Dreizehntes Kapitel - Das Netz wird ausgeworfen – 02
Am anderen Morgen stand ich früh auf, aber Holmes war noch zeitiger aufgewesen, denn als ich mich ankleidete, sah ich ihn den Fahrweg entlang auf das Schloß zukommen.
»Ja, ja, wir werden ein tüchtiges Tagewerk vor uns haben,« bemerkte er und rieb sich dabei voll Entzücken über diese Aussicht die Hände.
»Die Netze sind alle ausgelegt – der letzte Akt kann beginnen. Ehe der Tag zu Ende ist, werden wir wissen, ob wir unseren großen raubgierigen Hecht gefangen haben, oder ob er uns durch die Maschen gegangen ist.«
»Bist du schon draußen auf dem Moor gewesen?«
»Ich habe von Grimpen einen Bericht über Seldens Tod nach Princetown geschickt. Ich glaube versprechen zu können, daß keiner von euch in dieser Angelegenheit behelligt wird. Auch habe ich meinem treuen Cartwright Bescheid gegeben; der gute Junge hätte sich sonst gewiß auf die Schwelle meiner leeren Hütte gelegt, wie ein Hund, der auf dem Grab seines Herrn den Tod erwartet; deshalb mußte ich ihn darüber beruhigen, daß ich gesund und munter bin.«
»Was haben wir zunächst zu tun?«
»Sir Henry aufzusuchen – ah, da ist er ja.«
»Guten Morgen, Holmes,« rief der Baronet. »Sie sehen ja aus wie ein General, der mit seinem Generalstabschef den Plan einer Schlacht bespricht.«
»Der Vergleich ist sehr richtig. Watson wollte meine Befehle einholen.«
»Ich auch.«
»Sehr angenehm. Wenn ich Sie recht verstanden habe, sind Sie für heute abend bei Ihren Freunden, den Stapletons, zu Tisch geladen?«
»Ich hoffe, Sie kommen auch mit. Es sind sehr nette Leute, und ich weiß bestimmt, daß es ihnen sehr lieb wäre, Sie ebenfalls zu sehen.«
»Ich fürchte, Watson und ich müssen nach London fahren.«
»Nach London?«
»Ja; ich glaube, so wie die Sachen jetzt liegen, können wir dort mehr von Nutzen sein.«
Des Baronets Gesicht wurde merklich länger.
»Ich hoffte,« sagte er nach einer kleinen Pause, »Sie würden mir zur Seite stehen, bis der ganze Fall aufgeklärt ist. Baskerville Hall und das Moor sind nicht gerade ein angenehmer Aufenthalt, wenn man allein ist.«
»Mein lieber junger Freund, Sie müssen mir ohne Bedenken Vertrauen schenken und genau tun, was ich Ihnen sage. Erzählen Sie nur Ihren Freunden, wir wären sehr glücklich gewesen, wenn wir hätten mitkommen können, aber eine dringliche Angelegenheit hätte unsere Anwesenheit in der Stadt erfordert. Wir hofften sehr bald nach Devonshire zurückzukehren. Wollen Sie nicht vergessen, dies auszurichten?«
»Wenn Sie es durchaus wünschen –«
»Ich versichere Ihnen, es ist unbedingt notwendig.«
Ich sah an des Baronets finster zusammengezogenen Brauen, daß er unsere Abreise als Fahnenflucht ansah, und daß ihn dies tief verletzte.
»Wann gedenken Sie zu reisen?« fragte er endlich in kaltem Tone.
