbte. Doch warum hatte mein Onkel sich umgebracht nach einer Untersuchung seiner Vorfahren in Neuengland?
Für mehr als zwei Jahre wehrte ich diese Betrachtungen mit mäßigem Erfolg ab. Mein Vater beschaffte mir eine Position in einem Versicherungsbüro und ich vergrub mich so tief wie möglich in Routine. Im Winter von 1930-31 jedoch begannen die Träume. Sie kamen anfangs spärlich und schleichend, doch erhöhte sich ihre Häufigkeit und Klarheit während die Wochen vergingen. Große, feuchte Orte eröffneten sich mir und ich schien durch gigantische, versunkene Säulenhallen zu schreiten und durch Labyrinthe aus seegrasbewachsenen zyklopischen Wänden mit grotesken Fischen als Begleitern. Dann tauchten die anderen Gestalten auf und erfüllten mich mit namenlosem Schrecken im Moment meines Erwachens. Doch in meinen Träumen schockierten sie mich überhaupt nicht --- ich war eins mit ihnen, trug ihren unmenschlichen Putz, schritt auf ihren wässrigen Wegen und betete ungeheuerlich in ihren bösen Tempeln am Meeresgrund.
Da war viel mehr als meine Erinnerung zuließ, doch selbst das, dessen ich mich morgens erinnern konnte wäre genug um mich als Verrückten abzustempeln oder als Genie, wenn ich je gewagt hätte, es aufzuschreiben. Ich fühlte, dass ein fürchterlicher Einfluss nach und nach versuchte, mich aus meiner normalen Welt erbaulichen Lebens in unnennbare Abgründe voll Schwärze und Fremdartigkeit zu ziehen und der Prozess hinterließ schlimme Spuren an mir. Meine Gesundheit und mein Aussehen litten immer schwerer bis ich letztendlich gezwungen war, meinen Posten aufzugeben und das stationäre, abgeschiedene Leben eines Pflegefalles anzunehmen. Ein seltsames Nervenleiden hatte mich in seinem Griff und ich fand, dass es mir manchmal unmöglich war, die Augen zu schließen.
Es war zu dieser Zeit, dass ich begann, mit wachsender Sorge den Spiegel zu studieren. Die schleichende Verheerung der Krankheit ist nicht angenehm zu beobachten, doch in meinem Fall lag etwas subtileres und rätselhafteres dahinter. Mein Vater schien es ebenfalls zu bemerken, denn er begann, mich neugierig und fast mit Schrecken anzuschauen. Was ging in mir vor? Konnte es sein, dass ich anfing, meiner Großmutter und Onkel Douglas ähnlich zu sehen?
Eines nachts hatte ich einen unheimlichen Traum in dem ich meine Großmutter unter dem Meer traf. Sie lebte in einem phosphoreszierenden Palast mit vielen Terrassen und Gärten von seltsamen, absonderlichen Korallen und grotesken, verzweigten Ausblühungen und hieß mich mit einer Wärme willkommen, der vielleicht auch Süffisanz innewohnte. Sie hatte sich verändert --- wie diejenigen, die es zum Wasser zieht sich verändern --- und hatte mir erzählt, dass sie nie gestorben sei. Viel mehr war sie an einen Ort gezogen, von dem ihr Sohn ebenfalls erfahren hatte und entflohen in ein Reich, dessen Wunder --- ihm ebenfalls bestimmt --- er mit einer rauchenden Pistole verschmäht hatte. Dies sollte ebenfalls mein Reich sein --- ich konnte dem nicht entkommen. Ich würde nie sterben, sondern mit denen zusammenleben, die schon lebten bevor je ein Mensch auf Erden schritt.
Ich traf auch auf das, was ihre Großmutter gewesen war. Achtzigtausend Jahre lang hatte Pth'thya-l'yi in Y'ha-nthlei gelebt und dorthin war sie nach dem Tode von Obed Marsh zurückgekehrt. Y'ha-nthlei war nicht zerstört worden als die Menschen von der oberen Erde Tod in die See feuerten. Es wurde beschädigt, aber nicht zerstört. Die Tiefen Wesen können niemals zerstört werden, auch wenn die paläogene Magie der vergessenen Großen Alten ihnen manchmal Einhalt gebot. Im Augenblick würden sie ruhen, doch eines Tages, wenn sie sich entsannen, würden sie sich erheben zum Tribut, den der Große Cthulhu verlangte. Es würde beim nächsten Mal eine Stadt größer als Innsmouth sein. Sie hatten geplant, sich auszubreiten und hatten heraufgebracht, was ihnen dabei half, doch nun mussten sie wieder warten. Weil ich die Menschen der oberen Erde mit ihrem Tod brachte, muss ich Buße tun, doch die wird nicht schwer sein. Dies war der Traum in dem ich zum ersten Mal einen Shoggoth sah und jener Anblick ließ mich hellwach aufschrecken in einer Raserei aus Schreien. An jenem morgen sagte mir der Spiegel endgültig, dass ich das Innsmouth-Aussehen angenommen hatte.
Bis jetzt habe ich mich noch nicht erschossen, wie es mein Onkel Douglas getan hat. Ich habe eine halbautomatische Pistole gekauft und beinahe den Schritt getan, doch gewisse Träume brachten mich davon ab. Die angespannten Extreme des Schreckens lassen nach und ich fühle mich seltsam hingezogen zu den unbekannten Tiefen anstatt sie zu fürchten. Ich höre und tue merkwürdige Dinge im Schlaf und erwache mit einer Art Hochgefühl anstatt in Schrecken. Ich glaube nicht, dass ich die komplette Veränderung abwarten muss, wie die meisten sie erwartet haben. Wenn ich es täte, würde mich mein Vater vermutlich in eine Nervenklinik sperren, so wie mein armer kleiner Cousin eingesperrt ist. Gewaltige und ungekannte Pracht erwartet mich dort unten und ich werde sie bald suchen. Ia-R'lyeh! Cthulhu fhtagn! Ia! Ia! Nein, ich werde mich nicht erschießen --- man kann mich nicht dazu bringen, mich zu erschießen!
Ich werde die Flucht meines Cousins aus jenem Irrenhaus in Canton planen und zusammen werden wir ins von Wundern überschattete Innsmouth gehen. Wir werden zu dem unheimlichen Riff hinaus schwimmen und den schwarzen Abgrund ins zyklopische und säulengesäumte Y'ha-nthlei hinab tauchen und im Versteck der Tiefen Wesen werden wir in mitten von Wunder und Pracht verweilen bis in alle Ewigkeit.