Elftes Kapitel - Der Mann auf der Felsspitze - 03
Die Entfernung betrug mehrere Meilen, aber ich konnte ganz deutlich auf dem dunkelgrauen und grünen Grund einen schwarzen Fleck sich abheben sehen.
»Kommen Sie, kommen Sie!« rief Frankland und rannte dabei die Treppe hinauf. »Sie sollen mit Ihren eigenen Augen sehen und selber urteilen.«
Das Fernrohr, ein riesiges Instrument auf einem dreibeinigen Gestell, stand auf dem flachen Dach des Hauses. Frankland legte das Auge an das Glas und stieß einen Schrei der Genugtuung aus.
»Schnell, Doktor Watson, schnell! Sonst verschwindet er hinter dem Hügel.«
Richtig, da ging ein Junge mit einem kleinen Bündel auf der Schulter. Er stieg langsam den Hügel hinauf, und als er oben war, sah ich einen Augenblick lang die zerlumpte Gestalt sich gegen den kalten blauen Himmel abheben. Er sah sich mit vorsichtig um, wie einer, der verfolgt zu werden fürchtet. Dann verschwand er jenseits des Hügels.
»Na, hab' ich recht?«
»Jedenfalls ging da ein Junge, der irgend eine geheime Besorgung zu machen scheint.«
»Und was das für eine Besorgung ist, das könnte sogar ein Grafschaftspolizist erraten. Aber kein Wort sollen sie von mir darüber erfahren, und ich verlange auch von Ihnen Verschwiegenheit, Doktor Watson. Kein Wort! Verstehen Sie?«
»Ganz wie Sie wünschen.«
»Sie haben mich schändlich behandelt – schändlich! Wenn im Prozeß Frankland gegen Reginam die Tatsachen ans Licht kommen, so wird – das darf ich wohl annehmen – ein Schrei der Entrüstung durchs Land gehen! Nichts könnte mich dazu bringen, der Polizei in irgendeiner Weise beizustehen. Die hätte ja ruhig mit angesehen, wenn ich selber anstatt meines Abbildes von den Schurken da auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden wäre … Aber Sie gehen doch nicht schon? Sie werden mir doch noch helfen, zu Ehren dieses großen Anlasses die Karaffe zu leeren?«
Aber ich blieb allen Einladungen gegenüber standhaft und schließlich gelang es mir auch, ihn von seiner Absicht abzubringen mich nach Baskerville Hall zu begleiten. So lange er mir noch mit dem Auge folgen konnte, blieb ich auf der Straße; dann aber bog ich vom Weg ab in das Moorland hinein und schritt auf den Felsenhügel zu, auf dessen Kuppe der Junge verschwunden war. Alle Umstände hatten sich zu meinen Gunsten gewandt, und ich schwor mir selber, wenn der glückliche Zufall mir keinen Erfolg brächte, so sollte dies jedenfalls nicht am Mangel an Tatkraft oder Ausdauer von meiner Seite liegen.
Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, als ich den Gipfel des Hügels erreichte, und die langgestreckten Schluchten zu meinen Füßen glänzten auf der einen Seite in goldigem Grün und waren auf der anderen in graue Schatten gehüllt.
Aus dem Nebelstreifen, der in der Ferne den Horizont verbarg, ragten die phantastisch geformten Umrisse des Belliver und des Vixen Tor hervor. Auf der ganzen weiten Fläche kein Laut, keine Bewegung. Ein großer grauer Vogel, eine Möwe oder ein Brachvogel, schwebte hoch über mir in der blauen Luft. Er und ich schienen die einzigen lebenden Wesen zwischen dem Riesengewölbe des Himmels und der weiten Wüste zu sein. Die traurige Landschaft, das Gefühl der Einsamkeit, das Geheimnisvolle und Dringliche meiner Aufgabe – dies alles ergriff mein Herz mit einem kalten Schauer. Der Junge war nirgends zu sehen. Aber tief unter mir in einer Schlucht war ein Kreis der alten Steinhütten, und in ihrer Mitte bemerkte ich eine, die noch hinreichend gut erhalten war, um gegen die Unbilden des Wetters Schutz bieten zu können. Das Herz klopfte mir, als ich sie sah. Dies mußte das Versteck sein, worin der Fremde hauste. Endlich berührte mein Fuß die Schwelle seiner Zufluchtsstätte – sein Geheimnis lag greifbar vor mir.
Vorsichtig näherte ich mich der Hütte – ich mußte an Stapleton denken, wenn er sich mit seinem Netz an den Schmetterling heranschlich, der sich auf einer Pflanze niedergelassen – und ich bemerkte mit Befriedigung, daß die Stätte wirklich als Wohnung benutzt wurde. Ein kaum sichtbarer Fußweg führte zwischen den Granitblöcken hindurch zu dem verfallenen Eingang der Hütte. Drinnen war alles still. Vielleicht hielt der Unbekannte sich dort versteckt, vielleicht aber streifte er auf dem Moor umher. Erregung und Abenteuerlust hielten meine Nerven auf das höchste gespannt. Ich warf meine Zigarette weg, umspannte mit der Faust den Kolben des Revolvers und ging schnellen Schrittes auf die Tür zu. Ich sah hinein. Der Raum war leer.
