Zwölftes Kapitel - Tod auf dem Moor - 04
Wir stiegen wieder den jähen Abhang hinunter und näherten uns dem Leichnam, der sich als dunkler Fleck scharf von den mondlichtübergossenen Steinen abhob. Beim Anblick dieser im Todeskampf verrenkten Glieder überwältigte mich der Schmerz und heiße Tränen schossen mir in die Augen.
»Wir müssen Hilfe holen, Holmes! Wir können ihn nicht alleine den ganzen Weg bis zum Schloß tragen. Gott im Himmel, bist du wahnsinnig geworden?«
Er hatte einen Schrei ausgestoßen und sich über den Leichnam gebeugt. Auf einmal sprang er im Kreise herum und lachte und schüttelte meine Hand. Konnte dies mein ernster, verschlossener Freund sein? Ja, ja, man kann wohl von verborgenen Feuern reden.
»Ein Bart! Ein Bart! Der Mann hat einen Bart!«
»Einen Bart?«
»Es ist nicht der Baronet – es ist – ja, wahrhaftig, es ist mein Nachbar, der Sträfling!«
In fiebrischer Hast hatten wir den Leichnam auf den Rücken gelegt, und in der Tat starrte ein zottiger Bart zum kalten, klaren Mond empor. Ein Zweifel war nicht möglich – die vorspringende Stirn – die eingesunkenen tierischen Augen – ja, es war dasselbe Antlitz, das mich im Licht der Kerze hinter dem Felsen angestarrt hatte – es war der Verbrecher Selden.
Und in einem Augenblick war mir alles klar. Ich erinnerte mich, daß der Baronet mir erzählt hatte, er hätte Barrymore seine alten Kleider überlassen. Barrymore hatte sie an Selden weitergegeben, um diesem bei seiner Flucht behilflich zu sein. Stiefel, Hemd, Mütze – alles hatte früher Sir Henry gehört. Die Tragödie war immer noch furchtbar genug, aber dieser Mann hatte doch wenigstens nach den Gesetzen des Landes den Tod verdient. Ich setzte Holmes den Zusammenhang auseinander, und mein Herz schlug hoch in Freude und Dankbarkeit.
»Dann sind Sir Henrys Kleider dem armen Kerl zum Verhängnis geworden,« rief Holmes. »Es ist ganz klar, daß der Hund auf irgendeinen von Sir Henry getragenen Gegenstand abgerichtet ist – aller Wahrscheinlichkeit nach auf den im Hotel abhanden gekommenen Schuh; so hat er denn diesen Mann zu Tode gehetzt. Aber da gibt es noch etwas sonderbares: woher wußte Selden in der Dunkelheit, daß der Hund auf seiner Spur war?«
»Er hörte ihn.«
»Wenn ein hartgesottener Verbrecher wie dieser Zuchthäusler einen Hund auf dem Moor hört, so bringt ihn das nicht in einen solchen Paroxysmus des Schreckens, daß er auf die Gefahr hin, wieder ergriffen zu werden, wild um Hilfe schreit. Nach den Schreien zu urteilen, die wir gehört haben, muß er ein weites Stück Weges gerannt sein, nachdem er gemerkt hat, daß das Tier ihn verfolgt. Woher wußte er es?«
»Für mich ist es ein größeres Geheimnis, warum dieser Hund – vorausgesetzt, alle unsere Mutmaßungen seien richtig –«
»Ich setze nichts voraus.«
»Nun … also, warum dieser Hund nachts frei auf dem Moor herumläuft. Ich vermute, daß er nicht beständig losgelassen wird. Stapleton würde die Bestie nicht freilassen, wenn er nicht Grund zu der Annahme hätte, daß Sir Henry sich auf dem Moor befindet.«
»Von diesen Schwierigkeiten ist die meinige bei weitem die furchtbarere – denn die deine wird sich, glaube ich, sehr bald aufklären, die meinige dagegen bleibt vielleicht für ewig ein Geheimnis … Die Frage ist jetzt: Was sollen wir nun mit dem Leichnam dieses armen Burschen anfangen? Wir können ihn nicht hier liegen lassen als Fraß für Füchse und Krähen.«
»Ich schlage vor, wir schaffen ihn in eine der Steinhütten, bis wir die Polizei benachrichtigen können.«
»Sehr gut. Ich bezweifle nicht, daß wir beide zusammen ihn ganz gut so weit tragen können … Hallo, Watson, was ist das? Das ist unser Mann selbst … Das nenne ich wahrhaftig eine geradezu großartige Frechheit! kein Wort über Deinen Verdacht – kein Wort, sonst brechen all meine Pläne in sich zusammen.«
Eine Gestalt kam über das Moor her auf uns zu, und ich sah das düsterrote Glühen einer Cigarre. Das Mondlicht fiel auf ihn und ich konnte die schmächtige Gestalt und den flinken Schritt des Naturforschers erkennen. Als er uns sah, blieb er stehen; dann kam er auf uns zu und rief:
»Wahrhaftig – Doktor Watson – das können Sie doch nicht sein! Sie sind der letzte, den ich um diese Nachtzeit draußen auf dem Moor zu sehen erwartet hätte. Aber … mein Gott, was ist denn das? Jemand verunglückt? Doch nicht … um Gottes willen, sagen Sie mir nicht, daß es Sir Henry ist!«
Er sprang an mir vorbei und beugte sich über den Toten. Ich hörte, wie er einen gepreßten Atemzug tat, und die Cigarre entfiel seiner Hand.
»Wer – wer ist das?« stammelte er.
»Es ist Selden, der Zuchthäusler, der von Princetown entsprungen war.«