»Unmittelbar nach dem Frühstück. Wir fahren nach Coombe Tracey, aber Watson läßt seine Sachen hier; da haben Sie ein Pfand, daß er wiederkommt. Watson, du wirst Stapleton eine Zeile schreiben, daß du zu deinem Bedauern nicht kommen kannst.«
»Ich habe große Lust, mit Ihnen nach London zu fahren,« sagte der Baronet. »Warum sollte ich eigentlich hier bleiben?«
»Weil hier Ihr Posten ist. Weil Sie mir Ihr Wort gaben, Sie würden tun, was ich Ihnen sage. Und ich sage Ihnen, Sie müssen hier bleiben.«
»Also gut, ich bleibe.«
»Noch eins. Ich wünsche, daß Sie nach Merripit House fahren. Schicken Sie aber Ihr Wägelchen zurück, und sagen Sie den Stapletons, daß Sie beabsichtigen, zu Fuß nach Hause zu gehen.«
»Zu Fuß – über das Moor?«
»Ja.«
»Aber gerade davor warnten Sie mich ja so oft.«
»Diesmal können Sie es in aller Sicherheit tun. Wenn ich nicht volles Vertrauen zu Ihren Nerven und zu Ihrem Mut hätte, so würde ich Ihnen den Vorschlag nicht machen; aber es kommt alles darauf an, daß Sie zu Fuß übers Moor gehen.«
»Dann will ich's tun.«
»Und wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist – gehen Sie keinen anderen Weg als den Fußpfad, der von Merripit House zur Grimpener Landstraße führt. Übrigens ist das der nächste Weg nach Baskerville Hall und darum auch der natürlichste.«
»Ich werde genau tun, was Sie mir sagen.«
»Sehr gut. Es wäre mir angenehm, so bald wie möglich nach dem Frühstück abzufahren, damit ich am Nachmittag in London sein kann.«
Ich war über Holmes' Anordnungen sehr erstaunt, obwohl ich mich erinnerte, daß er am Abend vorher zu Stapleton gesagt hatte, sein Besuch würde nur bis zum Morgen dauern. Ich hatte aber nicht gedacht, daß er mich mit nach London nehmen würde, und vor allen Dingen konnte ich nicht begreifen, daß gerade in diesem Augenblick – dem kritischen, wie er selber sagte – wir uns alle beide entfernen sollten. Natürlich war aber nichts anderes zu tun, als ihm blindlings zu gehorchen; wir verabschiedeten uns also von unserem sehr verstimmten Freund, Sir Henry, und waren ein paar Stunden später auf dem Bahnhof von Coombe Tracey, von wo wir den Wagen nach Baskerville Hall zurückschickten. Ein kleiner Junge stand wartend auf dem Bahnhof und kam sofort auf Holmes zu, als er uns erblickte.
»Befehle, Herr?«
»Du nimmst diesen Zug, Cartwright, und fährst nach London. Unmittelbar nach der Ankunft schickst du vom Bahnhof aus ein mit meinem Namen unterzeichnetes Telegramm an Sir Henry Baskerville: wenn er mein verlorenes Taschenbuch fände, so möchte er es mit der Post eingeschrieben zu meiner Wohnung in der Bakerstraße schicken.«
»Jawohl, Herr.«
»Und frage im Stationsbureau, ob nichts für mich angekommen ist.«
Der Junge kam mit einem Telegramm zurück, das Holmes mir reichte. Es lautete:
»Telegramm erhalten. Komme mit Blankohaftbefehl; treffe 4:40 ein. Lestrade.«
»Das ist die Antwort auf mein Telegramm von heute früh,« sagte Holmes. »Lestrade ist nach meiner Ansicht der Beste in seinem Beruf, und wir werden vielleicht seinen Beistand nötig haben. Und nun, Watson, können wir unsere Zeit wohl nicht besser nutzen, als wenn wir bei deiner Bekannten, Frau Laura Lyons, einen Besuch machen.«
Sein Schlachtplan begann mir klar zu werden. Durch den Baronet wollte er die Stapletons davon überzeugen, daß wir abgereist sind; in Wirklichkeit jedoch tauchten wir in dem Augenblick wieder auf, in dem wir wahrscheinlich gebraucht würden. Wenn Sir Henry bei Stapletons das aus London erhaltene Telegramm erwähnte, so mußte ihnen das den letzten etwa noch vorhandenen Verdacht nehmen. Mir war's, als sähe ich bereits unsere Netze sich immer dichter um den gefräßigen Hecht zusammenschließen.