Antoine de Saint-Exupéry Nachtflug Fischer Bibliothek
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Antoine de Saint-Exupéry Nachtflug Roman Mit einem Vorwort von André Gide und einem Nachwort von Rudolf Braunburg S. Fischer Verlag
Titel der französischen Originalausgabe »Vol de Nuit« Deutsch von HANS REISIGER Copyright by Editions Gallimard 1931 Für diese Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1976 Satz und Druck: Georg Wagner, Nördlingen Einband: G. Lachenmaier, Reutlingen Printed in Germany 1976 isbn 3 10 071002 9
Vorwort Es handelte sich für die Luftverkehrsgesell- schaften darum, an Schnelligkeit mit den ande- ren Beförderungsmitteln zu wetteifern. »Das ist für uns«, sagt Rivière, prachtvolle Führer- gestalt, in diesem Buche, »eine Lebensfrage, weil wir den Vorsprung, den wir tagsüber vor den Eisenbahnen und Dampfern gewonnen haben, jede Nacht wieder verlieren.« Dieser Nachtdienst, anfangs heftig umstritten, dann zugelassen und schließlich nach Überwindung der ersten großen Schwierigkeiten allgemein durchgeführt, war zu der Zeit, in der diese Erzählung spielt, noch eine sehr gewagte Sache; denn zu all den unberechenbaren Ge- fahren, die jede Fluglinie umlauern, kam nun noch das Trügerische und Bedrohliche der Finsternis hinzu. Ich beeile mich festzustellen, daß diese Gefahr, so groß sie auch heute noch ist, sich von Tag zu Tag verringert; denn jede neue Fahrt trägt das Ihre dazu bei, die nächst- 5
folgende müheloser und sicherer zu gestalten. Aber ebenso wie die Geschichte der For- schungsreisen hat auch die Geschichte der Luftfahrt Ihre heroische Erstlingsepoche, und dieser ›Nachtflug‹, der uns das tragische Aben- teuer eines jener Pioniere der Luft schildert, klingt mit Fug und Recht wie ein Heldenge- dicht. Ich liebe das erste Buch von Saint-Exupéry, aber dieses hier noch viel mehr. Im ›Südkurier‹ waren die mit packender Schärfe wiedergege- benen Erlebnisse des Fliegers verwoben mit einer Herzensgeschichte, die uns den Helden gefühlsmäßig nahebrachte, indem sie das Menschliche, Liebebedürftige, Verwundbare an ihm zeigte. Der Held des ›Nachtflugs‹ ist sicherlich auch nur ganz einfach ein Mensch, aber er wächst dennoch irgendwie ins unper- sönlich Übermenschliche empor. Ich glaube, was mir so besonders an dieser leidenschaftli- chen Erzählung gefällt, ist das Adelige an ihr. Die Schwächen, die Hilflosigkeit, das Versa- gen des Menschen sind uns genugsam bekannt, und die Literatur von heute versteht sich nur allzugut darauf, sie bloßzulegen; aber die Selbstüberwindungkraft eigener Willensan- 6
spannung, die tut uns besonders not, die soll man uns schildern. Bewundernswerter noch als die Gestalt des Fliegers erscheint mir die seines Vorgesetzten Rivière. Rivière handelt zwar nicht selbst, aber er treibt die anderen zum Handeln, zur Tat; er impft seinen Piloten seine eigene sittliche Kraft ein, er fordert das Höchste von ihnen, er zwingt sie zum Heldentum. Seine unnachgie- bige Entschlossenheit duldet keine Schwäche, er straft unerbittlich das geringste Versagen. Seine Strenge könnte auf den ersten Blick un- menschlich und übertrieben erscheinen. Aber sie richtet sich nicht gegen die Menschen sel- ber, die Rivière