Zehntes Kapitel - Auszug dem Tagebuch von Dr. Watson - 03
Den 17. Oktober . – Heute strömte den ganzen Tag der Regen hernieder, raschelte im Epheu des alten Hauses und troff aus den Dachrinnen. Ich dachte an den entsprungenen Sträfling, der obdachlos draußen auf dem öden kalten Moor umherirrt. Der arme Kerl! Wie furchtbar auch seine Verbrechen gewesen sind, er hat gelitten und dadurch wenigstens teilweise gesühnt. Und dann dachte ich an den anderen – den Mann, dessen Gesicht wir in der Droschke sahen, dessen Gestalt sich im Moor gegen die Mondscheibe abhob. War er ebenfalls draußen in der Regenflut – der unsichtbare Späher, der Mann der Finsternis?
Als es Abend wurde, zog ich meinen Regenmantel an und wanderte voll düsterer Gedanken weit hinaus in die regendurchweichte Heide, und ließ mir den kalten Regen ins Gesicht schlagen und den Wind um die Ohren pfeifen. Gott sei bei denen, die jetzt in den großen Morast hineingeraten, denn selbst das feste Land ist beinahe schon ein Sumpf. Ich fand die schwarze Felsspitze, auf deren Höhe ich den einsamen nächtlichen Gesellen gesehen hatte; ich erklomm die schroffe Zacke, und blickte von der Höhe aus über die traurig düstere Hügellandschaft hin. Überall nichts als das öde Land, schwere Regengüsse, die die Flanken der Hügel peitschten, und langsam ziehende schiefergraue Wolken. Fern zur Linken ragten, halb verborgen durch den Nebel, die beiden schlanken Türme von Baskerville über den Bäumen auf. Sie waren die einzigen Anzeichen menschlichen Lebens, die ich erblicken konnte; die einzigen Behausungen weit und breit waren die plumpen prähistorischen Steinhütten auf den Abhängen der Hügel. Nirgends eine Spur von dem einsamen Mann, den ich in der vergangenen Nacht an derselben Stelle sah.
Auf dem Rückweg überholte mich Dr. Mortimer in seinem Wägelchen. Er kam auf holperigem Heideweg von dem einsam liegenden Pachthof Foulmire her. Er hat sich uns gegenüber sehr aufmerksam benommen, und es ist kaum ein Tag vergangen, an dem er nicht auf Baskerville Hall vorgesprochen und sich nach dem Fortgang unserer Nachforschungen erkundigt hätte. Er bat mich dringend, in seinen Wagen zu steigen, da er mich durchaus nach Hause bringen wollte. Ich fand ihn verstimmt und zerstreut, und die Zerstreutheit rührte von dem Verschwinden seines Hündchens her, das aufs Moor hinausgelaufen und nicht wieder zurückgekommen war. Ich suchte ihn möglichst zu trösten, konnte mich aber innerlich des Gedankens an das Pferd, das ich im Grimpener Sumpf verschwinden sah, nicht erwehren, und ich glaube nicht, daß er seinen kleinen Freund jemals wiedersehen wird.
»Ach, sagen Sie doch mal, Mortimer,« fragte ich, als wir den schlechten Weg entlang rumpelten, »es gibt wohl wenig Leute hier in der Gegend, die Sie nicht kennen?«
»Wohl kaum einen einzigen Menschen.«
»Können Sie mir dann vielleicht den Namen einer weiblichen Person sagen, deren Initialen L. L. sind?«
Er dachte ein paar Minuten nach und antwortete:
»Nein. Es gibt hier ein paar Zigeuner und einige Leute aus dem Arbeiterstand, über die ich nicht genau Bescheid weiß, aber unter dem Landvolk oder den Gebildeten gibt es keine, deren Namen mit diesen Buchstaben anfängt … Doch halt! Warten Sie mal!« fuhr er nach einer kleinen Pause fort. »Da ist Laura Lyons – das stimmt mit den Buchstaben L. L. – sie wohnt jedoch in Coombe Tracey.«
»Wer ist das?« fragte ich.
