Kapitel 8. Einsamkeit
Am gleichen Abend traf Innstetten wieder in Berlin ein. Er war mit der Kutsche von den Dünen direkt zur Bahnstation gefahren, ohne noch einmal Kessin zu durchqueren. Um die offiziellen Dinge kümmerten sich die beiden Sekundanten. Im Zug dachte Innstetten noch einmal an das Geschehene zurück. Es waren ähnliche Gedanken wie zwei Tage zuvor. ‚Es ist so gekommen, wie es hat kommen müssen. Wirklich? Ich bin jetzt fünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fünfundzwanzig Jahre später gefunden hätte, so wäre ich siebzig. Dann hätte Wüllersdorff gesagt, ich sei ein Narr. Es wäre zum Lachen gewesen. Aber wo liegt die Grenze? Nach zehn Jahren muss man sich noch duellieren, und nach elf Jahren ist es Unsinn? Die Grenze, die Grenze. Wo ist sie? Wenn ich an seinen letzten Blick denke, wie er noch gelächelt hat … Innstetten, Sie mit Ihren Grundsätzen … Sie hätten es mir ersparen können und sich selber auch … Und Crampas hatte vielleicht recht. Wenn ich voller Hass gewesen wäre … Aber so war alles wie eine Komödie. Und jetzt geht die Komödie weiter und ich muss Effi wegschicken. Wenn ich die Briefe weggeworfen hätte, hätte nie jemand davon erfahren. Ich hätte mich innerlich von Effi scheiden müssen, nicht vor der Welt. Dann würde ich jetzt Crampas' letzten Blick nicht vor mir sehen.'
Effi war seit fast drei Wochen in Ems und wohnte dort im Erdgeschoß einer wunderschönen Villa. Es war ein herrlicher Morgen, in dem kleinen Garten zwitscherten die Vögel. Effi saß mit einer Bekannten draußen am Tisch.
„Ich weiß nicht“, sagte Effi, „warum ich schon seit vier Tagen keinen Brief bekommen habe, er schreibt doch sonst täglich. Ob Annie krank ist? Oder er selbst?“
Als der Postbote endlich da war, brachte er mehrere Zeitungen und einen großen, eingeschriebenen Brief an Frau Baronin von Innstetten. Effi unterschrieb, und nun ging der Postbote wieder. Sie hatte Angst, den Brief zu öffnen. Was bedeutete dieser dicke, eingeschriebene Brief ? Er war aus Hohen-Cremmen. Effi sah, dass es die Handschrift der Mutter war. Von Innstetten immer noch nichts. Sie öffnete den Brief. Geldscheine und ein langer Brief lagen darin. Effi begann zu lesen. Aber sie kam nicht weit, der Brief fiel ihr aus den Händen, sie wurde totenblass.
„Was ist Ihnen, liebe Freundin? Schlechte Nachrichten?“
Effi nickte, stand auf, nahm den Brief und ging in ihr Zimmer. Als sie beim Bett angekommen war, wurde sie ohnmächtig.
Minuten vergingen. Als es Effi wieder besser ging, setzte sie sich auf einen Stuhl und sah auf die stille Straße hinaus. Der Brief lag auf dem Tisch, aber ihr fehlte der Mut, weiterzulesen. Endlich sagte sie: ‚Wovor habe ich eigentlich Angst? Was kann noch gesagt werden, was ich mir nicht schon selber gesagt habe? Crampas ist tot, ich kann nicht nach Hause zurück, in ein paar Wochen werden wir geschieden sein, und das Kind wird man dem Vater lassen. Natürlich. Ich bin schuldig, und eine Schuldige kann ihr Kind nicht erziehen. Ich will sehen, was die Mama darüber schreibt, wie sie sich mein Leben denkt.'
Sie nahm den Brief wieder, um auch den Schluss zu lesen: „… Und nun Deine Zukunft, liebe Effi. Du wirst allein sein, aber wir werden Dir Geld zum Leben geben. Du wirst am besten in Berlin wohnen. Da wirst du zu den vielen gehören, die nicht mehr frei sind und daran selber schuld sind. Du wirst einsam leben, und wenn Du das nicht willst, wahrscheinlich aus der Welt der Adligen herabsteigen müssen. Die Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein. Und was das Traurigste für uns und für Dich ist: Auch das Elternhaus wird Dir verschlossen sein. Wir können Dir keinen stillen Platz in Hohen- Cremmen anbieten. Denn die Welt soll wissen, dass wir mit Deinem Tun nicht einverstanden sind …“
Effi konnte nicht weiterlesen, sie brach in Tränen aus.
Am gleichen Tag packte Effi ihre Sachen und reiste zurück nach Berlin.
Drei Jahre waren vergangen, und Effi wohnte in einer kleinen Wohnung in der Königgrätzerstraße. Es war eine einfache, aber hübsche Wohnung im dritten Stock. Besonders gut gefiel sie Doktor Rummschüttel, der dann und wann vorbeikam. Er hatte der armen, jungen Frau die Rheumatismuskomödie und alles andere längst verziehen. Er war jetzt fast achtzig, aber wenn Effi ihm einen Brief schickte und um einen Besuch bat, so war er am nächsten Vormittag da. Seit einiger Zeit war Effi oft krank. Rummschüttel wollte Effi nach Ems schicken, aber sie hatte kein Interesse an einer Kur.
Effi war nicht alleine: Roswitha lebte bei ihr. Sie war ganz am Anfang eines Tages einfach gekommen.
„Roswitha. Du. Ist das eine Freude. Was bringst du? Was macht Annie?“, hatte Effi gerufen.
