Oerlikon
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung «Andrea erzählt» vom 17. März 2017. Es freut mich sehr, sind Sie wieder mit dabei. Zürich ist eine spezielle Stadt. Sie ist schön und es gibt eine Menge Kultur und auch Jobs hier. Deshalb wollen viele Leute hier leben. Aber es gibt es Problem: Die Stadt ist eingeklemmt [1] zwischen zwei Hügelreihen [2] und einem See. Darum kann sie nicht immer weiter wachsen. Drei Dinge passieren deshalb: Die Wohnungen werden teurer, die Häuser höher — und Quartiere, die niemand gern hatte, werden plötzlich beliebt. Das ist auch mit Oerlikon passiert. Gerne erzähle ich Ihnen heute von diesem neuen Boom-Quartier [3].
*
Wer aus der Innenstadt nach Oerlikon will, muss durch einen Tunnel fahren oder über einen Hügel. Es liegt also etwas abgelegen [4] von der Innenstadt. Als ich ein Kind war, gehörte dieser Stadtteil für mich darum nicht richtig zu Zürich. Ich kannte hier auch niemanden und fand es etwas trostlos [5]. Das war damals auch wirklich noch so. Es gab zwar viele Strassen mit Häusern für Familien. Aber sonst war nicht viel los. Ich kannte vor allem den Bahnhof. Und vor dem hatte ich Angst. Als ich elf Jahre alt war, musste ich dort nämlich mal umsteigen. Ich fragte einen Mann: «Wo fährt der Zug nach Uster?» Er sagte: «Dazu musst du durch eine ziemlich dunkle Unterführung [6] bis zu Gleis drei hinüber gehen.» Er hatte recht: Die Unterführung war wirklich unheimlich [7].
Heute sind die Unterführungen immer noch da, aber sie sind viel heller und freundlicher. Zudem hat es mehr Leute und man ist nicht so allein. Als ich dann endlich auf dem richtigen Gleis war, wartete ich dort auf meinen Zug. Ich war schüchtern [8] und schaute nur auf meine Schuhe hinab. Irgendwann sah ich trotzdem, dass ein Mann auf der anderen Seite der Gleise mir zuwinkte [9]. Zuerst schaute ich weg. Aber irgendwann sah ich dann doch hin. Da merkte ich, dass der Mann unter seinem Mantel nackt war. Und er wollte, dass ich das sah. Das fand ich so schlimm, dass ich nicht wusste, was ich tun sollte. Heute sage ich zu meinen Kindern: «Solche Menschen wollen einen meist nur erschrecken. Sie tun einem nichts. Und sie können auch nichts dafür [10], dass sie so sind. Sie sind krank.» Aber damals wusste ich das noch nicht. Und ein Handy hatte ich auch nicht. Ich war also ganz allein und hatte Panik, auch wenn der Mann ja auf der anderen Seite der Gleise war.
Ich hatte Glück. Eine Frau hatte gesehen, was passiert war. Sie kam zu mir und sagte: «Komm, steh neben mich. Dann hört er auf.» Ich war sehr froh. Denn als wir das nächste Mal hinüber sahen, war der Mann weg. Die Frau wartete noch mit mir, bis mein Zug kam. Damit habe ich von ihr etwas Wichtiges gelernt. Denn wie fast alle jungen Frauen, habe ich später noch ein paar Mal solche Dinge erlebt. Aber ich wusste jetzt, dass es gut ist, wenn man sich eine andere Frau sucht und mit ihr anfängt zu sprechen. Noch später hatte ich sogar mal den Mut, zu einem solchen Mann zu sagen: «Gehen Sie weg und lassen Sie mich in Ruhe. Es interessiert mich nicht, Sie nackt zu sehen.» Das half.
