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Youtube-Lektionen - April 2020, Mit diesen Tricks kommen Analphabeten durchs Leben

Mit diesen Tricks kommen Analphabeten durchs Leben

Jeder siebte Erwachsene in Deutschland kann nicht richtig lesen und schreiben.

Alles Schulschwänzer oder einfach dumme Leute?

Denkste.

Es ist einfacher damit zu hausieren: Hömma, ich hab Krebs, als hömma, ich kann nicht

lesen und schreiben.

Ist hart, ist aber so.

Mehr als die Hälfte der Betroffenen hat sogar einen Schulabschluss und hat es irgendwie

durch die Schule geschafft– aber irgendwann stoßen alle im Alltag an ihre Grenzen.

Weil das ist so eine Geschichte, die haben viele von uns auch: Dass sie einfach da bleiben,

wo sie wohnen, weil sie vielleicht irgendwo am Bahnhof stehen könnten und nicht mehr

wissen, wie sie weg kommen, weil sie das auf der Anzeige nicht lesen können.

Nicht richtig lesen und schreiben zu können ist den meisten peinlich.

Deshalb halten viele ihre Schwäche so lange wie möglich geheim und werden richtig erfinderisch.

Ich bin Brillenträger, hab meine Brille vergessen.

Ich hab in meinem ganzen Leben noch keine Brille getragen, weil ich so gute Augen hab.

Also wenn ich mir vorstelle, wie das wohl ist, nicht richtig lesen und schreiben zu

können, dann find ich das richtig krass.

Weil du bist ja quasi überall eingeschränkt oder auf die Hilfe von anderen Leuten angewiesen

und das stell ich mir ziemlich stressig vor.

Ich find's aber total spannend zu erfahren, wie Leute, die dieses Problem haben,

in ihrem Alltag klar kommen.

Deshalb treffe ich gleich Martin, der ist nämlich einer der wenigen, die Bock haben,

über dieses Thema zu sprechen.

Hi Martin, freut mich, dich endlich kennenzulernen!

Na, schön, dass du uns triffst.

Ja, schön, dass ihr vorbei kommt, ich bin halt ein bisschen nervös,

aber gehört ja mit dazu.

Ach du, das ist normal.

Ja kommt rein.

Dankeschön.

Ah, du hast ne Katze?

Wie heißt die denn?

Ah, da ist noch eine!

Lucy, komm mal her!

Ach krass, ich sehe gerade, du hast heute auch dein besonderes T-Shirt angezogen.

Warte mal, bevor du weiter erzählst, ich steck dir hier mal den Ton an, bzw. vielleicht

kannst du mir auch selbst dabei helfen.

Ich steck dir das einmal hier in die Hosentasche, wenn ich darf.

Martin ist 44.

Schon in der Kindheit wurde bei ihm eine Lese-Rechtschreibstörung

festgestellt. Weil er als Kind nicht richtig gefördert wurde, hat er Lesen und Schreiben erst mit

24 gelernt.

Aber auch jetzt ist sein Können noch nicht auf dem gleichen Level wie beim Rest von uns.

Einkaufen gehen, Fahrpläne lesen, mal eben ne WhatsApp schreiben – für uns ganz normal

– für ihn ein Riesen-Aufwand.

Ich hab mich auch jahrelang versteckt und mir Ausreden einfallen lassen und hab mich

auch mit einigen Leuten nicht getroffen, weil ich gedacht hab: Nee, du hast dich jetzt ein

paar mal mit denen getroffen, die werden das früher oder später auch merken,

dass irgendwas nicht stimmt.

Und um der Sache einfach aus dem Weg zu gehen, bin ich auch mal ein paar Jahre allein durch's

Leben geschlendert.

Aber letztendlich will ja keiner alleine sein.

Ist ja doof.

Total.

Weil so Außenstehende, normal Lesende und Schreibende, die wissen ja gar nicht

wie schlecht es uns geht.

Es ist ja nicht nur die Sache, dass wir ein Problem mit dem Lesen und Schreiben haben,

wir haben ja auch Probleme mit dem Miteinander.

Weil wir sind ja immer die, die denken: Ah, wenn wir irgendwo hinkommen, wo ich vielleicht

doch noch was lesen muss und wenn die dich nicht lange kennen und wissen was los ist,

dann reagieren auch einige ziemlich unschön.

Ich finde, die Schwierigkeit bei dem Thema ist ja immer: Man möchte das nachvollziehen,

sich da reinversetzen, aber ich kann es halt nicht, weil ich mir das gar nicht richtig

vorstellen kann.

Vielleicht kannst du mir helfen: Was kannst du denn jetzt lesen

und was klappt noch nicht so gut?

Ich kann so ziemlich alles mittlerweile lesen, nur nicht schnell.

Und auch unter Druck und Stress ist es auch wieder so ne Geschichte, wo es sein könnte:

Einfach ein Systemausfall, dann funktioniert auf einmal gar nix.

So Behördensachen, die sind halt auch immer recht unschön.

„Antrag auf eine Übernahme der Kosten für die orthopädische Arbeitsschuherhöhung.

Vor ein paar Jahren hätte ich wahrscheinlich erstmal gar nicht vorgelesen, weil viel zu

peinlich, und dann wäre es wahrscheinlich gegangen: „Antrag auf Übernahme…“ und

das ist jetzt nicht mehr. Das ist zwar immernoch nicht so toll.

Ich hab mir den auch schon zwei, dreimal durchgelesen, damit ich weiß, um was geht, aber wenn jetzt

so ein Text aus dem Nichts auf mich zukommt, dann ist es schwierig.

Aber es geht mittlerweile.

Aber ich hatte echt ein paar Jahre, wo ich gedacht hab: Iiih, Buchstaben.

Vor Buchstaben ekelt sich Martin mittlerweile nicht mehr.

Das zu schaffen, war für ihn aber harte Arbeit.

6 Jahre lang hat er sich in Kursen an der Volkshochschule das erarbeitet, was die meisten

von uns ohne Probleme in der 1. Klasse lernen.

Mittlerweile kommt er im Alltag einigermaßen klar –

nur auf der Arbeit fällt ihm das Lesen und Schreiben unter Druck schwer.

Was genau das Problem ist, will Martin mir heute zeigen.

Aber ich hab eben gesehen…

„Links abbiegen auf Ravensberger Straße“

Oh Gott, was ist das denn für ne spacy Stimme!

Krass.

So kannte ich die auch noch nicht.

