Dreizehntes Kapitel - Das Netz wird ausgeworfen – 03
Frau Laura Lyons war in ihrem Arbeitszimmer, und Sherlock Holmes eröffnete das Gespräch mit einer Geradheit und Freimütigkeit, die sie völlig überrumpelte.
»Ich untersuche die Umstände, die zum Tod des verblichenen Sir Charles Baskerville führten. Mein Freund hier, Herr Doktor Watson, hat mir mitgeteilt, was sie ihm in dieser Angelegenheit erzählt, und was Sie ihm verschwiegen haben.«
»Was sollte ich ihm denn verschwiegen haben?« fragte sie herausfordernd.
»Sie haben eingeräumt, daß Sie Sir Charles gebeten haben, er möchte um zehn Uhr an der Pforte warten. Wir wissen, daß er um diese Stunde und an diesem Ort den Tod fand. Sie haben verschwiegen, welche Verbindung zwischen den beiden Umständen besteht.«
»Es besteht gar keine Verbindung.«
»In diesem Fall muß der Zufall ganz außerordentlich genannt werden. Aber ich glaube, wir werden den Zusammenhang noch feststellen. Ich möchte ganz offen gegen Sie sein, Frau Lyons. Nach unserer Ansicht handelt es sich um einen Mord, und in die Untersuchung wird wahrscheinlich nicht nur Ihr Freund Herr Stapleton verwickelt werden, sondern vielleicht auch seine Frau.«
Die Dame sprang von ihrem Stuhl auf und rief:
»Seine Frau?«
»Diese Tatsache ist kein Geheimnis mehr. Die Person, die für seine Schwester gilt, ist in Wirklichkeit seine Frau.«
Frau Lyons hatte sich wieder gesetzt. Ihre Hände umfaßten krampfhaft die Armlehnen des Stuhles – so krampfhaft, daß die rosigen Fingernägel von dem Druck weiß wurden.
»Seine Frau!« wiederholte sie. »Seine Frau! Er ist doch unverheiratet.«
Sherlock Holmes zuckte nur stumm die Achseln.
»Beweisen Sie's mir! Beweisen Sie's mir! Und wenn Sie das können …«
Das zornige Blitzen ihrer Augen sprach deutlicher als alle Worte.
»Darauf bin ich vorbereitet,« sagte Holmes und zog dabei mehrere Papiere aus der Tasche. »Hier ist eine Photographie des Paares; sie wurde vor vier Jahren in York aufgenommen. Auf der Rückseite steht: ›Herr und Frau Vandeleur‹, aber Sie werden ihn ohne Schwierigkeiten erkennen, und sie ebenfalls. Hier sind als Aussagen glaubwürdiger Zeugen die Beschreibungen des Aussehens von Herrn und Frau Vandeleur, die damals die Privatschule von St. Oliver leiteten. Lesen Sie und sagen mir dann, ob Sie noch an der Identität des Paares zweifeln können.«
Sie überflog die Schriftstücke und sah uns dann mit dem starren Gesicht der Verzweiflung an.
»Herr Holmes,« sagte sie endlich. »Dieser Mann hat mir die Ehe versprochen, unter der Bedingung, daß ich meine Scheidung durchsetzen kann. Er hat mich belogen, der Schurke – hat mich auf jede erdenkliche Weise belogen. Kein wahres Wort hat er mir gesagt. Und warum – warum? Ich bildete mir ein, alles geschehe um meinetwillen. Und nun sehe ich, daß ich immer nur ein Werkzeug in seiner Hand war. Warum sollte ich zu ihm halten – er hat mich stets betrogen! Warum sollte ich ihn vor den die Folgen seiner verruchten Taten schützen? Fragen Sie nach allem, was Sie zu wissen wünschen – ich werde nichts, gar nichts verschweigen. Und eins schwöre ich Ihnen: als ich jenen Brief schrieb, dachte ich nicht daran, dem alten Herrn, der stets mein großmütigster Freund gewesen war, irgend etwas Böses anzutun.«
»Davon bin ich vollkommen überzeugt, Madame,« antwortete Sherlock Holmes. »Die Erzählung der ganzen Vorgänge möchte sehr schmerzlich für Sie sein; vielleicht ist es für Sie leichter, wenn ich erzähle, was geschehen ist. Wenn ich einen Irrtum begehe, so können Sie mich berichtigen. Stapleton hat Ihnen vorgeschlagen, den Brief zu schicken?«