nur für seinen Zweck zu- rechtschmieden will, sondern gegen das Un- vollkommene an sich. Man spürt in dieser Schilderung die ganze Bewunderung des Ver- fassers für diese Gestalt, und ich persönlich weiß ihm besonderen Dank dafür, daß er die paradoxe Wahrheit ins rechte Licht gerückt hat, die für mich von außerordentlicher psy- chologischer Bedeutung ist: daß das Glück des Menschen nicht in der Freiheit besteht, son- dern in der Hingabe an eine Pflicht. Jeder einzelne in diesem Buch ist leidenschaftlich 7
und ausschließlich dem hingegeben, was er tun muß, der gefahrvollen Aufgabe, deren Erfül- lung allein ihm Beruhigung und Glück ver- heißt. Und man erkennt sehr wohl, daß auch Rivière keineswegs gefühllos ist (nichts Ergrei- fenderes als die Schilderung, wie die Frau des Vermißten zu ihm kommt) und daß für ihn nicht weniger Mut dazu gehört, seine Befehle zu geben, als für seine Piloten, sie auszufüh- ren. »Um geliebt zu werden«, sagt er einmal, »braucht man nur zu bemitleiden. Ich bemit- leide so gut wie nie, oder ich verberge es.« Und ferner: »Man soll die lieben, über die man befiehlt; aber man soll es ihnen nicht sagen.« Darin spricht sich die »dunkle Empfindung« aus von einer Pflicht, höher als Liebe; das Gefühl, daß der Mensch seinen Endzweck nicht in sich selber findet, sondern sich unter- zuordnen und sich zu opfern hat irgendeinem Etwas, das Macht über ihn hat und von ihm lebt. Das ist die gleiche »dunkle Empfindung« – ich erkenne es mit Genugtuung wieder –, die meinem Prometheus die paradoxen Worte ein- gab: »Ich liebe den Menschen nicht, aber ich liebe das, was ihn verzehrt.« Das ist die Quelle alles Heldischen: »Wir handeln«, sagt Rivière, 8
»als ob es etwas gäbe, das das Menschen- leben an Wert übertrifft … Aber was?« Und abermals: »Vielleicht gibt es etwas anderes, Dauerhafteres, das es zu bewahren gilt; vielleicht ist es dieses Teil des Menschen, um dessentwillen ich arbeite.« Zweifeln wir nicht daran. In einer Zeit, in der der Begriff des Heldischen mehr und mehr aus der Armee verschwindet, weil sich in den Kriegen von morgen, deren Schrecknisse uns die Chemiker vorausmalen, für Mannesmut kaum noch Verwendung fin- den dürfte – ist in dieser Zeit die Luftfahrt nicht dasjenige Bereich, wo wir den Mut am bewundernswertesten und nutzbringendsten sich entfalten sehen? Was an sich Tollkühnheit wäre, wird hier zur einfachen Dienstpflicht. Der Pilot, der unablässig sein Leben aufs Spiel setzt, hat einiges Anrecht darauf, die Vorstel- lung, die wir uns für gewöhnlich von ›Mut‹ machen, zu belächeln. Wird Saint-Exupéry mir erlauben, einen schon lange zurückliegen- den Brief von ihm zu zitieren? Er stammt aus der Zeit, in der er als Flieger in Mauretanien Dienst tat, um die Linie Casablanca-Dakar zu sichern: 9