Warum ist die so?

Keine Ahnung!

„Links abbiegen auf Jülicher Straße, dann links abbiegen…“

Geil, okay.

Gefällt mir.

Ich hab aber eben gesehen, du hast das jetzt mit Spracherkennung gemacht, ne?

Machst du das immer?

Ja meistens.

Eigentlich wär's besser, wenn ich alles mit der Hand eintippe, aber dann ist das Problem,

je nachdem, wie wird es jetzt geschrieben…“Links abbiegen auf Steinbeck“ wie wird es jetzt

geschrieben, wird es so geschrieben, wird es so geschrieben, und wenn ich einfach da

rein quatsche, zeigt der mir meistens zwei, drei Möglichkeiten an.

Und wenn ich mir nicht ganz sicher bin, dann nehm ich einfach das Ausschlussverfahren.

Was sich am besten anhört, das nehme ich dann.

Und wenn du irgendwie ne Adresse hattest, wo du hin musstest, wie bist du da vorgegangen?

Meistens hab ich die Adresse immer bei mir gehabt und wenn es gar nicht anders ging,

Leute gefragt: Da muss ich hin, wie komm ich da am besten hin.

Aber meistens hab ich immer drauf geachtet,

dass ich nirgends hin muss mit irgendwelchen Adressen.

Aber ich mein, da kommt man doch nicht drum rum, manchmal, oder?

Meistens ist ja alles hier in Wuppertal und ich leb schon so viele Jahre hier in Wuppertal

und hier gibt's eigentlich kaum Ecken, die ich nicht wirklich kenne und nicht weiß,

wie ich da hin komme.

Jetzt hier hoch.

Hier scharf hoch?

Ja.

Ja okay, aber in so andere Städte und so, bist du…?

Ich hatte ja auch schon oft darüber nachgedacht mal umzuziehen oder so, aber dann war da schon

allein die Angst: Boah, dich da zurecht zu finden, das wird echt schwierig.

Wie anstrengend Martins Leben ist, wird mir erst nach und nach klar.

Briefe lesen, Google Maps, Straßennamen- überall ist man Buchstaben ausgesetzt.

Für mich kein Problem, für Martin bedeutet das vor allem: Stress.

Besonders schwierig ist es für ihn auf seiner Arbeit.

Als Lagerlogistiker macht den ganzen Tag das hier: Pakete auspacken, Ware einbuchen, und

das möglichst schnell.

Und, ihr habt wahrscheinlich jetzt auch schon den ganzen Rest schon erfasst, der da drauf

steht, ich les in dem Moment eigentlich nur das,

was für mich in dem Moment wirklich wichtig ist.

Das heißt, was liest du da?

Nur die Bezeichnung.

Ich guck hier drauf und nach dem… ja, ist es jetzt wirklich lesen in dem Moment oder

ist es einfach nur vergleichen?

Kann man manchmal schwer sagen oder?

Also ich würde sagen, ich lese es.

Andere würden wahrscheinlich sagen: Der vergleicht die Buchstaben oder die Zeichen.

Auf den ersten Eindruck habe ich das Gefühl, Martin ist hier ziemlich routiniert.

Gerade ist es aber auch relativ ruhig, normalerweise muss er hier sehr viel schneller arbeiten.

Und dann ist es auch schon vorgekommen, dass irgendwas einfach untergegangen ist, weil

du nicht mehr dran gedacht hast, weil du den Kopf wieder mit anderen Sachen voll hast,

und ich der das Lese-Schreib-Problem hat, der macht sich dann natürlich wieder den

Mega-Kopf, weil er denkt: Das liegt nur an deiner Unfähigkeit.

Ich finde, Martin ist ziemlich hart mit sich selbst.

Das Auspacken und Einbuchen kriegt er hin - nur wenn er an den Computer muss,

hakt es noch ein bisschen.

Hier braucht er hin und wieder noch Unterstützung von seinen Kollegen.

Den habe ich meinem Kollegen noch hier gelassen, weil ich hatte einige Sachen nicht geschafft,

damit der dann so ein bisschen vorbereitet ist, dass einiges auf ihn zukommt.

Ach krass, das hier hast du geschrieben auch?

Das hab ich geschrieben.

Wie lange brauchst du dafür?

Ich weiß nicht, 10 Minuten so?

Für andere ist das vielleicht ne Sache von ner Minute, die überlegen gar nicht,

die schreiben es einfach.

Und ich bin halt einer ich muss immer überlegen und nachdenken: Wird es so geschrieben oder nicht?

Das hier sind Momente, in denen ich verstehe, was für Martin das Problem ist.

Zettel wie dieser helfen ihm bei seinen Aufgaben.

Seine Chefs und Kollegen sind mit ihm zufrieden.

Nur seine eigenen Ansprüche kann er nicht immer erfüllen.

Du musst dich auch jeden Tag auf's Neue mit deinem - was du nicht kannst - immer wieder konfrontieren

und immer wieder merken auch: Allen anderen fällt es so leicht, die Sache, die du hier

die du hier versuchst mit Biegen und Brechen und Schweißausbrüchen

alles genauso hinzukriegen und dann auch oft

scheiterst und dir wieder denkst: Meine Güte, warum bin ich nur so schlecht.

Und das sind dann auch die Momente mit Selbstzweifeln und ja…aber gut.

Damit habe ich gelernt, im Großen und Ganzen relativ gut umzugehen.

Es sind zwar auch immer noch Momente dabei, wo ich denke: Wird es irgendwann noch besser?

Aber wenn ich bedenke, wie ich vor ein paar Jahren noch war: Es ist ja schon unheimlich

gut geworden, nur halt nicht so gut wie wahrscheinlich bei dir und

wahrscheinlich 90 Prozent der anderen Leute die hier arbeiten und rumlaufen.

Martins Ehrgeiz find ich bewundernswert.

Sich diesen Umgang mit seiner Schwäche zu erarbeiten, hat aber viele Jahre gedauert.

Erst als er in den Kursen der Volkshochschule gemerkt hat, dass er mit seinem Problem nicht

allein ist, konnte er sein Leben so akzeptieren wie es ist.

Und genau so geht's vielen Menschen, die dieses Problem haben.

Es war schwer, Leute zu finden, die mit mir darüber reden wollen.

Aber in Hamburg habe ich eine Selbsthilfegruppe gefunden, die mich zu einem ihrer Treffen

die mich zu einem ihrer Treffen eingeladen hat.