Ich erzählte meinen Eltern nichts von dem Erlebnis mit dem nackten Mann. Warum, weiss ich nicht. Aber von da an hatte ich immer ein schlechtes Gefühl, wenn ich an Oerlikon dachte. Später habe ich meinen Kindern beigebracht [11], was sie tun sollen, wenn so etwas passiert: «Geht sofort zu einer Frau und sagt ihr, was los ist. Wenn niemand da ist, nehmt ihr euer Handy und telefoniert mit jemandem. Dann gehen die meisten weg.» Bis jetzt hatten sie aber Glück — und ich hoffe fest, dass das so bleibt.
*
Später hatte ich dann eine Freundin in Oerlikon. Sie hiess Sandra. Wie ich war sie früh von zuhause weggezogen. Weil die Wohnungen hier billig waren, ging sie nach Oerlikon. Ich gebe zu, dass ich nicht gern mit dem Zug zu ihr gefahren bin. Ich hatte nicht vergessen, was an diesem Bahnhof passiert war. Aber ich hatte Sandra gern und besuchte sie trotzdem oft. Wenn wir zusammen waren, war es immer lustig. Sie wohnte an der Wehntalerstrasse. Diese ist extrem lang und führt aus der Stadt hinaus.
Sandras Wohnung hatte nur ein Zimmer und eine Küche. Einmal rief sie mich an und sagte: «Ich backe morgen eine Roulade [12]. Kommst du auch?» Ich sagte: «Oh, ja gern! Aber du musst mir genau zeigen, wie es geht. Und du musst etwas Geduld [13] haben mit mir.» Sie versprach es. Ich hatte Rouladen schon immer gemocht, aber ich hatte keine Ahnung, wie man so etwas machte. Sandra war eine sehr gute Bäckerin. Sie erklärte mir: «Wir backen zuerst einen flachen Biskuitteig. Das ist das Einfachste. Man muss den Teig dazu einfach auf ein Blech [14] streichen.»
Doch dann wurde es schwierig und chaotisch. Der Kuchen muss nämlich weich bleiben, wenn er abkühlt. Sonst kann man ihn nicht aufrollen und er zerbricht. Sandra sagte: «Sobald wir das Blech aus dem Ofen nehmen, gibst du mir ein zweites Blech. Das legen wir dann als Deckel darüber. So bleibt der Dampf [15] drin und der Kuchen trocknet nicht aus.» Nun mussten wir warten, bis alles abgekühlt war. Wir tranken Tee und rauchten.
Als der Kuchen endlich abgekühlt war, sagte Sandra: «So, und jetzt legst du ein sauberes Geschirr-Tuch [16] auf den Küchentisch.» Also tat ich das. Danach mussten wir das zweite Blech wegnehmen und den flachen Kuchen auf das Tuch stürzen [17]. Ich wollte es alleine probieren. Sandra sagte: «Ok, aber du musst es wirklich, wirklich schnell tun!»
Ich nickte und drehte das Blech so schnell um, dass der Teig auf den Boden flog. Zuerst regte sich Sandra auf. Aber dann lachte sie und sagte: «Ich hätte wissen müssen, dass das passiert. Du bist einfach ein Clown und keine Bäckerin.» Sie hatte recht. Sandra lachte eher selten und machte immer alles möglichst sorgfältig [18]. Ich war das Gegenteil. Deshalb hatten wir einander vielleicht so gern.
Also knieten wir auf den Boden und mussten den Kuchen von dort ganz vorsichtig auf das Tuch ziehen. Ich sagte: «Gut, dass das bei dir zuhause passiert ist. Bei mir wäre der Boden schmutzig gewesen und wir hätten alles wegwerfen müssen.» Als wir den Teig endlich auf dem Tuch hatten, mussten wir alles ganz vorsichtig auf den Tisch heben. Nun konnten wir Schokoladen-Creme darauf streichen und alles aufrollen. Es gab zwar nicht die schönste Roulade, die ich je gegessen habe, aber ganz sicher die lustigste.
