Der Erste Schnee
Mitte November wird es plötzlich kälter und eines Nachts schneit es. Da es sehr kalt geworden ist, schmilzt der Schnee auf dem Boden nicht, sondern er bleibt liegen. Es schneit die ganze Nacht hindurch. So viel Schnee ist ungewöhnlich Mitte November, und als die Menschen am nächsten Morgen aufwachen, sind sie sehr überrascht. Jetzt gibt es für alle viel zu tun.
Für Hausbesitzer besteht Schneeräumpflicht. Das heißt, sie müssen den Schnee von den Gehwegen vor ihren Häusern räumen. Sobald sie wach sind und gefrühstückt haben, eilen viele Leute hinaus, um den Schnee vor ihren Häusern zu räumen.
Auch auf den Straßen liegt viel Schnee. Die Stadt München ist dafür verantwortlich, die Straßen freizuhalten. Viele Räumfahrzeuge werden losgeschickt, um den Schnee von den Straßen zu räumen. Die Räumfahrzeuge streuen auch Splitt und auf den Hauptstraßen wird zusätzlich Salz gestreut, um Schnee oder Eis aufzutauen.
Auch die Eltern von Andreas sind dafür verantwortlich, den Schnee vor ihrem Haus wegzuräumen. Während Andreas noch mit seinen Brandwunden im Krankenhaus liegt, geht das Leben für seine Eltern weiter. Seine Mutter, Frau Weisser, richtet das Frühstück, und ihr Mann räumt den Weg vor ihrem Haus frei von Schnee. Herr Weisser weiß zwar, dass Kinder den Schnee mögen, aber ihm gefällt der Schnee überhaupt nicht.
Erstens hat er viel Arbeit damit, den Weg zu räumen, und zweitens will er mit dem Auto in die Arbeit fahren, wobei er aus Erfahrung weiß, dass viel Schnee nur eines bedeutet: lange Staus.
Herr Weisser beeilt sich, den Schnee zu räumen, aber es liegt viel Schnee und daher hat er viel Arbeit. Als er endlich fertig ist und wieder ins Haus geht, wartet seine Frau schon ungeduldig auf ihn.
„Jetzt komm endlich, Erwin. Dein Frühstück wird schon kalt.“
Erwin Weisser setzt sich an den Tisch und beginnt zu frühstücken, aber es ist zu spät, sein Frühstück ist schon kalt geworden. Dann sieht er auf seine Uhr und sagt: „Au weh; schon Viertel nach sieben.“
Normalerweise geht er immer um sieben Uhr aus dem Haus und fährt in die Arbeit. Er lässt den Rest seines Frühstücks ungegessen auf seinem Teller liegen und zieht schnell seinen Anzug an. Dann rennt er aus dem Haus zu seinem Auto. Er setzt sich ins Auto und steckt den Zündschlüssel ins Schloss.
Aber als er den Schlüssel dreht, will der Motor nicht anspringen. Er versucht es mehrmals, bis der Motor endlich anspringt und er losfahren kann. Da ist es bereits halb acht. Herr Weisser fährt diesen Morgen mit einer halben Stunde Verspätung von zuhause weg und er kann nur langsam fahren, da die Straße noch nicht geräumt wurde. Außerdem hat er die Winterreifen nicht montiert und darf so eigentlich nicht fahren.
„Ein Unglück kommt selten allein1', murmelt er und versucht schneller zu fahren. Die Fenster sind von innen beschlagen, und er kann nur schlecht sehen. Eigentlich sollte er langsam und vorsichtig fahren, aber er sorgt sich, dass er sehr spät ins Büro kommen wird. Als er zu einer Kreuzung kommt, sieht er den Schneepflug, der von rechts kommt, zu spät.
Er bremst, aber die Reifen rutschen auf der eisigen und schneebedeckten Fahrbahn. Er kann nicht rechtzeitig anhalten und sein Auto wird vom Schneepflug erfasst. Der Pflug trifft genau auf die Mitte des Autos und schiebt es über die Straße. Als der Schneepflug zum Stehen kommt, springt der Fahrer schnell herab, um zu sehen, ob Herr Weisser verletzt ist. Zum Glück ist Herr Weisser unverletzt. Da fängt der Fahrer des Schneepflugs an zu schimpfen.
