Vierzehntes Kapitel - Der Hund der Baskervilles - 03
Sir Henry versuchte sich aufrecht zu halten, aber er war noch immer leichenblass und zitterte an allen Gliedern. Wir führten ihn zu einem Granitblock, auf diesen setzte er sich und vergrub zusammenschauernd das Gesicht in seine Hände.
»Wir müssen Sie jetzt hier allein lassen,« sagte Holmes. »Es bleibt uns noch anderes zu tun, und jeder Augenblick ist von Wichtigkeit. Das Verbrechen ist völlig aufgeklärt. Jetzt brauchen wir nur noch den Verbrecher.«
»Es ist tausend gegen eins zu wetten, daß wir ihn nicht in seinem Hause finden,« fuhr Holmes fort, als wir schnell den Fußweg entlang auf Merripit House zueilten. »Die Schüsse müssen ihm gesagt haben, daß er die Partie verloren hat.«
»Wir waren ein ziemliches Stück vom Hause entfernt, und der Nebel hat vielleicht den Schall gedämpft,« bemerkte Lestrade.
»Er folgte dem Hund auf dem Fuße, um ihn sofort abzurufen. Darauf können Sie sich verlassen. Nein, nein, er ist jetzt längst fort. Aber wir wollen zur Sicherheit das Haus durchsuchen.«
Die Haustür stand offen. Wir stürmten daher hinein und eilten von Zimmer zu Zimmer, zum größten Erstaunen des vor Angst an allen Gliedern bebenden alten Dieners, der uns im Flur entgegenkam. Nur im Speisezimmer brannte Licht, aber Holmes nahm die Lampe vom Tisch und ließ keinen Winkel des Hauses undurchsucht. Nirgends war von dem Manne, den wir verfolgten, auch nur das geringste Zeichen zu sehen. Im obersten Stock jedoch war die Tür zu einem der Zimmer verschlossen.
»Es ist jemand drinnen,« rief Lestrade. »Ich höre etwas sich bewegen. Machen Sie die Tür auf!«
Wir hörten drinnen ein schwaches Stöhnen und ein Rauschen wie von Kleidern. Holmes sprengte die Tür mit einem Fußtritt und mit dem Revolver in der Hand stürzten wir alle drei ins Zimmer.
Aber wir fanden keine Spur von dem verzweifelten Schurken, den wir zu sehen erwarteten. Stattdessen aber hatten wir einen so seltsamen und unerwarteten Anblick, daß wir zuerst sprachlos und wie an den Fleck gebannt dastanden.
Das Zimmer war zu einer Art von kleinem Museum hergerichtet. An den Wänden hingen eine Anzahl Glaskästen, deren Anfüllung mit Schmetterlingen und Käfern der gefährlichste Verbrecher der Gegenwart zu seiner Erholung betrieben hatte. Mitten im Raum stand ein Holzpfeiler, der den alten, wurmzerfressenen Deckbalken stützen mußte. An diesen Pfeiler war eine menschliche Gestalt festgebunden, aber ob es ein Mann oder ein Weib war, konnten wir für den Augenblick nicht sagen, denn diese Gestalt war vollständig von Bett und Handtüchern vermummt. Ein Handtuch war um die Kehle geschlungen und hinter dem Pfosten zusammengeknotet, ein zweites bedeckte den unteren Teil des Gesichtes, und über diesem starrten zwei dunkle Augen uns entgegen, Augen voll Schmerz und Scham und Angst. In einem Augenblick hatten wir den Knebel hinweggerissen, die Bande gelöst, und Beryl Stapleton sank vor uns ohnmächtig auf den Fußboden nieder.
Ihr schönes Haupt neigte sich auf ihre Brust, und da sah ich auf ihrem Halse klar und scharf die rote Strieme vom Hiebe einer Reitpeitsche.
»Der rohe Schuft!« rief Holmes. »Hier, Lestrade, geben Sie schnell Ihre Whiskyflasche. Helfen Sie mir, Sie auf einen Stuhl setzen. Die erlittenen Misshandlungen und die Erschöpfung haben Sie ohnmächtig gemacht.«
Nach einer kurzen Weile schlug sie die Augen wieder auf und fragte,
»Ist er gerettet? Hat er sich in Sicherheit bringen können?«
»Er kann uns nicht entkommen.«
»Nein, nein, ich meine nicht meinen Mann. Aber, Sir Henry, ist er in Sicherheit?«
»Ja.«
»Und der Hund?«
»Der ist tot.«
»Gott sei Dank! Gott sei Dank!« rief sie nach einem tiefen Seufzer der Erleichterung. »Oh, dieser Schurke! Sehen Sie, wie er mich behandelt hat!«
Sie streifte ihre Ärmel zurück, und wir sahen voll Entsetzen, daß beide Arme mit blutigen Striemen bedeckt waren.