Mein Name ist Thorsten Reinhold und ich bin schon seit über 10 Jahren jetzt in dieser Gruppe

Die Gruppe hier nennt sich das Alpha-Team und trifft sich einmal im Monat.

Susanne Kiendl, die mit den brauen Haaren, leitet die Gruppe.

Mal geht es um die eigenen Probleme – viel öfter besprechen sie aber, wie man anderen

Leuten am besten erklärt, warum es Erwachsene gibt, die nicht richtig lesen und schreiben

können.Thorsten war vor kurzem in einer Kita, um genau das zu tun.

Es kam unter anderem die Frage: Ja, aber hast du denn immer geschwänzt?

Bist du gar nicht dahin gegangen?

Hast du geschwänzt?

Und da habe ich mir gedacht: Boah…du hast es sehr sehr souverän beantwortet.

Wie hast du denn reagiert, als die Frage kam?

Also was hast du gesagt, wie erklärst du das?

Ich hab gesagt, ich bin immer in die Schule gegangen, ich hab nicht geschwänzt, ich hab

mich da durch gewurschtelt.

Aber ich hatte halt meine Schwierigkeiten in Deutsch, dass ich da nicht richtig lesen

konnte.

Und schreiben konnte.

Und da kam dann die Frage zurück: Ja wie war's denn bei Deutsch?

Und ich so: Ja beim Diktat da habe ich wirklich Blut und Wasser geschwitzt.

Weil da musste ich ja unter Zeitdruck schreiben und da hatte ich meine Probleme und da habe

ich halt immer eine 6 gekriegt.

Und diese 6 musste ich dann meinen Eltern vorlegen und die mussten das dann unterschreiben.

Und dann musste ich jeden Text von hinten nach vorne wieder richtig schreiben.

Seine schlechten Noten hat Thorsten durch mündliche Mitarbeit oder Aufgaben ausgeglichen,

die er mit weniger Druck zuhause erledigen konnte.

Deswegen hat es in Deutsch immer noch für eine 4 gereicht.

Das ist aber auch ganz oft, dass die diese sogenannte pädagogische 4 vergeben.

Also ich hatte das in meinen Kursen damals öfter gehört, dass die gesagt haben: Ja…also

ich hatte sogar einen, das fand ich wirklich heftig: Wenn Klausuren geschrieben wurden,

dann ist der rausgeschickt worden und sollte dem Hausmeister helfen.

Thorsten hat mit seiner pädagogischen 4 sogar die mittlere Reife geschafft.

Wie das sein kann, obwohl er nicht richtig lesen und schreiben konnte, ist für mich

schwer vorstellbar.

Die Schuld allein bei der Schule zu suchen, findet hier trotzdem jeder falsch.

Die Schule war mit dabei, klar, dann hast du vielleicht noch wenig Unterstützung zuhause

bekommen, oder, oder, oder.

Und das ist einfach so, ich bin ja überzeugt davon, dass wenn man am Anfang gleich merkt:

Es klappt gar nicht so gut, der kann das gar nicht so gut lernen, wenn da richtig reagiert

werden würde, würde ganz viel abfallen sozusagen, an Druck und Angst.

Dieses, was du mir jetzt wieder erzählst, dieses alles rückwärts nochmal schreiben,

das heißt immer mehr Angst, vor'm nächsten Diktat vorm nächsten Test und es wird immer

schlimmer, immer schlimmer und dann hast du so ne Art Teufelskreis, wo du einfach gar

nicht mehr so wirklich rauskommst.

Keinem von den Leuten, die hier sitzen, fällt es leicht, über ihre Schwäche zu reden.

Trotzdem wollen sie das, damit die Leute wie ich checken: Analphabet ist nicht gleich Analphabet.

-14:16 Die Bevölkerung sagt ja Analphabeten, was ist das denn, wieso können die Leute

in Deutschland nicht mehr richtig lesen und schreiben und dann ist es so, wie bei Thorsten,

dass da gesagt wird: Ja wieso, warst du faul, hast du immer geschwänzt?

Für mich ist das ne Beleidigung.

Und auch funktionale Analphabetin genannt zu werden, ist für mich ne Beleidigung.

Total.

Okay, Das Thema ist nicht ganz einfach: Die Menschen, die hier sitzen, fallen unter den

Begriff „Funktionale Analphabeten“.

Das sind Menschen, die zwar Worte und Sätze lesen und schreiben können, dafür aber Probleme

bei Texten haben und noch viele Fehler machen.

7,5 Millionen Menschen in Deutschland fallen in diese Kategorie – 7,5 Millionen.

Das belegt eine Studie der Uni Hamburg von 2011.

Dieses Jahr soll es eine neue Studie geben – alle vermuten, dass die Zahl mittlerweile

noch höher ist.

Wieso das so ist, lasse ich mir nach dem Treffen von Susanne Kiendl erklären.

Es gibt unterschiedliche Ursachen natürlich, warum ich nicht gut lesen und schreiben gelernt

habe.

Das kann einerseits sein, weil ich Legastheniker bin und nämlich ne Wahrnehmungsschwäche

habe und Dinge anders verarbeite als es andere Leute tun.

Ich kann aber auch einfach Pech gehabt haben.

Bildung ist Ländersache.

Wenn ich öfter umgezogen bin, dann bin ich in der Grundschule vielleicht da eingestiegen

wo ich schon war, heißt, ich lern nicht weiter oder ich war viel krank oder hab eine Hörschwäche

oder eine Sehschwäche, die nicht erkannt wurde

und dann nicht die Chance, dementsprechend zu lernen.

Klar gibt es bildungsferne Haushalte, vielleicht bin ich nicht unterstützt worden oder hatte

ganz viele andere Probleme und lesen und schreiben war nun wirklich das letzte worum es mir ging.

Also es gibt viele viele mögliche Gründe, die dazu führen, dass ich nicht gut lese

und schreibe

Beim funktionalen Analphabetismus gibt es aber auch verschiedene Abstufungen:

Einige können nur wenige Buchstaben lesen und schreiben,

andere schaffen mit ein paar Fehlern ganze Texte.

Fast alle haben Betroffenen haben aber eins gemeinsam: Sie schämen sich für ihre Schwäche.

Also es soll so ein bisschen dahin gehen zu sagen: Aha, es ist EINE Schwäche die jemand

hat, er ist deswegen nicht blöder, oder keine Ahnung, er hat EINE Schwäche.

