Wie uns die Medien beeinflussen | Agenda Setting
2019 rockte auf den letzten Metern noch eine der dümmsten Diskussionen seit langem.
Ein Kinderchor singt bei WDR 2 eine alternative Version von einem Kinderlied, in dem eine
fiktive Oma als Umweltsau betitelt wird, weil sie im Hühnerstall Motorrad fährt.
Das wirkt vielleicht total egal und nicht weiter beachtenswert, hat aber einen Shitstorm
ziemlich einzigartiger Güte ausgelöst.
Natürlich wegen zahlreicher Leute, deren Verständnis von Satire wahrscheinlich etwas
eingerostet ist oder es sich einfach nicht eingestehen wollten, ein Lied bewusst fehlzudeuten,
damit sie das Recht haben, sich darüber aufzuregen aber auch und besonders weil viele Medien
den Fehler machten, diesen Aufschrei ernstzunehmen.
Ich habe bereits im Video über TikTok im Ansatz darüber gesprochen, aber lasst uns
an dieser Stelle mal ausführlich darüber reden “Wie uns die Medien beeinflussen”
*Intro* Agenda Setting.
Das klingt zunächst wie ein Vorwurf.
Schließlich ist die Einordnung, eine Agenda zu haben im allgemeinen Sprachgebrauch keine
sonderlich positive.
Man assoziiert damit häufig eigennütziges, manipulatives und unehrliches Verhalten, aber
das ist hier gar nicht so gemeint.
Wenn wir die Interpretationen und Konnotationen dieses Wortes einmal beiseite legen bedeutet
“Agenda” nicht viel mehr als “Themenliste”.
Und genau das ist damit auch gemeint.
Das ganze geht auf den amerikanischen Politikwissenschaftler Bernhard Cohen zurück, der sagt, dass die
Medien zwar keinen Einfluss darauf hätten, wie wir über ein Thema denken, aber einen
sehr großen auf das, worüber wir allgemein nachdenken.
Die Theorie lautet wie folgt: Themen, die in den Medien häufiger auftreten, werden
auch für die Rezipienten wichtiger.
Das ganze schließt das Konzept der “Medienrealität” mit ein, das besagt, dass Rezipienten von
Massenmedien den meisten Themen nicht selbst begegnen, sondern ausschließlich von ihnen
durch die Medien hören.
Ein Krieg in einem anderen Land zum Beispiel existiert für einen normalen Rezipienten
also so lange nicht, bis er davon in den Medien hört.
Im Agenda Setting-Ansatz bedeutet das, dass die Medien eine sehr wesentliche Rolle für
das Wissen über allgemeine Themen spielen und demnach natürlich einen Einfluss darauf
haben, was die Menschen beschäftigt.
Und wie das in der Wissenschaft nun mal so ist; das wars auch schon mit dem Konsens.
Über alle übrigen Einzelheiten sind sich Wissenschaftler uneinig.
Es gibt zahlreiche verschiedene Modelle, die die Intensität, den Verlauf und die Gewichtung
dieses Ansatzes anders einschätzen.
So gibt es zum Beispiel das Aufmerksamkeitsmodell, das lediglich sagt, dass die Agenda der Medien
dafür sorgt, dass Rezipienten auf gewisse Themen aufmerksam werden.
Es gibt aber auch das Themenselektionsmodell, das aussagt, dass die in den Medien suggerierte
Wichtigkeitsreihenfolge der Themen vom Rezipienten 1:1 übernommen wird.
Und wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte.
Gleichzeitig gibt es natürlich auch Wissenschaftler, die den Ansatz als solches ablehnen und zum
Beispiel das “Spiegelungsmodell” ins Feld führen, das den Standpunkt vertritt, dass
nicht die Medien die Rezipienten beeinflussen, sondern die Rezipienten die Medien.
Und das ist in der Medienwissenschaft tatsächlich ein bisschen wie die Frage nach dem Huhn und
dem Ei.
Erzieht uns die Werbung zu Sexisten?
Oder wird Werbung sexistisch gemacht, weil wir es schon lange sind?
Mittlerweile geht man von einer Wechselwirkung aus, in der sich beide Parteien gegenseitig
beeinflussen.
Und Agenda Setting ist keine Beschuldigung.
Es ist nichts schlechtes oder boshaftes auch wenn es vielleicht hinterhältig klingen mag.
Redaktionen der Programme in den Medien müssen natürlich auswählen welche Themen sie behandeln
und welche nicht.
Das könnten sie natürlich auch mit manipulativen Absichten tun, müssen es aber nicht.
In beiden Fällen tritt der Agenda-Setting Effekt ein.
Er ist unvermeidbar.
Was macht man also daraus?
Na ja, in erster Linie sollte man sich als Teil einer Redaktion nicht mit dem “Das
ist zwar Quatsch, aber es interessiert die Leute”-Argument rechtfertigen.
Denn durch das Thematisieren in der Sendung kommt der Quatsch viel wichtiger rüber, als
er eigentlich ist und wird dadurch für viele auch wichtiger.
Wenn also die Diskussion, um ein persifliertes Kinderlied, in dem eine fiktive Oma für ihren
verschwenderischen Lebensstil “Umweltsau” genannt wird, eine Sondersendung zur Diskussion
im Radio bekommt, dann wird das Thema für viele damit zumindest für einen Moment wesentlich
wichtiger als all die anderen Themen, die nie eine Sondersendung spendiert bekommen
haben.
Und das ist Verantwortung mit denen Redaktionen umgehen müssen.
Und das war erst die erste Ebene des Agenda Settings, die Zweite befasst sich damit, wie
Medien mit Framing und Priming die Einstellung zu den gesetzten Themenschwerpunkten beeinflussen
können.
Zu beiden dieser Methoden habe ich bereits Videos gemacht.
Und seit 2015 spricht man auch von einer dritten Ebene, die versucht zu erklären, wie Medien
Themen miteinander verknüpfen können, so dass der Rezipient gewisse Probleme als miteinander
verwoben versteht.
Also, ja.
Medien können bewusst Themenschwerpunkte setzen, um das Interesse und die Prioritäten
der Zuschauer zu beeinflussen.
Und auch wenn keine Redaktion diesem Effekt aus dem Weg gehen kann, bedeutet es nicht,
dass alle Medien, die Themenschwerpunkte setzen, automatisch manipulative Propagandaapparate
sind.
Und auch wenn es kitschig und wie ein Tweet von Sami Slimani klingt; das tatsächlich
beste Mittel, diesem Effekt aus dem Weg zu gehen, ist auch mal wieder mit Freunden über
aktuelle Themen zu reden.
Weil dann sucht man sich die Agenda selbst aus.