»Ich weiß nicht, wann ich zurückkommen werde, ich habe so viel zu tun seit einigen Monaten: nach vermißten Kameraden suchen, Flugzeuge wieder flottmachen, die in aufstän- dischem Gebiet notlanden mußten, und ein paar Kurierflüge über Dakar. Ich habe glück- lich eine kleine Heldentat vollbracht: zwei Tage und zwei Nächte unterwegs, mit elf Mauren und einem Mechaniker an Bord, um ein Flugzeug zu bergen. Allerlei heftige Schie- ßererei. Zum erstenmal hab' ich Kugeln mir übern Kopf pfeifen hören. Jetzt weiß ich we- nigstens endlich, wie so etwas auf mich wirkt: ich war viel ruhiger als die Mauren. Aber ich habe auch begriffen, was mich immer verwun- dert hatte: weshalb Plato (oder Aristoteles?) dem Mut die niedrigste Rangstufe unter den Tugenden zuweist. Nicht grade sehr edle Ge- fühle, aus denen er sich zusammensetzt: ein bißchen Wut, ein bißchen Eitelkeit, ein gut Teil Trotz und ganz gewöhnliche Sportlust. Vor allem auch ein gesteigertes Gefühl physi- scher Kraft, obwohl die eigentlich nichts dabei zu tun hat. Man kreuzt die Arme über dem offenen Hemd und atmet tief. Alles in allem eher ein Wohlgefühl. Wenn es bei Nacht pas- 10
siert, mischt sich darein das Gefühl, eine unge- heure Dummheit begangen zu haben. Nie wie- der werd' ich einen Menschen bewundern, der nichts als mutig ist.« Als Nachwort dazu könnte ich eine Stelle aus dem Buch von Quinton * zitieren (dem ich übrigens durchaus nicht immer beistimme): »Man verbirgt seinen Mut ebenso wie seine Liebe«, oder noch besser: »Die Mutigen ver- hehlen ihre Taten wie die Rechtschaffenen ihre Almosen. Sie verheimlichen sie oder schützen andere Motive vor.« Alles, was Saint-Exupéry erzählt, trägt den Stempel des Selbsterlebten. Dies: daß er selber mehr als einmal der Gefahr die Stirn geboten hat, gibt dem Buche den Reiz des Echten und Unnachahmlichen. Lediglich der Phantasie entsprungene Geschichten von Krieg und Abenteuern gibt es in großer Zahl: sie mögen zuweilen von einer gewissen Ein- fühlungskraft des Verfassers zeugen; den wirklichen Abenteurern und Kämpfern wer- den sie jedoch meist nur ein Lächeln abnöti- gen. Die vorliegende Erzählung, die ich als literarisches Werk bewundere, hat zugleich * René Quinton, ›Maximes sur la Guerre‹, Paris 1930. 11
den Wert eines Dokuments; und diese beiden so unverhofft vereinigten Eigenschaften geben diesem ›Nachtflug‹ seine ungewöhnliche Be- deutung. André Gide 12
NACHTFLUG
I Die Höhenzüge, tief unter dem Flugzeug, gruben schon ihre Schattenfurchen ins Gold des Abends. Aber die Ebenen glommen noch in zähem Licht: sie können sich nie entschlie- ßen dortzulande, ihr Gold herzugeben, ebenso wie sie nach dem Winter nie von ihrem Schnee lassen wollen. Und dem Piloten Fabien, der das Postflugzeug von Patagonien vom äußersten Süden her nach Buenos Aires zurückführte, war es zumute, als steuerte er in den nahenden Abend ein wie in die Gewässer eines Hafens: Stille weithin, kaum gefurcht von ein paar leichten, regungs- losen Wolken. Glückliche Geborgenheit einer riesigen Reede. Oder auch, als schlenderte er langsam durch diesen Frieden dahin, fast wie ein Hirte. Die Hirten Patagoniens ziehen gemächlich von Herde zu Herde: er zog von Stadt zu Stadt, er war der Hirt der kleinen Städte. Alle zwei Stunden traf er auf welche, zur Tränke ge- 15