»Er diktierte ihn mir.«
»Als Grund gab er vermutlich an, Sir Charles würde Ihnen mit einem Darlehen beistehen, um die Gerichtskosten Ihres Scheidungsprozesses decken zu können.«
»Ganz recht.«
»Als Sie dann den Brief abgesandt hatten, redete er Ihnen zu, Sie sollten lieber nicht hingehen?«
»Er sagte mir, es verwunde seinen Stolz, daß ein anderer das Geld zu einem solchen Zweck hergebe; er sei zwar selber ein armer Mann, aber er wolle den letzten Schilling hergeben, um die Hindernisse zu beseitigen, die uns trennen.«
»Er ist augenscheinlich ein sehr zielbewußter Charakter … Und dann hörten Sie nichts mehr, bis Sie den Bericht über Sir Charles' Tod in der Zeitung lasen?«
»Nein.«
»Und er ließ Sie schwören, daß Sie nichts von Ihrer Verabredung mit Sir Charles sagen würden?«
»Ja. Er sagte, der Tod sei ein sehr geheimnisvoller, und ich würde sicherlich in Verdacht geraten, wenn von der Verabredung etwas bekannt würde. Er machte mir furchtbare Angst – und ich blieb still.«
»So dachte ich's mir. Aber Sie hatten doch einen Verdacht?«
Sie zögerte und schlug die Augen nieder. Nach einer Pause aber antwortete sie:
»Ich kannte ihn. Aber wenn er sein Wort gehalten hätte, so würde ich ihm das meinige nie und nimmer gebrochen haben.«
»Ich glaube, Sie können von Glück sagen, daß Sie so davongekommen sind,« rief Sherlock Holmes. »Sie haben ihn in Ihrer Gewalt gehabt; er wußte das – und Sie sind trotzdem noch am Leben. Sie sind monatelang dicht am Rande des Abgrundes entlang gegangen … Wir müssen nun gehen, Frau Lyons. Wahrscheinlich werden Sie binnen ganz kurzer Zeit wieder von uns hören. Guten Morgen …«
»Unser Fall rundet sich immer mehr ab, und eine Schwierigkeit nach der anderen verschwindet vor uns,« sagte Holmes, als wir auf dem Bahnhof standen und den von London kommenden Schnellzug erwarteten. »Bald werde ich in der Lage sein, eine einfache, zusammenhängende Darstellung eines der seltsamsten und sensationellsten Verbrechen der Gegenwart zu geben. Wer sich speziell für Kriminalistik interessiert, wird sich eines ähnlichen Falles erinnern, der sich im Jahre 1866 in Grodno in Klein-Rußland zutrug. Außerdem natürlich der Andersonschen Mordtaten in Nord-Carolina; aber unser Fall hier weist einige Züge auf, die in ihrer Art ganz einzig dastehen. Selbst jetzt haben wir noch keinen ganz klaren Beweis gegen diesen überaus tückischen Mann. Aber es sollte mich außerordentlich wundern, wenn nicht alles vollkommen aufgeklärt wird, ehe wir heute nacht zu Bette gehen.«
In diesem Augenblick kam der Londoner Schnellzug herangebraust. Er hielt, und ein drahtiger, handfester Mann mit einem Bulldoggengesicht sprang aus einem Abteil erster Klasse auf den Bahnsteig. Wir schüttelten uns alle drei die Hand, und ich sah sofort an der ehrerbietigen Art, mit der Lestrade meinen Freund ansah, daß er seit unserer ersten Zusammenarbeit mancherlei gelernt hatte. Ich erinnere mich noch sehr gut des verächtlichen Spottes, womit der Mann der Praxis die Theorien des Grüblers zuerst abgetan hatte.
»Haben Sie was Gutes für mich?« fragte der Beamte.
»Den großartigsten Fall, der seit Jahren vorgekommen ist.« antwortete Holmes. »Wir haben zwei Stunden zu unserer freien Verfügung. Ich glaube, wir können sie nicht besser nutzen, als indem wir einen Bissen essen; und dann, Lestrade, sollen Sie den Londoner Nebel aus Ihrer Kehle los werden und dafür ein bißchen reine Nachtluft von Dartmoor einatmen. Sie waren noch niemals hier? Na, ich denke, Sie werden Ihren ersten Besuch schwerlich vergessen.«