»Aber das ist nichts, gar nichts!« fuhr sie fort. »Wie hat er erst meine Seele gequält und gefoltert! Und das alles habe ich ertragen können, Misshandlungen, Einsamkeit, ein Leben voller Enttäuschung, alles, solange ich mich noch an die Hoffnung anklammern durfte, daß seine Liebe mir gehörte. Aber jetzt weiß ich, daß er auch hier in mich hintergangen hat, daß ich nur sein Werkzeug war.«
Mit diesen Worten brach sie in ein leidenschaftliches Schluchzen aus.
»Sie sind ihm nicht freundlich gesinnt, gnädige Frau,« sagte Holmes. »Nun, so sagen Sie uns, wie wir ihn finden werden. Wenn Sie ihm je bei seinem bösen Werk beigestanden haben, so helfen Sie dafür jetzt uns und machen Sie damit alles wett.«
»Es gibt nur einen Platz, wohin er geflohen sein kann,« antwortete sie. »Auf einer Insel, mitten im großen Sumpf, ist eine alte Zinngrube. Dort hielt er seinen Hund, und dort hatte er auch allerhand Vorkehrungen getroffen, um für alle Fälle eine Zuflucht zu haben. Dorthin muss er geflohen sein.«
Der Nebel lag dick wie weiße Wolle an den Fensterscheiben. Holmes streckte die Lampe nach dem Fenster aus und sagte:
»Sehen Sie, niemand könnte in dieser Nacht einen Weg durch den Grimpener Sumpf finden.«
Sie schlug lachend die Hände zusammen, ihre weißen Zähne blitzten, und ihre Augen funkelten in wilder Freude, als sie rief:
»Den Weg hinein findet er vielleicht, aber nie und nimmer den Weg heraus. Wie kann er heute Nacht die Stecken finden, die wir beide, er und ich, zusammen einpflanzten, um den schmalen Fußpfad durch den Morass zu bezeichnen? Oh, hätte ich sie nur heute herausreißen können, dann allerdings hätte er rettungslos in ihre Hände fallen müssen.«
Wir sahen ein, daß an eine Verfolgung nicht zu denken war, solange der Nebel über dem Moor lag. Wir ließen daher Lestrade in Merripit House zurück, und Holmes und ich gingen mit dem Baronet nach Baskerville Hall. Wir konnten ihm die Wahrheit über die Stapletons nicht länger verschweigen, aber er benahm sich tapfer wie ein Mann, als er erfuhr, daß das Weib, das er geliebt, die Gattin eines Mörders war.
Die Abenteuer dieser Nacht waren jedoch zu viel für seine Nerven gewesen, und ehe der Morgen anbrach, lag er im Delirium eines hohen Fiebers, und wir mußten ihm der Pflege des Dr. Mortimer anvertrauen.
Nun komme ich schnell zum Schluss dieser gewiß nicht alltäglichen Geschichte. Die Morgensonne des nächsten Tages hatte den dichten Nebel aufgesogen, und Frau Stapleton führte uns nach der Stelle, wo der vom Naturforscher entdeckte schmale Fußweg durch den Sumpf begann.
Was für ein Höllenleben die Frau an der Seite des Verbrechers geführt haben mußte, das erkannten wir an der freudigen Bereitwilligkeit, womit sie uns auf ihres Gatten Spur brachte. Sie brachte uns bis an den letzten Ausläufer festen Bodens, der sich in Gestalt einer schmalen Halbinsel in den Sumpf hinein erstreckte. Von dieser Stelle aus gingen wir allein weiter.
Von Zeit zu Zeit bezeichnete ein dünnes Stöckchen die Zickzackwindungen des Pfades. Nur ein einziges Mal bemerkten wir eine Spur, daß vor uns ein Mensch den gefährlichen Weg gegangen war. Auf einem Büschel Rietgras, der das Untersinken verhindert hatte, lag ein dunkler Gegenstand. Holmes sank bis an den Leib in den Morast, als er, um sich des Gegenstandes zu bemächtigen, abseits des Weges trat, und wären wir nicht dagewesen, so hätte sein Fuß niemals wieder festen Grund betreten. Er hielt einen alten schwarzen Schuh empor. Auf dem Innenleder desselben fanden wir den Stempel: »Mayas Toronto, Kanada«.
»Der Fund ist schon ein Moorbad wert«, rief Holmes. »Es ist der abhandengekommene Schuh unseres Freundes Sir Henry.«
»Und Stapleton hat ihn auf seiner Flucht an dieser Stelle weggeworfen?«
»Ganz recht. Er behielt ihn in der Hand, nachdem er ihn benutzt hatte, den Hund auf die Fährte zu bringen. Auf der Flucht, als er wußte, daß das Spiel verloren war, hielt er unbewusst den Schuh noch immer in der Hand, und an dieser Stelle warf er ihn von sich. Wir wissen also wenigstens so viel, daß er bis hierher gekommen ist.«