Und in dieser Schwäche wurde er leider nicht gefördert, aus unterschiedlichsten Gründen,

deswegen holt er das jetzt nach und fängt jetzt an zu lernen.

Das was eigentlich bewundernswert ist, und nichts was eigentlich belächelt werden sollte

oder mit Diskriminierung bedacht werden sollte.

Zurück zu Martin.

Wir haben uns zum Essen verabredet – heute geht das, früher hat allein der Gedanke an

das Lesen einer Speisekarte bei ihm Panik ausgelöst.

Wollen Sie was essen?

Ja, ich hätte gerne das Schnitzel Wiener Art.

Ja, mit Pommes?

Ja.

Mayo?

Joa, können wir machen.

Und Salat brauche ich aber nicht so unbedingt.

Wenn ich dafür vielleicht zwei, drei mehr Pommes auf den Teller krieg….

Ist doch ein guter Deal!

Bis er die Speisekarte lesen konnte,

hat sich Martin mit Freunden lieber auf eine Currywurst getroffen.

Und auch sonst hat er Situationen, in denen er lesen musste, lieber vermieden.

Gab es auch so Strategien manchmal, die man sich überlegt hat,

um unangenehme Situationen zu vermeiden im Alltag?

In den ersten Jahren, klar.

Wenn du irgendwelche…Ich bin Brillenträger, hab meine Brille vergessen, ich hab in meinem

ganzen Leben noch keine Brille tragen müssen, weil ich so gute Augen hab.

Aber gut, das weiß ja keiner.

Und Brille ist ja jeder direkt Verständnis.

Oder hab was mit der Hand, irgendwie verletzt, kann gerade nicht so.

Ach krass, echt?

Mal eben schnell so einen Verband um die Hand wickeln ist ja kein Problem.

Das kriegst du ja hin.

Hast du das auch schon gemacht?

Das hab ich auch schon gemacht.

Wahnsinn.

Und diese Tage wo du aufstehst und schon mit Magenschmerzen aufgestanden bist,

weil du wusstest: Es geht ja schon wieder in die Schule.

Die Schulzeit war für Martin der Horror.

Schon in der Grundschule kam er nicht so gut mit wie die anderen Kinder

und wurde viel gemobbt.

Nach der 5. Klasse kam er auf die Walldorfschule

und dann auf eine Förderschule.

Trotzdem hat es mit dem Lesen und Schreiben nie so richtig gut geklappt.

Woran genau liegt das, dass man zum einen nicht mitkommt und das zum anderen irgendwie

dann auch nicht so aufholen kann, wie die anderen Kinder.

Hast du da eine Antwort drauf?

Nein.

Nein.

Aber die wird auch keiner von denen haben.

Du kannst 200, 500 Betroffene fragen, es gibt verschiedene Gründe.

Also ich kann nur sagen, mein leiblicher Vater, der hatte das Problem auch.

Was genau alles dazu geführt hat, oder nicht, man weiß es nicht.

Ich weiß einfach nur, dass es so ist und ich irgendwie damit leben muss.

Und es mir viele Jahre nicht leicht gemacht wurde.

Das was Martin mir erzählt, ist typisch für Menschen, die nicht so lesen und schreiben

können, wie der Rest von uns: Nur Stress in der Schule, keine Unterstützung zuhause.

Echt kein leichtes Schicksal.

Aber das alles hat Martin weitestgehend hinter sich gelassen.

Mit den begrenzten Möglichkeiten hab ich glaub ich so für mich im Moment das beste…

es ist zwar noch ausbaufähig, und ich bin da noch dran, aber einen akademischen Grad werde

ich wohl nicht mehr erreichen.

Sind wir mal ehrlich.

Schön wär es halt wenn ich irgendwann doch nochmal

eine Frau an meiner Seite hätte für eine längere Zeit.

Aber der musst du ja auch irgendwas bieten.

Ist wahrscheinlich auch nicht das erste, was man dann erzählt so beim Kennenlernen:

Hey übrigens: Ich hab da so ein kleines Problem.

Nein, natürlich nicht.

Viele meiner Freunde meinten: Hör mal, es gibt doch Internet, ist doch kein Thema.

Kannst Leute kennenlernen ohne Ende!

Ja, Leute kennenlernen mit Schreiben!

Fällt euch da irgendwas auf?

Ein paar mal hat er es versucht, erzählt er mir.

Aber sobald er von seiner Schwäche erzählt, kommt selten noch was zurück.

Ich hab echt Respekt davor, dass Martin mir das alles so erzählt.

Aber ist für ihn ne Herzensangelegenheit.

Deshalb ist mir das ja auch relativ wichtig, dass es vielleicht noch

mehr Leute gibt, die sehen: Mit dem Problem sind sie nicht alleine

und man kann auch anders damit umgehen, man muss sich nicht verstecken.

Von anderen Menschen wünscht er sich vor allem eins:

Dass es auch nicht so ein Ding ist, so hinter vorgehaltener Hand:

Hör mal, der kann nicht lesen und schreiben, was stimmt denn mit dem nicht.

Weil, dann kann ich genauso sagen: Hör mal, wenn ich lange genug bei dir rumbohre,

dann finde ich bestimmt auch ganz viele Sachen, wo bei dir was nicht stimmen könnte.

Aber muss ich das?

Mach ich das?

Und warum machen die das?

Nur um mich selber besser zu fühlen, weil sie selbst auch in vielen Sachen unfähig sind?

Einfach die Leute so akzeptieren wie sie sind.

Mittlerweile geht Martin offen mit seinem Problem um.

Aber das können die wenigsten.

Deswegen wär es doch schön, wenn wir alle ein bisschen weniger verurteilen

und ein bisschen mehr unterstützen würden.

Ich zumindest hab mir vorgenommen, ab jetzt ein bisschen sensibler zu reagieren,

wenn jemand mich nach dem nächsten Zug fragt, obwohl er direkt neben dem Fahrplan steht.

Das war's von mir. Danke für's Zugucken.

Mich würde interessieren:Kennt auch jemanden, der von der Lese- Rechtschreibschwäche betroffen ist?

Wenn ja, schreibt das hier gerne in die Kommentare.

Oben haben wir Euch auch noch einen Film von dem iChance-Team verlinkt.

Die haben Fynn Kliemann im Kliemannsland besucht und haben mit ihm zusammen Bücherregale aufgebaut.

Lohnt sich auf jeden Fall auch anzugucken!

