Das Zwillingsparadoxon | Spezielle Relativitätstheorie - Teil 4 (2018)
Zwei Personen.
Zwillinge.
Einer bleibt auf der Erde während der andere mit annähernd Lichtgeschwindigkeit zum Stern
Gliese 1 aufbricht, diesen umrundet und wieder zurückkehrt.
Wenn die Zwillinge wieder vereint sind, ist einer um etwa 30 Jahre gealtert, der andere
aber nur um einige Monate.
Oder doch nicht?
Ich bin Ronny – willkommen bei Raumzeit.
Nachdem ihr in den Kommentaren schon oft nach dem Zwillingsparadoxon gefragt habt, wollen
wir uns diesem Thema heute ausführlich widmen.
Die Ausgangssituation ist simpel – wir haben Zwillinge, nennen wir sie Sandy und Malia.
An ihrem 30.
Geburtstag besteigt Sandy ein Raumschiff und tritt eine Reise nach Gliese 1 an – 15 Lichtjahre
von der Erde entfernt.
Sandys Raumschiff ist ultraschnell und schafft es auf 0,99972% der Lichtgeschwindigkeit.
Sobald Sandy Gliese 1 erreicht, kehrt sie um und reist zurück zur Erde.
Dort angekommen stellt sie fest, dass ihre Zwillingsschwester 60 Jahre alt ist – obwohl
ihre Reise aus Sandys Perspektive nur wenige Monate gedauert hat.
Wer unsere anderen Teile zur speziellen Relativitätstheorie gesehen hat, der wird sich vermutlich fragen,
wo genau denn hier nun das Paradoxon sein soll.
Schließlich können wir die verlangsamte Alterung Sandys mit Zeitdilatation erklären:
da Sandy mit 0,99972% der Lichtgeschwindigkeit reist, errechnen wir einen Gammafaktor von
circa 42.
Damit verkürzt sich Sandys Strecke zu Gliese 1 auf lächerliche 0,36 Lichtjahre und daher
braucht sie hin und zurück auch lediglich etwas mehr als ein halbes Jahr.
Für Malia hingegen vergingen die vollen 30 Jahre, welche das Licht für die Distanz nach
Gliese 1 und zurück benötigt.
Es wird dann scheinbar paradox, wenn wir Einsteins Grundannahme bedenken, nach der alle Inertialsysteme
gleichberechtigt sind.
Genauso, wie wir die Bewegung der Erde nicht wahrnehmen und sich scheinbar der Sternenhimmel
um uns dreht, kann Sandy argumentieren, dass sie in Ruhe ist, während sich das Universum
um sie herum mit annähernd Lichtgeschwindigkeit bewegt.
Für Sandy bewegt sich die Erde von ihr weg und schließlich wieder auf sie zu.
Dieser Logik folgend müsste auch Sandy die Uhren auf der Erde langsamer ticken sehen
– folglich sollte ihre Schwester Malia diejenige sein, die langsamer altert.
Spätestens bei der Rückkehr aber kann dieses Paradoxon nicht bestehen bleiben – entweder
beide sind gleichermaßen gealtert oder aber nur eine von ihnen – auf keinen Fall können
beide weniger gealtert sein als die jeweils andere – Schrödingers Zwillinge quasi.
Tatsächlich entdeckt Sandy bei ihrer Rückkehr, dass Malia, die zu Hause geblieben war, um
30 Jahre gealtert ist – was also ist die Lösung?
Wie ich vorhin schon bemerkte, ist das Zwillingsparadoxon nur scheinbar paradox.
Die möglichen Lösungsansätze greifen dabei sehr weit – wir wollen euch daher heute
eine sehr einfache und eine etwas komplexere präsentieren.
Beide Lösungen aber liegen in den bisher von uns vorgestellten Annahmen der Speziellen
Relativitätstheorie verborgen.
Beginnen wir mit der leichter zugänglichen.
Damit wir die SRT überhaupt anwenden können, benötigen wir Inertialsysteme.
Während Malia auf der Erde im Wesentlichen in Ruhe mit Bezug auf ihr Inertialsystem verharrt,
ist das bei Sandy nicht der Fall – sobald Sandy nämlich Gliese 1 erreicht, muss sie
ihr Raumschiff abbremsen und dann wieder in Richtung Erde beschleunigen.
Damit verlässt sie ihr Inertialsystem – und wir können für sie die spezielle Relativitätstheorie
nicht mehr anwenden.
Egal welche Tricks wir hier ins Feld führen – wir benötigen zwei Inertialsysteme, um
Sandys Reise zu beschreiben: eines für die Bewegung hin zu Gliese 1 und eines für die
Bewegung zurück.
An dieser Stelle gibt es in der Regel einige Einwände, auf die wir hier möglichst vollständig
eingehen wollen.
Ein Argument, was oft vorgebracht wird, ist, dass es sich ja auch beim Zwilling auf der
Erde nicht um einen inertialen Beobachter handelt – schließlich befindet sich Malia
ja im Gravitationsfeld der Erde und dies wirkt nachweislich beschleunigend auf sie.
Tatsächlich ist es aber so, dass wir bei den Geschwindigkeiten, die wir hier besprechen
– extrem hohen relativistischen Geschwindigkeiten nahe c - der Einfluss des Erdgravitationsfelds
auf Malia quasi zu vernachlässigen ist.
