Elftes Kapitel - Der Mann auf der Felsspitze - 02
Die Geschichte der Frau war in sich zusammenhängend, und mit all meinen Fragen gelang es mir nicht, ihre Aussagen ins Wanken zu bringen. Ich konnte nichts weiter tun, als Nachforschungen anstellen, ob sie wirklich zu der Zeit, zu der sich die Tragödie von Baskerville Hall abgespielt hatte, Schritte tat, um sich scheiden zu lassen.
Es war nicht anzunehmen, daß sie geleugnet hätte, in der Taxusallee von Baskerville Hall gewesen zu sein, wenn sie in Wirklichkeit dort gewesen wäre, denn, um dorthin zu gelangen, hätte sie sich unbedingt eines Wagens bedienen müssen, und dieser hätte nicht vor den frühen Morgenstunden wieder in Coombe Tracey anlangen können. Eine solche Ausfahrt ließ sich nicht geheim halten. Es war also anzunehmen, daß sie in dieser Hinsicht die Wahrheit sagte – oder wenigstens einen Teil der Wahrheit. Verwirrt und entmutigt verließ ich sie. Abermals stand ich vor jener unübersteiglichen Mauer, die anscheinend auf jedem Weg sich erhob, um mein Ziel zu versperren. Und doch, je mehr ich an das Mienenspiel und das Benehmen der Dame dachte, desto stärker wurde der Eindruck, daß sie mir irgend etwas verheimlichte.
Warum war sie so bleich geworden? Warum mußte ihr jedes Zugeständnis sozusagen abgekämpft werden? Warum war sie in jenen Tagen, als die Tragödie die ganze Gegend in Aufruhr versetzt hatte, so schweigsam gewesen? Ganz gewiß ließ dies alles sich nicht auf eine so unschuldige Art erklären, wie sie mich glauben machen wollte. Für den Augenblick konnte ich jedoch keine weiteren Schritte in diese Richtung tun, sondern mußte mich der anderen Spur zuwenden, die in den Steinhütten auf dem Moor zu suchen war.
Und das war eine von sehr ungewisser Art. Es kam mir so recht zum Bewußtsein, als ich auf der Rückfahrt bemerkte, wie Hügel um Hügel die Spuren des Heidenvolkes zeigte. Barrymore hatte nichts weiter sagen können, als daß der Fremde in einer von den verlassenen Hütten hauste, und nun sah ich, daß diese zu Hunderten überall übers Moor verstreut waren. Immerhin hatte ich mein eigenes nächtliches Erlebnis als Ausgangspunkt, denn ich hatte mit eigenen Augen den Mann selber auf dem Gipfel des ›Black Tor‹ stehen sehen. Von diesem Punkt aus mußte ich also meine Nachforschungen beginnen. Ich konnte nichts anderes tun, als von diesem Punkt aus jede Hütte auf dem Moor zu untersuchen, bis ich die richtige traf. War dieser Mann in der Hütte, so mußte er mir selber gestehen – wenn nötig, vor der Mündung meines Revolvers – wer er war und warum er uns so lange nachgespürt hatte. Im Gedränge der Regent Street konnte er uns wohl entschlüpfen, aber hier auf dem einsamen Moor sollte ihm das doch schwer werden. Sollte ich dagegen die Hütte finden, ihr Bewohner aber nicht anwesend sein – nun, so mußte ich dort warten, bis er zurückkehrte, mochte meine Wache auch noch so lange dauern. Holmes hatte ihn in London entwischen lassen. Es wäre in der Tat ein Triumph für mich gewesen, hätte ich den Mann dingfest gemacht, den mein Meister nicht halten konnte.
Das Glück war während dieser Untersuchung wieder und wieder gegen uns gewesen – nun auf einmal kam es uns zu Hilfe. Und der Glücksbringer war niemand anderes als der alte Frankland, der mit seinem grauen Backenbart und rotem Gesicht vor seiner Gartenpforte auf dem Weg stand, den ich entlang fuhr.