Also, bis zur nächsten Reportage. Macht's gut!


Mit diesen Tricks kommen Analphabeten durchs Leben

Jeder siebte Erwachsene in Deutschland kann nicht richtig lesen und schreiben.

Alles Schulschwänzer oder einfach dumme Leute?

Denkste.

Es ist einfacher damit zu hausieren: Hömma, ich hab Krebs, als hömma, ich kann nicht

lesen und schreiben.

Ist hart, ist aber so.

Mehr als die Hälfte der Betroffenen hat sogar einen Schulabschluss und hat es irgendwie

durch die Schule geschafft– aber irgendwann stoßen alle im Alltag an ihre Grenzen.

Weil das ist so eine Geschichte, die haben viele von uns auch: Dass sie einfach da bleiben,

wo sie wohnen, weil sie vielleicht irgendwo am Bahnhof stehen könnten und nicht mehr

wissen, wie sie weg kommen, weil sie das auf der Anzeige nicht lesen können.

Nicht richtig lesen und schreiben zu können ist den meisten peinlich.

Deshalb halten viele ihre Schwäche so lange wie möglich geheim und werden richtig erfinderisch.

Ich bin Brillenträger, hab meine Brille vergessen.

Ich hab in meinem ganzen Leben noch keine Brille getragen, weil ich so gute Augen hab.

Also wenn ich mir vorstelle, wie das wohl ist, nicht richtig lesen und schreiben zu

können, dann find ich das richtig krass.

Weil du bist ja quasi überall eingeschränkt oder auf die Hilfe von anderen Leuten angewiesen

und das stell ich mir ziemlich stressig vor.

Ich find's aber total spannend zu erfahren, wie Leute, die dieses Problem haben,

in ihrem Alltag klar kommen.

Deshalb treffe ich gleich Martin, der ist nämlich einer der wenigen, die Bock haben,

über dieses Thema zu sprechen.

Hi Martin, freut mich, dich endlich kennenzulernen!

Na, schön, dass du uns triffst.

Ja, schön, dass ihr vorbei kommt, ich bin halt ein bisschen nervös,

aber gehört ja mit dazu.

Ach du, das ist normal.

Ja kommt rein.

Dankeschön.

Ah, du hast ne Katze?

Wie heißt die denn?

Ah, da ist noch eine!

Lucy, komm mal her!

Ach krass, ich sehe gerade, du hast heute auch dein besonderes T-Shirt angezogen.

Warte mal, bevor du weiter erzählst, ich steck dir hier mal den Ton an, bzw. vielleicht

kannst du mir auch selbst dabei helfen.

Ich steck dir das einmal hier in die Hosentasche, wenn ich darf.

Martin ist 44.

Schon in der Kindheit wurde bei ihm eine Lese-Rechtschreibstörung

festgestellt. Weil er als Kind nicht richtig gefördert wurde, hat er Lesen und Schreiben erst mit

24 gelernt.

Aber auch jetzt ist sein Können noch nicht auf dem gleichen Level wie beim Rest von uns.

Einkaufen gehen, Fahrpläne lesen, mal eben ne WhatsApp schreiben – für uns ganz normal

– für ihn ein Riesen-Aufwand.

Ich hab mich auch jahrelang versteckt und mir Ausreden einfallen lassen und hab mich

auch mit einigen Leuten nicht getroffen, weil ich gedacht hab: Nee, du hast dich jetzt ein

paar mal mit denen getroffen, die werden das früher oder später auch merken,

dass irgendwas nicht stimmt.

Und um der Sache einfach aus dem Weg zu gehen, bin ich auch mal ein paar Jahre allein durch's

Leben geschlendert.

Aber letztendlich will ja keiner alleine sein.

Ist ja doof.

Total.

Weil so Außenstehende, normal Lesende und Schreibende, die wissen ja gar nicht

wie schlecht es uns geht.

Es ist ja nicht nur die Sache, dass wir ein Problem mit dem Lesen und Schreiben haben,

wir haben ja auch Probleme mit dem Miteinander.

Weil wir sind ja immer die, die denken: Ah, wenn wir irgendwo hinkommen, wo ich vielleicht

doch noch was lesen muss und wenn die dich nicht lange kennen und wissen was los ist,

dann reagieren auch einige ziemlich unschön.

Ich finde, die Schwierigkeit bei dem Thema ist ja immer: Man möchte das nachvollziehen,

sich da reinversetzen, aber ich kann es halt nicht, weil ich mir das gar nicht richtig

vorstellen kann.

Vielleicht kannst du mir helfen: Was kannst du denn jetzt lesen

und was klappt noch nicht so gut?

Ich kann so ziemlich alles mittlerweile lesen, nur nicht schnell.

Und auch unter Druck und Stress ist es auch wieder so ne Geschichte, wo es sein könnte:

Einfach ein Systemausfall, dann funktioniert auf einmal gar nix.

So Behördensachen, die sind halt auch immer recht unschön.

„Antrag auf eine Übernahme der Kosten für die orthopädische Arbeitsschuherhöhung.

Vor ein paar Jahren hätte ich wahrscheinlich erstmal gar nicht vorgelesen, weil viel zu

peinlich, und dann wäre es wahrscheinlich gegangen: „Antrag auf Übernahme…“ und

das ist jetzt nicht mehr. Das ist zwar immernoch nicht so toll.

Ich hab mir den auch schon zwei, dreimal durchgelesen, damit ich weiß, um was geht, aber wenn jetzt

so ein Text aus dem Nichts auf mich zukommt, dann ist es schwierig.

Aber es geht mittlerweile.

Aber ich hatte echt ein paar Jahre, wo ich gedacht hab: Iiih, Buchstaben.

Vor Buchstaben ekelt sich Martin mittlerweile nicht mehr.

Das zu schaffen, war für ihn aber harte Arbeit.

6 Jahre lang hat er sich in Kursen an der Volkshochschule das erarbeitet, was die meisten

von uns ohne Probleme in der 1. Klasse lernen.

Mittlerweile kommt er im Alltag einigermaßen klar –

nur auf der Arbeit fällt ihm das Lesen und Schreiben unter Druck schwer.

Was genau das Problem ist, will Martin mir heute zeigen.

Aber ich hab eben gesehen…

„Links abbiegen auf Ravensberger Straße“

Oh Gott, was ist das denn für ne spacy Stimme!

Krass.

So kannte ich die auch noch nicht.

Warum ist die so?

Keine Ahnung!