Jedes Jahr das Gleiche. Kaum fällt der erste Schnee, da fahren alle wie blöd, als ob sie noch nie zuvor Schnee gesehen hätten. Warum fahren sie denn so schnell? Und warum halten sie nicht an; wenn ich von rechts komme? Haben sie noch nie die Regel,rechts vor links' gehört? Oder fahren sie heute zum ersten Mal Auto?“
Der Fahrer des Schneepfluges hätte vielleicht noch mehr geschimpft und Herr Weisser hätte sich vielleicht mit ihm gestritten, aber zum Glück kam in diesem Moment ein Streifenwagen der Polizei vorbei. Bevor der Streit eskalieren konnte, trennten die Polizisten die beiden Fahrer und befragten sie zum Unfall. Sie stellen fest: Da Herr Weisser die Winterreifen nicht montiert hat, hat er Schuld am Unfall.
Herr Weisser sah sich den Schaden an seinem Auto an. Es war zu schwer beschädigt, um weiterfahren zu können. Mit einem tiefen Seufzer nahm er sein Handy aus der Tasche und rief den Abschleppdienst an. Zwanzig Minuten später kam ein Abschleppwagen langsam angefahren. Das Auto wurde abgeschleppt und Herr Weisser fuhr mit dem Bus ins Büro.
Herr Schmidt, der Vater von Peter, hat Glück. Seit einem Streit mit seinem Vater, seiner Frau und seinem Chef vor einigen Monaten, fährt er nicht mehr mit dem Auto in die Arbeit, sondern nur noch mit der U-Bahn. Er musste am Morgen zwar auch Schnee räumen, aber er konnte nach dem Frühstück bequem in der U-Bahn sitzen und musste sich wegen der verschneiten Straßen keine Sorgen machen.
An diesem Morgen ist der U-Bahnzug ungewöhnlich voll, da viele Autofahrer die schlechten Straßen fürchten und nicht in einem Stau steckenbleiben wollen. Herr Schmidt hat trotzdem Glück und findet einen Sitzplatz.
Er setzt sich, öffnet seine Zeitung und liest über das Weltgeschehen, während die U-Bahn ihn schnell und sicher in die Stadt bringt. Als er an seiner Haltestelle ankommt, steigt er aus und geht den Bahnsteig entlang zum Ausgang. Am Ausgang stehen mehrere Fahrkartenkontrolleure.
„Die Fahrscheine, bitte“,sagt einer von ihnen.
Herr Schmidt hat eine Monatskarte. Jeden Monat kauft er eine Karte für vierundsiebzig Euro. Damit kann er den ganzen Monat lang, so oft er will, mit allen öffentlichen Verkehrsmitteln in ganz München fahren. Er holt seine Monatskarte aus der Tasche und zeigt sie dem Fahrkartenkontrolleur. Der Fahrkartenkontrolleur wirft einen kurzen Blick auf die Karte und nickt. Herr Schmidt kann jetzt weitergehen. Als er im Büro ankommt, hat er keine Verspätung und sein Chef, Herr Ungewitter, begrüßt ihn freundlich. Zu diesem Zeitpunkt steht Herr Weisser noch auf der Straße und spricht mit einem Polizisten.
Herr Schmidt hat einen angenehmen Morgen, Herr Weisser einen schrecklichen.
Und was ist mit dem Vater von Florian?
Florians Vater, er heißt Kurt Lehmann, muss nicht in die Arbeit fahren. Nach dem Frühstück nimmt er eine Tasse Kaffee und geht ein Zimmer weiter. Sein Büro ist bei sich zuhause gleich neben dem Wohnzimmer. Das ist sehr praktisch. Er muss weder mit dem Auto noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Auf diese
Weise spart er viel Zeit und Geld.
Warum kann er zuhause arbeiten? Weil er Schriftsteller ist. Er schreibt Kinderbücher für einen großen Verlag, der seine Bücher herausgibt. Jeden Tag sitzt er einige Stunden bei sich zuhause im Büro und schreibt amüsante Geschichten und aufregende Abenteuer für Kinder.
Wenn er ein Buch fertig geschrieben hat, schickt er es an seinen Verleger, der es durchliest und gegebenenfalls korrigiert. Dann schickt der Verleger das Buch wieder an Herrn Lehmann zurück, um zu sehen, ob Herr Lehmann mit allen Änderungen einverstanden ist. Wenn alles in Ordnung ist, wird das Buch gedruckt und dann in Buchhandlungen und im Internet verkauft.