Roswitha erzählte, dass der gnädige Herr wieder aus dem Gefängnis zurück sei. Der Kaiser habe gesagt: „Sechs Wochen sind in einem solchen Fall gerade genug.“ Und sie habe mal sehen wollen, ob der gnädigen Frau etwas fehle und ob sie sie vielleicht brauche. Dann wolle sie gleich bleiben und dafür sorgen, dass es der gnädigen Frau wieder gut ginge.
Effi sagte: „Ja, Roswitha, was du da sagst, ist eine wunderbare Idee. Aber hast du dir alles gut überlegt? Von Annie will ich nicht sprechen, Johanna sorgt bestimmt gut für sie. Aber ich bin nicht mehr wie früher. Ich habe eine kleine Wohnung und bin jetzt arm. Ich habe nur, was man mir gibt, du weißt, von Hohen-Cremmen her. Und nun sage, was meinst du?“
„Dass ich am Samstag mit meinem Koffer komme. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, für Roswitha ist alles gut.“
Roswitha stand auf und ging zum Fenster: „Sehen Sie, gnädige Frau, den müssen Sie doch auch noch sehen.“
Nun trat auch Effi ans Fenster.
Auf der anderen Straßenseite saß Rollo und sah zum Haus hinauf.
Effi gefiel es in ihrer neuen Wohnung, obwohl sie außer Roswitha niemanden hatte. Bis Weihnachten ging es sehr gut, aber im neuen Jahr wurde Effi traurig. Es war nicht kalt, nur grau und regnerisch, und wenn die Tage kurz waren, so waren die Abende desto länger.
Was tun? Sie las, sie legte Patience, sie spielte Klavier. Sie hätte gern in einer Frauengruppe mitgemacht, die Nähkurse oder einen Kindergarten organisierte. Aber das war unmöglich, man hätte sie nicht angenommen. Schließlich fand sich etwas: Effi wollte Malerin werden. Sie lachte selber darüber, weil sie wusste, dass sie nie richtig gut werden würde. Sie begann, bei einem alten Malerprofessor Malstunden zu nehmen und war glücklich, dass sie eine Beschäftigung gefunden hatte. Oft hatte sie aber große Sehnsucht nach Hohen- Cremmen und noch größere nach Annie. Es war doch ihr Kind.
So vergingen drei Jahre. Als sie einmal aus der Malstunde kam, sah sie drei Schulkinder, zwei blond und fröhlich, das dritte dunkel und ernst. Es war Annie. Effi erschrak. Sie hatte immer gehofft, sie einmal zu treffen. Und jetzt hatte sie Todesangst. Was tun? Effi ging schnell weiter. Immer noch in großer Erregung kam sie nach Hause und erzählte Roswitha von der Begegnung. Roswitha war unzufrieden, dass Mutter und Tochter ihr Wiedersehen nicht gefeiert hatten. Effis Wunsch, Annie zu sehen, wurde immer größer. An Innstetten zu schreiben und ihn darum zu bitten, das war nicht möglich. Sie wusste, dass sie schuldig war. Aber manchmal war sie auch wütend auf Innstetten. Er hatte recht, aber zuletzt hatte er doch unrecht.
Schließlich hatte sie eine Idee. Sie kleidete sich hübsch an und ging zum Ministerium. Dort ließ sie sich bei der Ministerin anmelden. Sie wartete im Vorzimmer. Die Tür öffnete sich, und eine große, schlanke Dame trat auf Effi zu und gab ihr die Hand. „Meine liebe, gnädigste Frau“, sagte sie, „welche Freude für mich, sie wiederzusehen …“
Während sie das sagte, ging sie zum Sofa, setzte sich und zog Effi zu sich nieder. Effi freute sich über die Herzlichkeit.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Ministerin.
Effi sagte: „Ich habe eine Bitte, die Exzellenz vielleicht erfüllen können. Ich habe eine zehnjährige Tochter, die ich seit drei Jahren nicht gesehen habe und gern wiedersehen möchte.“
Die Ministerin nahm Effis Hand und sah sie freundlich an.
Effi korrigierte sich: „Wenn ich ‚drei Jahre' sage, ist das nicht ganz richtig. Vor drei Tagen habe ich sie wiedergesehen.“ Und nun erzählte Effi lebhaft von der Begegnung. „Ich bin vor meinem eigenen Kind davongerannt. Ich weiß, dass ich selber schuld bin an meiner Lage. Wie es ist, so ist es recht, ich habe es nicht anders gewollt. Aber das mit dem Kind ist doch zu hart, und ich möchte es dann und wann sehen, und zwar nicht heimlich. Alle sollen einverstanden sein.“
„Alle sollen einverstanden sein“, wiederholte die Ministerin Effis Worte. „Innstetten soll also einverstanden sein. Ich sehe, dass er es für eine gute Erziehung hält, wenn das Kind der Mutter fern bleibt. Ob das wirklich gut ist? Verzeihen Sie mir diese Bemerkung, gnädige Frau. Sie möchten also, dass ich ihn darum bitte?“
Effi nickte.
„Ich werde tun, was ich tun kann. Aber es wird nicht leicht sein. Innstetten ist ein Mann, der nach Grundsätzen handelt. Er gibt seine Grundsätze nicht gern auf. Das, was hart für Ihr Herz ist, hält er für richtig.“
„Ist es also besser, wenn ich meine Bitte zurücknehme?“
„Aber nein. Ich denke, dass es gelingt, wenn ich die Sache klug angehe. Morgen sehe ich ihn, übermorgen früh schreibe ich Ihnen, ob er einverstanden ist oder nicht. Ich denke, Sie werden Ihr Kind wiedersehen und sich an ihm freuen können. Es soll ein sehr schönes Mädchen sein. Das ist nicht verwunderlich.“