„Links abbiegen auf Jülicher Straße, dann links abbiegen…“

Geil, okay.

Gefällt mir.

Ich hab aber eben gesehen, du hast das jetzt mit Spracherkennung gemacht, ne?

Machst du das immer?

Ja meistens.

Eigentlich wär's besser, wenn ich alles mit der Hand eintippe, aber dann ist das Problem,

je nachdem, wie wird es jetzt geschrieben…“Links abbiegen auf Steinbeck“ wie wird es jetzt

geschrieben, wird es so geschrieben, wird es so geschrieben, und wenn ich einfach da

rein quatsche, zeigt der mir meistens zwei, drei Möglichkeiten an.

Und wenn ich mir nicht ganz sicher bin, dann nehm ich einfach das Ausschlussverfahren.

Was sich am besten anhört, das nehme ich dann.

Und wenn du irgendwie ne Adresse hattest, wo du hin musstest, wie bist du da vorgegangen?

Meistens hab ich die Adresse immer bei mir gehabt und wenn es gar nicht anders ging,

Leute gefragt: Da muss ich hin, wie komm ich da am besten hin.

Aber meistens hab ich immer drauf geachtet,

dass ich nirgends hin muss mit irgendwelchen Adressen.

Aber ich mein, da kommt man doch nicht drum rum, manchmal, oder?

Meistens ist ja alles hier in Wuppertal und ich leb schon so viele Jahre hier in Wuppertal

und hier gibt's eigentlich kaum Ecken, die ich nicht wirklich kenne und nicht weiß,

wie ich da hin komme.

Jetzt hier hoch.

Hier scharf hoch?

Ja.

Ja okay, aber in so andere Städte und so, bist du…?

Ich hatte ja auch schon oft darüber nachgedacht mal umzuziehen oder so, aber dann war da schon

allein die Angst: Boah, dich da zurecht zu finden, das wird echt schwierig.

Wie anstrengend Martins Leben ist, wird mir erst nach und nach klar.

Briefe lesen, Google Maps, Straßennamen- überall ist man Buchstaben ausgesetzt.

Für mich kein Problem, für Martin bedeutet das vor allem: Stress.

Besonders schwierig ist es für ihn auf seiner Arbeit.

Als Lagerlogistiker macht den ganzen Tag das hier: Pakete auspacken, Ware einbuchen, und

das möglichst schnell.

Und, ihr habt wahrscheinlich jetzt auch schon den ganzen Rest schon erfasst, der da drauf

steht, ich les in dem Moment eigentlich nur das,

was für mich in dem Moment wirklich wichtig ist.

Das heißt, was liest du da?

Nur die Bezeichnung.

Ich guck hier drauf und nach dem… ja, ist es jetzt wirklich lesen in dem Moment oder

ist es einfach nur vergleichen?

Kann man manchmal schwer sagen oder?

Also ich würde sagen, ich lese es.

Andere würden wahrscheinlich sagen: Der vergleicht die Buchstaben oder die Zeichen.

Auf den ersten Eindruck habe ich das Gefühl, Martin ist hier ziemlich routiniert.

Gerade ist es aber auch relativ ruhig, normalerweise muss er hier sehr viel schneller arbeiten.

Und dann ist es auch schon vorgekommen, dass irgendwas einfach untergegangen ist, weil

du nicht mehr dran gedacht hast, weil du den Kopf wieder mit anderen Sachen voll hast,

und ich der das Lese-Schreib-Problem hat, der macht sich dann natürlich wieder den

Mega-Kopf, weil er denkt: Das liegt nur an deiner Unfähigkeit.

Ich finde, Martin ist ziemlich hart mit sich selbst.

Das Auspacken und Einbuchen kriegt er hin - nur wenn er an den Computer muss,

hakt es noch ein bisschen.

Hier braucht er hin und wieder noch Unterstützung von seinen Kollegen.

Den habe ich meinem Kollegen noch hier gelassen, weil ich hatte einige Sachen nicht geschafft,

damit der dann so ein bisschen vorbereitet ist, dass einiges auf ihn zukommt.

Ach krass, das hier hast du geschrieben auch?

Das hab ich geschrieben.

Wie lange brauchst du dafür?

Ich weiß nicht, 10 Minuten so?

Für andere ist das vielleicht ne Sache von ner Minute, die überlegen gar nicht,

die schreiben es einfach.

Und ich bin halt einer ich muss immer überlegen und nachdenken: Wird es so geschrieben oder nicht?

Das hier sind Momente, in denen ich verstehe, was für Martin das Problem ist.

Zettel wie dieser helfen ihm bei seinen Aufgaben.

Seine Chefs und Kollegen sind mit ihm zufrieden.

Nur seine eigenen Ansprüche kann er nicht immer erfüllen.

Du musst dich auch jeden Tag auf's Neue mit deinem - was du nicht kannst - immer wieder konfrontieren

und immer wieder merken auch: Allen anderen fällt es so leicht, die Sache, die du hier

die du hier versuchst mit Biegen und Brechen und Schweißausbrüchen

alles genauso hinzukriegen und dann auch oft

scheiterst und dir wieder denkst: Meine Güte, warum bin ich nur so schlecht.

Und das sind dann auch die Momente mit Selbstzweifeln und ja…aber gut.

Damit habe ich gelernt, im Großen und Ganzen relativ gut umzugehen.

Es sind zwar auch immer noch Momente dabei, wo ich denke: Wird es irgendwann noch besser?

Aber wenn ich bedenke, wie ich vor ein paar Jahren noch war: Es ist ja schon unheimlich

gut geworden, nur halt nicht so gut wie wahrscheinlich bei dir und

wahrscheinlich 90 Prozent der anderen Leute die hier arbeiten und rumlaufen.

Martins Ehrgeiz find ich bewundernswert.

Sich diesen Umgang mit seiner Schwäche zu erarbeiten, hat aber viele Jahre gedauert.

Erst als er in den Kursen der Volkshochschule gemerkt hat, dass er mit seinem Problem nicht

allein ist, konnte er sein Leben so akzeptieren wie es ist.

Und genau so geht's vielen Menschen, die dieses Problem haben.

Es war schwer, Leute zu finden, die mit mir darüber reden wollen.

Aber in Hamburg habe ich eine Selbsthilfegruppe gefunden, die mich zu einem ihrer Treffen

die mich zu einem ihrer Treffen eingeladen hat.