»Herrn Franklands Tochter.«
»Was? Vom alten Frankland, dem Rechtsverdreher?«
»Ganz recht. Sie heiratete einen Maler Namens Lyons, der hierher aufs Moor kam, um Skizzen zu machen. Nachher stellte sich heraus, daß er ein Lump war, und er verließ sie. Nach allem, was ich gehört habe, mag indessen die Schuld nicht ausschließlich auf seiner Seite gelegen haben. Ihr Vater weigerte sich auch nur das Geringste zu tun; sie hatte nämlich gegen seinen Willen geheiratet, und vielleicht hatte er auch sonst noch einige Gründe. Sie hat sowohl mit dem alten Sünder als auch mit dem jungen einen ziemlich schweren Stand gehabt.«
»Wovon lebt sie?«
»Ich glaube, der alte Frankland hat ihr eine Kleinigkeit ausgesetzt; viel kann das jedenfalls nicht sein, denn seine eigenen Verhältnisse sind ziemlich prekär. Mag sie auch an ihrem Unglück selber schuld sein, jedenfalls konnten wir nicht ruhig mitansehen, daß sie unter die Räder kam. Man beschäftigte sich mit ihrer Lage, und verschiedene von den Leuten hier in der Gegend sprangen ihr bei, um ihr eine anständige Erwerbsmöglichkeit zu schaffen. Stapleton tat etwas und Sir Charles ebenfalls; ich steuerte auch eine Kleinigkeit bei. Sie schaffte sich eine Schreibmaschine an und lebt nun von Schreibarbeiten.«
Er wollte wissen, warum ich frage, doch gelang es mir, seine Neugier zu befriedigen, ohne ihm allzuviel zu sagen, denn wir haben durchaus keinen Anlaß, jedermann ins Vertrauen zu ziehen. Morgen früh werde ich mich nach Coombe Tracey aufmachen, und wenn es mir gelingt, diese Frau Laura Lyons von etwas zweifelhaftem Ruf zu sprechen, so bringt uns dies der Aufklärung von einem der vielen geheimnisvollen Ereignisse um ein gutes Stück näher. Ich kann von mir sagen, daß ich heute klug wie eine Schlange gewesen bin, denn als Dr. Mortimer mit seinen Fragen ein bißchen gar zu unbequem wurde, fragte ich ihn so ganz nebenbei, zu welchem Typus eigentlich Franklands Schädel gehöre. Die Folge davon war, daß ich während des ganzen Restes unserer Fahrt nichts als Schädellehre zu hören bekam. Ja, ich habe nicht umsonst jahrelang mit Sherlock Holmes zusammen gelebt.
Von dem heutigen trüben Regentag habe ich nur noch einen einzigen Vorfall zu verzeichnen. Ich hatte nämlich gerade eine Unterhaltung mit Barrymore und bekam dabei eine Trumpfkarte in die Hand, die sich gewiß als wertvoll erweisen wird, wenn der rechte Zeitpunkt da ist.
Mortimer blieb bei uns zu Tisch, und nach dem Essen spielten der Baronet und er Ecarts. Ich ging ins Bibliothekzimmer und ließ mir von Barrymore meinen Kaffee dorthin bringen. Da die Gelegenheit günstig war, so nutzte ich sie, ein paar Fragen an ihn zu richten.
»Na?« sagte ich. »Ist denn nun der ehrenwerte Schwager fort oder haust er noch auf dem Moor?«
»Ich weiß es nicht, Herr. Ich hoffe zu Gott, daß er fort ist, denn er hat uns nichts als Schwierigkeiten bereitet. Ich habe nichts mehr von ihm gehört, seitdem ich ihm das letztemal zu essen brachte, und das war vor drei Tagen.«
»Sahen Sie ihn denn damals?«
»Nein; aber das Essen war verschwunden, als ich das nächste Mal zu jener Stelle ging.«
»Dann muß er also ganz bestimmt dagewesen sein?«
»Man sollte das annehmen; indessen wäre es auch möglich, daß der andere es genommen hat.«
Ich wollte gerade die Kaffeetasse an meine Lippen führen, hielt aber auf halbem Wege inne und starrte Barrymore an.
»Der andere? Sie wissen also, daß noch ein anderer Mann dort ist?«
»Ja, Herr; es ist noch einer auf dem Moor.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein.«
»Woher wissen Sie denn etwas von ihm?«
»Selden erzählte mir von ihm; es mag etwa eine Woche her sein, vielleicht auch etwas länger. Er hält sich ebenfalls versteckt, ist aber kein entsprungener Sträfling, nach allem, was ich erfahren konnte. Es gefällt mir nicht, Herr Doktor – ich muß Ihnen aufrichtig sagen, die Sache gefällt mir ganz und gar nicht.«
Es lag plötzlich ein seltsam eindringlicher Ernst in dem Ton, mit dem Barrymore sprach.