»Guten Tag, Doktor Watson.« rief er mit ungewohnt guter Laune. »Sie müssen wirklich Ihre Pferde ein bißchen ausruhen lassen und zu mir hereinkommen, um ein Glas Wein mit mir zu trinken und mir zu gratulieren.«
Ich empfand durchaus keine freundschaftlichen Gefühle für den Mann, der nach allem, was man mir erzählte, seine Tochter so schlecht behandelt, aber mir lag viel daran, Perkins mit dem Fuhrwerk nach Hause zu schicken, und diese Gelegenheit war günstig. Ich stieg also aus und sagte dem Kutscher, er möchte Sir Henry bestellen, daß ich zur Essenszeit zu Hause wäre. Dann folgte ich Frankland in sein Speisezimmer.
»Heut ist ein großer Tag für mich, Herr Doktor – einer von den wenigen Tagen in meinem Leben, die ich rot anstreichen kann.« rief er, unaufhörlich kichernd. »Ich habe einen Doppelsieg errungen Ja, ich will den Leuten hier beibringen, daß das Gesetz Gesetz ist, und daß es hier einen Mann gibt, der sich nicht fürchtet, es anzurufen. Ich habe ein Wegerecht mitten durch des alten Middletons Park nachgewiesen, mitten durch, Herr Doktor, keine hundert Ellen von seiner Haustür. Was sagen Sie dazu? Wir wollen diesen Magnaten zeigen, daß sie sich nicht so mir nichts dir nichts über die Rechte von uns Bürgerlichen hinwegsetzen können, hol' sie der Henker! Dann habe ich den Wald gesperrt, wo die Fernworthyer immer Picknicks hielten. Diese Höllenbrut scheint zu glauben, es gebe keine Eigentumsrechte und sie können nach freiem Belieben überall herumschwärmen mit ihren Flaschen und mit ihrem Butterbrotpapier. Beide Prozesse sind entschieden, Doktor Watson, und beide zu meinen Gunsten. Solch einen Tag habe ich nicht gehabt, seitdem ich Sir John Morland verurteilen ließ, weil er in seiner eigenen Fasanerie geschossen hat.«
»Wie in aller Welt brachten Sie das denn fertig?«
»Lesen Sie's nur in den Büchern nach, Doktor. Es lohnt der Mühe! Frankland gegen Morland, Gerichtshof: Queens Bench. Es kostet mich 200 Pfund, aber ich setze mein Recht durch!«
»Haben Sie irgend einen Vorteil davon?«
»Keinen, Herr Doktor, gar keinen. Ich sage es voll Stolz, ich habe gar kein Interesse an der Sache. Ich handle durchaus nur aus Pflichtgefühl zum allgemeinen Besten. Ich bezweifle zum Beispiel nicht, daß die Leute von Fernworthy mich heute abend am liebsten verbrennen würden. Als sie's das letztemal versuchten, sagte ich der Polizei, sie müsse derart anstößige Auftritte verhindern. Die Grafschaftspolizei ist in einem skandalösen Zustand, Herr Doktor, und hat mir nicht den Schutz gewährt, auf den ich Anspruch habe. Der Prozeß Frankland gegen Reginam wird die Sache vor die Öffentlichkeit bringen. Ich sagte ihnen, es würde ihnen noch mal leid tun, mich so behandelt zu haben, und meine Worte haben sich denn auch bereits bewahrheitet!«
»Wieso?«
Der alte Mann machte ein sehr verschmitztes Gesicht.