Mein Name ist Thorsten Reinhold und ich bin schon seit über 10 Jahren jetzt in dieser Gruppe

Die Gruppe hier nennt sich das Alpha-Team und trifft sich einmal im Monat.

Susanne Kiendl, die mit den brauen Haaren, leitet die Gruppe.

Mal geht es um die eigenen Probleme – viel öfter besprechen sie aber, wie man anderen

Leuten am besten erklärt, warum es Erwachsene gibt, die nicht richtig lesen und schreiben

können.Thorsten war vor kurzem in einer Kita, um genau das zu tun.

Es kam unter anderem die Frage: Ja, aber hast du denn immer geschwänzt?

Bist du gar nicht dahin gegangen?

Hast du geschwänzt?

Und da habe ich mir gedacht: Boah…du hast es sehr sehr souverän beantwortet.

Wie hast du denn reagiert, als die Frage kam?

Also was hast du gesagt, wie erklärst du das?

Ich hab gesagt, ich bin immer in die Schule gegangen, ich hab nicht geschwänzt, ich hab

mich da durch gewurschtelt.

Aber ich hatte halt meine Schwierigkeiten in Deutsch, dass ich da nicht richtig lesen

konnte.

Und schreiben konnte.

Und da kam dann die Frage zurück: Ja wie war's denn bei Deutsch?

Und ich so: Ja beim Diktat da habe ich wirklich Blut und Wasser geschwitzt.

Weil da musste ich ja unter Zeitdruck schreiben und da hatte ich meine Probleme und da habe

ich halt immer eine 6 gekriegt.

Und diese 6 musste ich dann meinen Eltern vorlegen und die mussten das dann unterschreiben.

Und dann musste ich jeden Text von hinten nach vorne wieder richtig schreiben.

Seine schlechten Noten hat Thorsten durch mündliche Mitarbeit oder Aufgaben ausgeglichen,

die er mit weniger Druck zuhause erledigen konnte.

Deswegen hat es in Deutsch immer noch für eine 4 gereicht.

Das ist aber auch ganz oft, dass die diese sogenannte pädagogische 4 vergeben.

Also ich hatte das in meinen Kursen damals öfter gehört, dass die gesagt haben: Ja…also

ich hatte sogar einen, das fand ich wirklich heftig: Wenn Klausuren geschrieben wurden,

dann ist der rausgeschickt worden und sollte dem Hausmeister helfen.

Thorsten hat mit seiner pädagogischen 4 sogar die mittlere Reife geschafft.

Wie das sein kann, obwohl er nicht richtig lesen und schreiben konnte, ist für mich

schwer vorstellbar.

Die Schuld allein bei der Schule zu suchen, findet hier trotzdem jeder falsch.

Die Schule war mit dabei, klar, dann hast du vielleicht noch wenig Unterstützung zuhause

bekommen, oder, oder, oder.

Und das ist einfach so, ich bin ja überzeugt davon, dass wenn man am Anfang gleich merkt:

Es klappt gar nicht so gut, der kann das gar nicht so gut lernen, wenn da richtig reagiert

werden würde, würde ganz viel abfallen sozusagen, an Druck und Angst.

Dieses, was du mir jetzt wieder erzählst, dieses alles rückwärts nochmal schreiben,

das heißt immer mehr Angst, vor'm nächsten Diktat vorm nächsten Test und es wird immer

schlimmer, immer schlimmer und dann hast du so ne Art Teufelskreis, wo du einfach gar

nicht mehr so wirklich rauskommst.

Keinem von den Leuten, die hier sitzen, fällt es leicht, über ihre Schwäche zu reden.

Trotzdem wollen sie das, damit die Leute wie ich checken: Analphabet ist nicht gleich Analphabet.

-14:16 Die Bevölkerung sagt ja Analphabeten, was ist das denn, wieso können die Leute

in Deutschland nicht mehr richtig lesen und schreiben und dann ist es so, wie bei Thorsten,

dass da gesagt wird: Ja wieso, warst du faul, hast du immer geschwänzt?

Für mich ist das ne Beleidigung.

Und auch funktionale Analphabetin genannt zu werden, ist für mich ne Beleidigung.

Total.

Okay, Das Thema ist nicht ganz einfach: Die Menschen, die hier sitzen, fallen unter den

Begriff „Funktionale Analphabeten“.

Das sind Menschen, die zwar Worte und Sätze lesen und schreiben können, dafür aber Probleme

bei Texten haben und noch viele Fehler machen.

7,5 Millionen Menschen in Deutschland fallen in diese Kategorie – 7,5 Millionen.

Das belegt eine Studie der Uni Hamburg von 2011.

Dieses Jahr soll es eine neue Studie geben – alle vermuten, dass die Zahl mittlerweile

noch höher ist.

Wieso das so ist, lasse ich mir nach dem Treffen von Susanne Kiendl erklären.

Es gibt unterschiedliche Ursachen natürlich, warum ich nicht gut lesen und schreiben gelernt

habe.

Das kann einerseits sein, weil ich Legastheniker bin und nämlich ne Wahrnehmungsschwäche

habe und Dinge anders verarbeite als es andere Leute tun.

Ich kann aber auch einfach Pech gehabt haben.

Bildung ist Ländersache.

Wenn ich öfter umgezogen bin, dann bin ich in der Grundschule vielleicht da eingestiegen

wo ich schon war, heißt, ich lern nicht weiter oder ich war viel krank oder hab eine Hörschwäche

oder eine Sehschwäche, die nicht erkannt wurde

und dann nicht die Chance, dementsprechend zu lernen.

Klar gibt es bildungsferne Haushalte, vielleicht bin ich nicht unterstützt worden oder hatte

ganz viele andere Probleme und lesen und schreiben war nun wirklich das letzte worum es mir ging.

Also es gibt viele viele mögliche Gründe, die dazu führen, dass ich nicht gut lese

und schreibe

Beim funktionalen Analphabetismus gibt es aber auch verschiedene Abstufungen:

Einige können nur wenige Buchstaben lesen und schreiben,

andere schaffen mit ein paar Fehlern ganze Texte.

Fast alle haben Betroffenen haben aber eins gemeinsam: Sie schämen sich für ihre Schwäche.

Also es soll so ein bisschen dahin gehen zu sagen: Aha, es ist EINE Schwäche die jemand

hat, er ist deswegen nicht blöder, oder keine Ahnung, er hat EINE Schwäche.