»Nun, Barrymore, hören Sie mal, was ich Ihnen sage. Ich verfolge bei dieser ganzen Angelegenheit kein Interesse als das Ihres Herrn. Ich bin nur zu dem Zweck hierhergekommen, ihm beizustehen. Sagen Sie mir also frei und offen: Was ist an dieser Sache, das Ihnen nicht gefällt?«
Barrymore zögerte einen Augenblick, als bedauere er, daß er sich zu einem Gefühlsausbruch hatte hinreißen lassen, oder als wisse er nicht die rechten Worte zu finden. Endlich aber rief er, indem er mit der Hand zu dem aufs Moor hinausgehenden Fenster deutete, gegen dessen Scheiben der Regen peitschte:
»Es sind all diese Vorgänge, Herr. Irgendwo ist ein Verbrechen im Spiel, und es wird irgendein fürchterlicher Schurkenstreich ausgebrütet, darauf will ich schwören! Ich wäre wirklich von Herzen froh, wenn ich Sir Henry erst wieder auf der Rückreise nach London wüßte.«
»Aber was ist es denn, das Sie beunruhigt?«
»Nehmen Sie nur Sir Charles' Tod. Die Umstände waren ja schlimm genug, nach allem, was der Vorsitzende bei der Leichenschau sagte. Dann die Töne nachts auf dem Moor. Kein Mensch hier in der Gegend würde wagen, nach Sonnenuntergang übers Moor zu gehen, und wenn er noch so viel dafür bezahlt bekäme. Dann dieser Fremde, der sich da draußen versteckt hält und überall herumschleicht und herumschnüffelt. Was sucht er? Was bedeutet das alles? Sicherlich nichts Gutes für jeden, der den Namen Baskerville trägt – und ich will mich aufrichtig freuen, wenn Sir Henrys neue Dienerschaft hier in Baskerville Hall einzieht und ich nichts mehr damit zu tun habe.«
»Aber was ist's denn mit diesem Fremden?« fragte ich. »Können Sie mir irgend etwas über ihn sagen? Was sagte Selden Ihnen? Hatte er das Versteck des Mannes herausbekommen, oder wußte er, welche Zwecke dieser verfolgte?«
»Er sah ihn ein- oder zweimal – aber er ist ein verschlossener Charakter und durchaus nicht mitteilsam. Zuerst dachte er, es wäre einer von der Polizei, doch merkte er bald, daß jener seine eigenen Absichten verfolgt. Worin die aber bestehen, das konnte er nicht entdecken, nur meinte er, es wäre wohl ein feiner Herr.«
»Und wo haust der Mann nach Seldens Meinung?«
»In den alten Häusern am Hügel – in einer von den Steinhütten aus der Vorzeit.«
»Aber wie verschafft er sich sein Essen?«
»Selden bemerkte, daß er einen Jungen hat, der ihm alles besorgt und ihn mit dem Notwendigsten versieht. Höchstwahrscheinlich holt er es aus Coombe Tracey.«
»Schön, Barrymore. Wir werden gelegentlich wieder darüber sprechen.«
Als der Diener gegangen war, trat ich an das schwarze Fenster und schaute durch die vom Regenwasser trüben Scheiben zu den ziehenden Wolken und den Baumwipfeln, die sich vor dem Sturmwind bogen. Eine unbehagliche Nacht hier drinnen – und wie muß sie erst draußen sein, auf dem Moor in einer Steinhütte! Welch ein leidenschaftlicher Haß muß den Mann beseelen, der sich in dieser Jahreszeit in solchen Verstecken verbirgt. Und welchen Zweck muß einer verfolgen, der sich solchen Strapazen unterzieht? Jedenfalls einen ernsten und wichtigen. Dort, in der Steinhütte auf dem Moor, liegt das wahre Zentrum des Problems, das mich so fürchterlich gemartert hat. Und ich schwöre, es soll kein Tag mehr vergehen, und ich werde alles tun, was in Menschenkräften steht, um dem Geheimnis auf den Grund zu kommen.