Es gab jedoch Anzeichen in Hülle und Fülle dafür, , daß ich nicht auf der falschen Fährte war. Ganz sicher mußte der Mann hier wohnen. In einen wasserdichten Regenmantel eingewickelt lagen mehrere Wolldecken auf der Steinplatte, die schon den Heiden der Vorzeit als Schlummerstätte gedient hatte. Auf einem primitiven Feuerrost lag ein Haufen Asche. Daneben bemerkte ich einige Küchengeräte und einen halbvollen Wassereimer. Eine Anzahl aufeinander geworfener leerer Konservenbüchsen bewiesen mir, daß die Hütte schon seit einiger Zeit bewohnt sein müsse, und als meine Augen sich erst an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah ich in der Ecke eine Pfanne und eine angebrochene Flasche Branntwein.
Mitten im Raum lag ein flacher Stein, der als Tisch diente, und auf diesem lag, in ein Tuch eingewickelt, ein kleines Bündel – ohne Zweifel dasselbe, das ich durch das Fernrohr auf der Schulter des Jungen bemerkt hatte. Es enthielt einen Laib Brot, eine Büchse mit Zunge und zwei Dosen mit eingemachten Pfirsichen. Ich prüfte alle diese Gegenstände sorgfältig, und als ich sie wieder hinlegte, bemerkte ich plötzlich mit Herzklopfen, daß unter dem Bündel ein Blatt Papier lag, worauf etwas geschrieben war. Ich nahm es in die Hand und las folgende Worte, die in unbeholfenen Zügen mit Bleistift gekritzelt waren:
›Doktor Watson ist nach Coombe Tracey gefahren.‹
Eine Minute lang stand ich, das Papier in der Hand haltend, regungslos da. Was bedeutete diese kurze Botschaft? So war ich es also und nicht Sir Henry, der von diesem geheimnisvollen Mann belauert wurde? Er war mir nicht selber gefolgt, sondern hatte einen Agenten – vielleicht den Jungen – auf meine Spur gesetzt, und dies war der Bericht. Vielleicht hatte ich seit meiner Ankunft auf dem Moor keinen einzigen Schritt getan, der nicht beobachtet und berichtet worden war. Immer wieder drängte sich mir das Gefühl auf, daß eine unsichtbare Macht uns umgab, daß mit außerordentlicher Geschicklichkeit und Sorgfalt ein feines Netz um uns gesponnen wurde – ein so leichtes und feines Netz, daß wir uns nur in gewissen, entscheidenden Augenblicken bewußt wurden, in seine Maschen verstrickt zu sein.
Wenn der Fremde einen Bericht bekommen hatte, so mochten wohl deren mehrere vorhanden sein. Aber ich fand nicht die allergeringste Spur davon. Ebensowenig entdeckte ich irgend ein Anzeichen, woraus ich auf den Charakter oder die Absichten des Mannes hätte schließen können, der sich eine so ungewöhnliche Wohnung ausgesucht hatte. Nur so viel ergab sich klar und deutlich, daß er ein Mann von spartanischen Lebensgewohnheiten sein mußte, und daß er sich aus bequemer Häuslichkeit wenig machte. Wenn ich an die schweren Regengüsse der letzten Zeit dachte und mir die klaffenden Lücken der Bedachung ansah, so konnte ich mich der Überzeugung nicht verschließen, daß nur eine starke und unerschütterliche Willenskraft ihn vermögen konnte, an einem so unwirtlichen Platz zu bleiben. War er unser erbitterter Feind oder etwa unser Schutzengel? Ich nahm mir fest vor, die Hütte nicht eher zu verlassen, als bis ich mir darüber Klarheit verschafft hatte.
Draußen ging gerade die Sonne unter, und über den westlichen Himmel ergoß sich eine Glut von Rot und Gold. Ihr Widerschein lag in rötlichen Flecken auf den Wasserlachen im fernen, großen Grimpener Sumpf. Ich sah die beiden Türme von Baskerville Hall, und eine undeutliche Rauchsäule zeigte mir den Ort an, wo das Dorf Grimpen lag. Zwischen diesen beiden Punkten, hinter dem Hügel, sah ich das Stapletonsche Haus. So sanft und friedlich lag das alles da in der goldenen Abendsonne, und doch, als mein Blick darüber schweifte, da fühlte meine Seele nichts von dem Frieden der Natur, sondern sie erbebte nur in einem unbestimmten Grauen vor dem Zusammentreffen, das jede Minute näher rückte. Aufgeregt, aber fest entschlossen, saß ich im finsteren Versteck der Hütte und erwartete mit düsterer Geduld die Heimkehr ihres Bewohners.
Endlich hörte ich ihn. Ein scharfes Klappen von einem Stiefel, der fest auf den Felsgrund auftrat. Und noch ein Klappen und wieder und wieder eins, näher und immer näher. Ich zog mich ganz in die dunkelste Ecke zurück und spannte den Revolver in meiner Tasche, fest entschlossen, meine Anwesenheit nicht eher zu verraten, als bis es mir gelungen war, einen Blick auf den Fremden zu werfen. Dann kam eine lange Pause; ich hörte nichts mehr – offenbar war er stehen geblieben. Dann kamen wieder die Fußtritte näher, und ein Schatten fiel quer über die Türöffnung.
»Es ist ein schöner Abend, mein lieber Watson,« sagte eine wohlbekannte Stimme. »Ich glaube wirklich, du sitzt hier draußen angenehmer als drinnen.«