*
Heute habe ich viele Freunde in Oerlikon. Sogar André, mein Verleger [19], wohnt hier und hat einen Buchladen. Denn in den letzten zehn Jahren wurden hier sehr viele grosse und helle Wohnungen gebaut. Sie gehören meist zu Siedlungen [20] mit Läden, Kindergärten und vielen Wohnungen für junge Familien. Im Moment sieht es in «Neu-Oerlikon» noch nicht so schön aus. Alles ist noch zu frisch und kühl [21]. Aber dafür gibt es sehr viel Platz und die Kinder können Fahrrad fahren und draussen spielen. Zudem sieht man jetzt schon, wie lebendig alles bald sein wird. Jedes Jahr wachsen mehr Blumen. Und die jungen Bäume zwischen den Häusern werden immer grösser. An einigen Häusern hat es sogar Kletterpflanzen [22], die daran hochwachsen.
Als ich das letzte Mal dort war, sagte André: «Weisst du, manchmal muss ich mich schon noch daran gewöhnen, dass ich jetzt in Oerlikon lebe. Früher haben wir doch alle Witze gemacht über diesen Teil der Stadt. Aber jetzt kommen so viele Künstler und junge Familien her. Wir müssen nur noch etwas Geduld haben. Dann wird es richtig cool sein, hier zu wohnen.»
Ich bin sicher, dass er recht hat. Ich wohne in der Altstadt. Und seit ich hier bin, sind ein Bäcker, ein Käseladen, ein Fischladen, ein kleiner Supermarkt, Starbucks und Mc Donalds geschlossen worden. Denn hier ist es eben nicht mehr «cool». Aber ehrlich gesagt: Ich wohne immer noch sehr gern hier und werde sehr, sehr wahrscheinlich nie nach Oerlikon ziehen.
*
Jetzt freue ich mich sehr, wenn Sie bei Instagram unter #PodClubAndrea und #andreaerzaehlt vorbeischauen und am 31. März wieder auf podclub.ch oder über unsere App mit dem Vokabeltrainer mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt». Dann werde ich Ihnen von «Hünenberg» erzählen. Auf Wiederhören!
Glossaire: Andrea erzählt (D) [1] einklemmen: zwischen zwei Grenzen, Begrenzungen feststecken
[2] die Hügelreihe: eine Reihe von Hügeln (kleine Berge)
[3] das Boom-Quartier: ein Stadtteil, der plötzlich in Mode kommt
[4] abgelegen: weg vom Zentrum, von einem Ort, an dem etwas los ist
[5] trostlos: trist, ohne Freude
[6] die Unterführung: ein Tunnel unter einer Strasse oder einem Bahngleis hindurch
[7] unheimlich: gruselig, mach Angst
[8] schüchtern: scheu, nicht mutig
[9] zuwinken: jemanden mit einer Handbewegung grüssen
[10] etwas dafür können: an etwas schuld sein, Einfluss haben auf eine Handlung oder etwas, was passiert
[11] jemandem etwas beibringen: jemanden etwas lehren
[12] die Roulade: ein Kuchen aus einem Teig aus Eiern, Zucker und Mehl (Biskuitteig), den man mit Marmelade oder eine Creme füllt und dann aufrollt.
[13] Geduld haben: Nerven und Zeit für jemanden oder etwas haben ohne sich aufzuregen, wenn es nicht schnell klappt
[14] das Blech: ein dünnes Stück Metall, z.B. zum Backen
[15] der Dampf: Wasser, das ab ca. 100 Grad Celsius zu Gas wird
[16] das Geschirr-Tuch: ein Stück Stoff, um nach dem Abwaschen das Geschirr abzutrocknen
[17] stürzen: hinunterfallen, oder etwas sehr schnell umkehren, damit der Inhalt hinausfällt (meist beim Kochen)
[18] sorgfältig: vorsichtig, korrekt
[19] der Verleger: jemand, der Bücher macht (mit den Autorinnen und Autoren) und schaut, dass sie gedruckt und verkauft werden
[20] die Siedlung: eine Gruppe meist ähnlicher Häuser, die zusammengehören
[21] kühl: nicht warm, hier: ohne viel Charme