Herr Lehmann schreibt gerne Bücher, nicht nur weil er zuhause arbeiten kann, sondern auch weil er gerne Kindern eine Freude bereitet. Seine Bücher sind bei Kindern sehr beliebt, und es ist diese Beliebtheit, die Herrn Lehmann immer wieder erneut dazu anspornt, weiter zu schreiben.
Sowohl Herr Schmidt als auch Herr Weisser beneiden ihn sehr. Sie sind neidisch, weil Herr Lehmann jeden Tag daheim bleiben kann und nur arbeitet, wenn er dazu Lust hat. Sie beneiden ihn auch, weil er keinen Chef hat, der ihm immer über die Schulter blickt, um zu sehen was er macht und ob er hart genug arbeitet.
Und sie beneiden ihn auch, weil er eine Arbeit hat, die ihm Spaß macht und nicht so langweilig ist wie ihre Tätigkeiten im Büro.
Und als Herr Weisser nach seinem Unfall heute im Bus sitzt, ist er ganz besonders neidisch auf Herrn Lehmann.
Neid ist sehr oft eine Ursache für menschliches Handeln und so sollte es auch in diesem Fall sein. Aber mehr dazu später.
Gegen Mitte des Nachmittags, Herr Lehmann war alleine zuhause und gerade mitten in einer neuen Geschichte, klingelte es plötzlich an der Tür.
„Wer kann denn das sein?“,wunderte er sich und stand auf; um zur Tür zu gehen. Ohne zu denken und ohne erst durch den Spion zu schauen, wer vor der Tür sein könnte, öffnete er einfach. Sobald die Tür auf war, traf ihn ein Schneeball im Gesicht, einer landete auf seinem Bauch, und ein weiterer flog über seine Schulter und traf eine Vase, die dann auf den Boden fiel und zerbrach. Wegen des Schneeballs im Gesicht konnte er nicht sehen, wer geworfen hatte, aber er hörte Kinder lachen und weglaufen. Er wischte sich schnell den Schnee aus den Augen, aber es war zu spät; die jungen Missetäter waren schon weg.
Verärgert schloss er die Tür und sah sich um. Auf dem Boden lagen die Scherben der Vase, ein Lieblings stück seiner Frau, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.
Ja Himmelherrgottsakradi nochmal!“,fluchte er laut. Er ging zu den Scherben und überlegte, ob er sie wieder zusammenkleben könnte, aber da war nichts zu machen.
Die Vase war in so viele kleine Stücke zerbrochen, dass es hoffnungslos war. Betrübt und verärgert ging er in die Küche, holte Schaufel und Besen und kehrte die Scherben auf. Dann warf er alle in den Mülleimer.
„Au weh. Das wird Ärger geben, wenn Helga heimkommt' sagte er laut.
Helga war der Vorname seiner Frau. Helga war ihrer Großmutter sehr nahe gestanden, näher als ihren eigenen Eltern, und die Vase war das einzige, was Helga von ihrer Großmutter geblieben war. Er konnte sich schon vorstellen, wie seine Frau reagieren würde, wenn sie heimkam und sah; dass die Vase kaputt war.
„Na ja; warten hilft da auch nicht. Das einzige, was mir bleibt, ist die Flucht nach vorne“, murmelte er.
Kurz entschlossen ging er zum Telefon und rief seine Frau auf ihrem Handy an.
Er wählte ihre Nummer und hielt den Hörer an sein Ohr. Es klingelte einmal, zweimal, dreimal, dann hörte er seine Frau.
„Hallo Schatzi!“,sagte sie, „was ist los?“
„Tja; hallo Helga. Ich muss dir leider etwas sagen. Es ist was passiert.a Helga denkt sofort an Andreas, der mit Brandwunden im Krankenhaus liegt.
Ja um Gottes Willen! Ist was mit Florian?“
„Nein, nein, Florian geht es gut. Es ist nur, nun wie soll ich es sagen. "“ Kurt erzählt seiner Frau von dem Schneeballangriff auf ihn und was mit ihrer Vase passiert ist. Helga sagt erst nichts. Dann holt sie tief Luft und sagt traurig: „Das ist sehr schade. Es war eine alte Vase, die meine Oma zur Hochzeit geschenkt bekam. Da ist wohl nichts zu machen, aber wer das war, das will ich wissen. Kannst du das herausfinden?“
Kurt überlegt einen Augenblick.
„Ich kann die Nachbarn fragen, vielleicht hat jemand was gesehen.4' „Gut, mach das mal. Ich bin sicher, das waren Kinder, die wir kennen.“