drängt ans Ufer der Flüsse oder weidend auf ihrer Ebene. Manchmal, nach hundert Kilometern Steppe, unbehauster als das Meer, überflog er eine verlorene Farm, die dann ihre Fracht Men- schenleben nach rückwärts durch die Wogen der Prärie davonzutragen schien wie eine Ar- che, die er grüßte mit seinen Flügeln. »San Julian ist in Sicht; wir landen in zehn Minuten.« Der Bordfunker hinter ihm gab die Nachricht an alle Stationen der Linie weiter. Auf zweitausendfünfhundert Kilometer, von der Magalhaesstraße bis Buenos Aires, reihten sich die Stationen gleichförmig gestaffelt; aber die, der man jetzt zuflog, erschien nun wie ein letzter Grenzort am Rande der Nacht, gleich einem jener letzten unterworfenen afrikani- schen Nester am Rande des Unbekannten. Der Funker schob dem Piloten einen Zettel zu: »Es sind so viele Gewitter in der Luft, daß ich die Hörer ganz voll habe davon. Werden Sie in San Julian übernachten?« Fabien lächelte: der Himmel war still wie ein 16
Aquarium, und alle Stationen vor ihnen mel- deten: »Klare Luft, kein Wind.« Er antworte- te: »Fliegen weiter.« Aber der Funker dachte an die Gewitter, die sich sicher da irgendwo eingenistet hatten, wie Würmer in einer Frucht; mochte die Nacht noch so schön sein, sie war doch schon ange- fressen: etwas in ihm sträubte sich dagegen, sich in dieses verwesungsreife Dunkel hinein- zubegeben. Während Fabien auf San Julian niederglitt, fühlte er sich müd. Alles, was das Dasein der Menschen behaglich macht, stieg ihm, wachsend, entgegen: ihre Häuser, ihre kleinen Cafés, die Bäume ihrer Promenade. Er war wie ein Eroberer, der am Abend seines Siegs sich über die Lande des Reiches beugt und zum erstenmal bescheidenes Menschenglück ge- wahrt. Ein Verlangen war in ihm, die Waffen abzulegen, die Schwere und Steifheit seiner Glieder zu spüren, denn Mühsal schafft zwie- faches Behagen, und hier nur noch ein einfa- cher Mensch zu sein, der durch sein Fenster hinausschaut auf ein Daseinsbild, das sich nun nie mehr wandelt. Dieses winzige Nest, er 17
hätte es gerne angenommen: hat man einmal gewählt, so gibt man sich zufrieden mit diesem So-und-nicht-anders und kann sein Herz daran wenden. Es gewährt den Segen der Be- schränkung, wie die Liebe. Fabien hätte ge- wünscht, lange Zeit hier zu leben, sein Teil Ewigkeit hier an sich zu nehmen; denn sie erschienen ihm wie etwas Ewiges, da draußen außerhalb seines Ich, diese kleinen Städte, in denen er immer nur eine Stunde verbrachte, und diese Gärten, umhegt von alten Mauern, die er überflog. Und die Ortschaft stieg dem Flugzeug entge- gen und öffnete sich ihm. Und Fabien dachte an die Freundschaften, an die zärtlichen Mäd- chen, an die Traulichkeit der weißen Tischtü- cher, an alles, was sich gemächlich einrichtet auf die Ewigkeit. Und die kleine Stadt glitt schon dicht unter den Flügeln dahin und bot das Innere ihrer geschlossenen Gärten dar, die ihre Mauern nicht mehr beschützten. Aber Fabien wußte, als er gelandet war, daß er nichts gesehen hatte als nur die langsame Be- wegung von ein paar Menschen zwischen ih- ren Steinen. Diese Stadt hielt ihr lebendiges Leben hinter ihrer Unbeweglichkeit verbor- 18
gen, diese Stadt gab ihr Behagen, ihre Süße nicht preis: um sie zu gewinnen, hätte man auf die Tat verzichten müssen. Als die zehn Minuten Aufenthalt um waren, mußte Fabien wieder scheiden. Er schaute auf San Julian zurück: es war nur noch eine Handvoll Lichter, dann Sterne, dann verlor sich das bißchen blitzender Staub, der ihn zum letztenmal versucht hatte. »Ich sehe die Zeiger nicht mehr: ich mache Licht.