»Weil ich ihnen was sagen könnte, was sie um ihr Leben gern wüßten; aber nichts soll mich dazu bringen, diesen Schuften in irgendeiner Weise zu helfen.«
Ich hatte bereits nach einem Vorwand gesucht, diesem Geschwätz zu entgehen; die letzten Worte erregten jedoch in mir den Wunsch, mehr zu hören. Ich hatte von dem Widerspruchsgeist des alten Sünders genug gesehen, um nicht zu begreifen, daß er seine Herzensergüsse sofort einstellen würde, wenn ich mich irgendwie neugierig zeigte. Ich sagte daher mit möglichst gleichgültiger Miene:
»Jedenfalls handelt sich's um irgend eine Wilddieberei.«
»Haha, mein Junge! Nein, um etwas viel, viel Wichtigeres. Was meinen Sie wohl? Es betrifft den Sträfling auf dem Moor.«
Ich fuhr in die Höhe und rief:
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie wissen, wo der Mann ist?«
»Ich weiß vielleicht nicht ganz genau, wo er ist, aber ich bin vollkommen sicher, daß ich der Polizei helfen könnte, ihn festzunehmen. Ist es Ihnen niemals eingefallen, daß es kein besseres Mittel gibt, den Mann zu fangen, als wenn man ausfindig macht, von wem er seine Nahrungsmittel erhält? Man braucht nur die Spur zu verfolgen und man hat ihn.«
Der alte Herr schien in der Tat in sehr unbequemer Weise dicht bei der Wahrheit zu sein.
»Ohne Zweifel haben Sie recht,« antwortete ich, »aber wie wissen Sie überhaupt, daß er irgendwo auf dem Moor ist?«
»Das weiß ich, weil ich mit eigenen Augen den Boten gesehen habe, der ihm sein Essen bringt.«
Ich bekam Angst um Barrymore. Es war keine Kleinigkeit, in der Gewalt dieses boshaften alten Querulanten zu sein. Aber als er weiter sprach, fiel mir ein Stein vom Herzen.
»Es wird Sie überraschen, wenn ich Ihnen sage, daß ihm sein Essen von einem Jungen gebracht wird. Ich sehe ihn jeden Tag durch mein Fernrohr, das oben auf meinem Dach steht. Er geht immer um dieselbe Zeit denselben Weg, und zu wem sollte er sonst gehen, als zu dem Sträfling?«
Das war allerdings wirklich Glück. Doch trotz meiner inneren Freude unterdrückte ich jedes Anzeichen von Neugier. Ein Knabe! Barrymore hatte gesagt, unser Unbekannter würde von einem Knaben versorgt. Auf dessen Spur und nicht auf die des Sträflings war Frankland geraten. Wenn ich ihn dazu bringen konnte, mir alles zu sagen, was er wußte, so ersparte mir das vielleicht eine lange und mühsame Jagd. Aber das beste Mittel dazu waren offen zur Schau getragene Ungläubigkeit und Gleichgültigkeit.
»Meiner Meinung nach dürfte es wahrscheinlicher sein, daß der Junge der Sohn irgend eines Moorschäfers ist und seinem Vater das Mittagessen bringt.«
Bei dem geringsten Widerspruch sprühte der alte Autokrat sofort Feuer und Flammen. Er sah mich mit einem giftigen Blick an und seine grauen Barthaare sträubten sich wie die eines wütenden Katers.
»Was Sie nicht sagen!« rief er, und damit streckte er den Finger in der Richtung zum Moor aus. »Sehen Sie den ›Black Tor‹ dahinten? Sehen Sie darunter den niedrigen Hügel mit dem Dornbusch darauf? Das ist der steinigste Teil des ganzen Moores. Würde wohl ein Schäfer da sein Standquartier aufschlagen? Ihre Vermutung, Herr, ist völlig absurd.«
Ich antwortete ganz kleinlaut, ich hätte gesprochen, ohne alle diese Tatsachen zu kennen. Meine Unterwürfigkeit gefiel ihm und veranlaßte ihn zu weiteren vertraulichen Mitteilungen.
»Verlassen Sie sich darauf, Doktor, ich habe meine guten Gründe, bevor ich mir eine Meinung bilde. Ich sah den Jungen wieder und immer wieder mit seinem Bündel. Jeden Tag und oft sogar zweimal täglich konnte ich – aber warten Sie doch mal, Doktor Watson. Täuschen meine Augen mich oder bewegt sich gerade in diesem Augenblick etwas den Hügel hinauf?«