Und in dieser Schwäche wurde er leider nicht gefördert, aus unterschiedlichsten Gründen,

deswegen holt er das jetzt nach und fängt jetzt an zu lernen.

Das was eigentlich bewundernswert ist, und nichts was eigentlich belächelt werden sollte

oder mit Diskriminierung bedacht werden sollte.

Zurück zu Martin.

Wir haben uns zum Essen verabredet – heute geht das, früher hat allein der Gedanke an

das Lesen einer Speisekarte bei ihm Panik ausgelöst.

Wollen Sie was essen?

Ja, ich hätte gerne das Schnitzel Wiener Art.

Ja, mit Pommes?

Ja.

Mayo?

Joa, können wir machen.

Und Salat brauche ich aber nicht so unbedingt.

Wenn ich dafür vielleicht zwei, drei mehr Pommes auf den Teller krieg….

Ist doch ein guter Deal!

Bis er die Speisekarte lesen konnte,

hat sich Martin mit Freunden lieber auf eine Currywurst getroffen.

Und auch sonst hat er Situationen, in denen er lesen musste, lieber vermieden.

Gab es auch so Strategien manchmal, die man sich überlegt hat,

um unangenehme Situationen zu vermeiden im Alltag?

In den ersten Jahren, klar.

Wenn du irgendwelche…Ich bin Brillenträger, hab meine Brille vergessen, ich hab in meinem

ganzen Leben noch keine Brille tragen müssen, weil ich so gute Augen hab.

Aber gut, das weiß ja keiner.

Und Brille ist ja jeder direkt Verständnis.

Oder hab was mit der Hand, irgendwie verletzt, kann gerade nicht so.

Ach krass, echt?

Mal eben schnell so einen Verband um die Hand wickeln ist ja kein Problem.

Das kriegst du ja hin.

Hast du das auch schon gemacht?

Das hab ich auch schon gemacht.

Wahnsinn.

Und diese Tage wo du aufstehst und schon mit Magenschmerzen aufgestanden bist,

weil du wusstest: Es geht ja schon wieder in die Schule.

Die Schulzeit war für Martin der Horror.

Schon in der Grundschule kam er nicht so gut mit wie die anderen Kinder

und wurde viel gemobbt.

Nach der 5. Klasse kam er auf die Walldorfschule

und dann auf eine Förderschule.

Trotzdem hat es mit dem Lesen und Schreiben nie so richtig gut geklappt.

Woran genau liegt das, dass man zum einen nicht mitkommt und das zum anderen irgendwie

dann auch nicht so aufholen kann, wie die anderen Kinder.

Hast du da eine Antwort drauf?

Nein.

Nein.

Aber die wird auch keiner von denen haben.

Du kannst 200, 500 Betroffene fragen, es gibt verschiedene Gründe.

Also ich kann nur sagen, mein leiblicher Vater, der hatte das Problem auch.

Was genau alles dazu geführt hat, oder nicht, man weiß es nicht.

Ich weiß einfach nur, dass es so ist und ich irgendwie damit leben muss.

Und es mir viele Jahre nicht leicht gemacht wurde.

Das was Martin mir erzählt, ist typisch für Menschen, die nicht so lesen und schreiben

können, wie der Rest von uns: Nur Stress in der Schule, keine Unterstützung zuhause.

Echt kein leichtes Schicksal.

Aber das alles hat Martin weitestgehend hinter sich gelassen.

Mit den begrenzten Möglichkeiten hab ich glaub ich so für mich im Moment das beste…

es ist zwar noch ausbaufähig, und ich bin da noch dran, aber einen akademischen Grad werde

ich wohl nicht mehr erreichen.

Sind wir mal ehrlich.

Schön wär es halt wenn ich irgendwann doch nochmal

eine Frau an meiner Seite hätte für eine längere Zeit.

Aber der musst du ja auch irgendwas bieten.

Ist wahrscheinlich auch nicht das erste, was man dann erzählt so beim Kennenlernen:

Hey übrigens: Ich hab da so ein kleines Problem.

Nein, natürlich nicht.

Viele meiner Freunde meinten: Hör mal, es gibt doch Internet, ist doch kein Thema.

Kannst Leute kennenlernen ohne Ende!

Ja, Leute kennenlernen mit Schreiben!

Fällt euch da irgendwas auf?

Ein paar mal hat er es versucht, erzählt er mir.

Aber sobald er von seiner Schwäche erzählt, kommt selten noch was zurück.

Ich hab echt Respekt davor, dass Martin mir das alles so erzählt.

Aber ist für ihn ne Herzensangelegenheit.

Deshalb ist mir das ja auch relativ wichtig, dass es vielleicht noch

mehr Leute gibt, die sehen: Mit dem Problem sind sie nicht alleine

und man kann auch anders damit umgehen, man muss sich nicht verstecken.

Von anderen Menschen wünscht er sich vor allem eins:

Dass es auch nicht so ein Ding ist, so hinter vorgehaltener Hand:

Hör mal, der kann nicht lesen und schreiben, was stimmt denn mit dem nicht.

Weil, dann kann ich genauso sagen: Hör mal, wenn ich lange genug bei dir rumbohre,

dann finde ich bestimmt auch ganz viele Sachen, wo bei dir was nicht stimmen könnte.

Aber muss ich das?

Mach ich das?

Und warum machen die das?

Nur um mich selber besser zu fühlen, weil sie selbst auch in vielen Sachen unfähig sind?

Einfach die Leute so akzeptieren wie sie sind.

Mittlerweile geht Martin offen mit seinem Problem um.

Aber das können die wenigsten.

Deswegen wär es doch schön, wenn wir alle ein bisschen weniger verurteilen

und ein bisschen mehr unterstützen würden.

Ich zumindest hab mir vorgenommen, ab jetzt ein bisschen sensibler zu reagieren,

wenn jemand mich nach dem nächsten Zug fragt, obwohl er direkt neben dem Fahrplan steht.

Das war's von mir. Danke für's Zugucken.

Mich würde interessieren:Kennt auch jemanden, der von der Lese- Rechtschreibschwäche betroffen ist?

Wenn ja, schreibt das hier gerne in die Kommentare.

Oben haben wir Euch auch noch einen Film von dem iChance-Team verlinkt.

Die haben Fynn Kliemann im Kliemannsland besucht und haben mit ihm zusammen Bücherregale aufgebaut.

Lohnt sich auf jeden Fall auch anzugucken!

Also, bis zur nächsten Reportage. Macht's gut!