Kapitel 9 - Dr. Lanyons Bericht - 03
Mit einiger Anstrengung stand ich von meinem Platze auf und gab ihm das Verlangte.
Er dankte mir mit freundlichem Kopfnicken, maß einige Grade der roten Tinktur ab und fügte eines der Pulver hinzu. Die Mischung, welche zuerst von rötlicher Farbe war, wurde, als die Kristalle schmolzen, intensiver und brauste dann plötzlich dampfend auf. Einen Augenblick darauf legte sich die Aufwallung und machte einer schönen purpurroten Farbe Platz, die sich allmählich in wässriges Grün verlief. Mein Gast, der diesen Verwandlungen mit aufmerksamen Augen gefolgt war, lächelte, setzte das Glas auf den Tisch, wandte sich zu mir um und sah mich prüfend an.
„Und nun,“ sagte er, „bleibt mir noch eines übrig. Wollen Sie Weisheit lernen? Wollen Sie sich belehren lassen? Wollen Sie mich mit diesem Glase in der Hand, ohne ein Wort zu verlieren, aus dem Hause gehen lassen? Oder hat die Neugierde schon zu viel Macht über Sie gewonnen? Überlegen Sie genau Ihre Antwort, denn wie Sie entscheiden, soll es geschehen. Wenn Sie es wünschen, verlasse ich Sie, und Sie sind nicht reicher oder weiser als zuvor, es sei denn, daß man einen Dienst, den Sie einem armen Menschen in verzweifelter Lage erwiesen, als eine Bereicherung der Seele betrachten kann. Im anderen Falle, wenn Sie es wünschen, werden Sie neue Erfahrungen auf dem Gebiete der Wissenschaft machen, und ein neuer Weg zu Ruhm und Ehre steht Ihnen offen. Hier im nächsten Augenblick, in diesem Zimmer, sollen Sie etwas sehen, das selbst den Unglauben des Satans bekehren müsste.“
„Mein Herr“, sagte ich, eine Kaltblütigkeit heuchelnd, die ich in Wirklichkeit keineswegs besaß. „Sie sprechen in Rätseln und dürfen sich infolgedessen nicht wundern, wenn ich ihren Worten wenig Glauben schenke. Aber ich bin zu weit gegangen in diesen mir unerklärlichen Dienstleistungen, daß ich nun auch den Endzweck derselben erleben muss.“
„Gut dann“, sagte mein Gast, „Lanyon, denken Sie an Ihr Versprechen, denn was jetzt folgt, gehört zu unserem Berufsgeheimnis. Sie haben stets nur engherzigen und materiellen Ansichten gehuldigt, haben die Tugenden der übersinnlichen Medizin verleugnet und so oft die Ihnen Überlegeneren verhöhnt — jetzt sehen Sie!“
Er führte das Glas zum Munde und leerte es auf einen Zug aus. Ein Schrei folgte. Er schwankte, taumelte. Mit weit geöffnetem Mund und starrblickenden Augen klammerte er sich an den Tisch fest, und als ich noch so hinsah, schien es mir, als verändere sich sein Aussehen. Sein Gesicht färbte sich dunkler, seine Gestalt verschmolz und nahm andere Formen an, und im nächsten Augenblick sprang ich entsetzt auf und lehnte mich an die Wand, die Arme wie zur Abwehr gegen dieses Wunder ausgestreckt.
„O Gott!“, rief ich aus, „O Gott!“ Denn vor meinen Augen, bleich und zitternd, einer Ohnmacht nahe und mit den Händen um sich greifend, gleich einem vom Tode Erstandenen stand — Henry Jekyll!
Unmöglich kann ich es über das Herz bringen, alles das aufzuführen, was er mir in der nächsten Stunde erzählte. Ich sah, was ich sah, hörte, was ich hörte, und bin bis ins innerste Herz dadurch getroffen. Auch jetzt, nachdem diese Erscheinung aus meinen Augen verschwunden, frage ich mich, ob ich daran glaube, und weiß keine Antwort dafür. Mein Leben ist zugrunde gerichtet, der Schlaf flieht mich und tödlicher Schrecken und Entsetzen erfüllen mich Tag und Nacht. Ich fühle, daß meine Tage gezählt sind und daß ich bald sterben muß. Und doch werde ich im Unglauben sterben. Die moralische Schändlichkeit, welche jener Mensch, obwohl unter Tränen der Reue, mir klarlegte, lastet noch immer schwer auf meinem Herzen, und nur mit Schaudern denke ich daran. Ich will dir nur eins sagen, und das – ich weiß nicht, ob du es entschuldigen wirst – ist mehr als genug. Die Kreatur, die sich in jener Nacht in mein Haus schlich, war bekannt nach Jekylls eigenem Geständnis unter dem Namen „Hyde“, nach welchem an allen Enden des Landes gefahndet wurde, da er der Mörder von Carew war.
Hastie Lanyon