Und natürlich könnten wir Malia auch in eine driftende Raumstation im intergalaktischen
Raum verlagern – das Gesagte behält seine Gültigkeit.
Dann gibt es das häufig gehörte Argument mit der Beschleunigung.
Es sei die Beschleunigung, welche das Paradoxon auflöse – das geht teils so weit, dass
man behauptet, die Zeitdilatation sei auf die Phase der Beschleunigung konzentriert,
der Zwilling würde spontan „nachaltern“ und man müsse hier die Allgemeine Relativitätstheorie
hinzuziehen.
Man kommt allerdings sehr gut ohne die allgemeine Relativitätstheorie aus.
Tatsache ist nämlich, dass man das Gedankenexperiment auch gänzlich ohne Beschleunigung durchführen
kann.
Ein Raumschiff passiert die Erde mit konstanter Geschwindigkeit und synchronisiert im Vorbeiflug
die Uhr mit der irdischen Zeit.
Wenn es Gliese 1 erreicht, kommt ihm ein zweites Raumschiff mit gleicher Geschwindigkeit entgegen
– das erste Raumschiff überträgt nun seine Zeit an das zweite.
Das zweite Raumschiff fliegt weiter mit konstanter Geschwindigkeit bis zur Erde und übermittelt
dort seine Zeit an die Missionskontrolle.
Alles ohne Beschleunigung und Bremsmanöver – gleicher Sachverhalt.
Wie ist das aber nun mit der komplexeren Lösung.
Die komplexere Lösung greift auf das Konzept der Gleichzeitigkeit zurück, welches wir
in unserem letzten Video aus dieser Reihe vorstellten.
Schaut ruhig nochmal rein, wenn ihr die Inhalte nochmal auffrischen wollt.
Wir nehmen auch für dieses Szenario leichter verdauliche Werte an.
Sandy fliegt mit 60% der Lichtgeschwindigkeit eine Distanz von 3 Lichtjahren.
Wir erwarten, dass Sandy nach 10 Jahren zurück kommt (10 mal 0,6 Lichtjahre für die Gesamtdistanz
von 6 Lichtjahren).
Wir erwarten auch, dass für Sandy aufgrund von Zeitdilatation nur 8 Jahre vergehen.
Perspektivwechsel zu Sandy: sie benötigt tatsächlich 8 Jahre für die Gesamtdistanz
von 4,8 Lichtjahren (richtig – es sind für Sandy nur 4,8 Lichtjahre aufgrund der Längenkontraktion.)
Gleichzeitig muss Sandy davon ausgehen, dass für Malia auf der Erde insgesamt nur 6,4
Jahre vergehen – denn auch sie nimmt eine Zeitdilatation für Sandy an.
Fehlen irgendwie 3,6 Jahre … Und genau hier kommt das so wichtige Konzept
der Gleichzeitigkeit ins Spiel, welches wir im letzten Video vorstellten.
Damit wir das heute nicht mathematisch machen müssen, nutzen wir ein Raumzeit-Diagramm
(wer damit nichts anfangen kann, schaut bitte unser 2 Minuten Video „Raumzeit-Diagramme
– einfach erklärt.“)
Wenn das Raumschiff mit Sandy losfliegt – ändert sich auch Sandys Wahrnehmung von Gleichzeitigkeit
und zwar abhängig von der relativen Geschwindigkeit und der Distanz zu Malia.
Je weiter Sandy davon fliegt, desto weiter verschiebt sich das Konzept von Gleichzeitigkeit.
Kurz vor dem Ziel – also nach etwa 4 Jahren auf Sandys Uhr, nimmt sie an, dass gleichzeitig
für Malia 3,2 Jahre vergangen sind – nicht etwa die für uns intuitiven 5 Jahre.
Die Linien, welche die Gleichzeitigkeit markieren, sehen wir hier im Diagramm in blau.
Sobald Sandy aber das Inertialsystem wechselt bzw. umkehrt, ändert sich auch ihr Vorstellung
der Gegenwart – sie fliegt ja jetzt nicht mehr von Malia weg sondern auf sie zu.
Für sie ist nun ein Zeitpunkt gleichzeitig, an welchem für Malia bereits fast sieben
Jahre vergangen sind.
Die neuen Gleichzeitigkeitslinien für den Rückflug sind in rot markiert.
Die Auflösung des Paradoxons wird damit deutlich – Sandy ist tatsächlich der Meinung, dass
für Malia nur 6,4 Jahre vergangen sind – ebenso aber gibt es einen Sprung in der Gleichzeitigkeit,
man spricht hier von Sprung-Diskontinuität – und dieser Sprung überbrückt genau die
3,6 Jahre, welche uns fehlten.
Unsere Buchempfehlung diesen Monat ist daher Marcel Prousts großer Klassiker „Auf der
Suche nach der verlorenen Zeit.“
Erwähnte ich schon, dass es ein zeitloser Klassiker ist?
Sorry … Mir ist klar, dass das nur sehr schwer zu
verstehen ist, weil es nichts mit unserer Alltagserfahrung zu tun hat – ohne allerdings
ein Verständnis von relativer Gleichzeitigkeit kann man das Twinparadoxon nicht vollständig
auflösen.
Wir hoffen trotzdem, es hat auch wieder gefallen – wir freuen uns über euer Abo, einen Kommentar
und ganz besonders über unsere tollen Patreons.
Wie immer sagen wir danke fürs Zuschauen und in diesem Sinne, 42!