Migrationskrise an der Grenze zu Mexiko?
MANUSKRIPT
O-Ton 01 - („Bienvenidos todos a Laredo, Tejas…“)
Sprecher: Auf einem schmalen Grünstreifen direkt am Rio Grande, dem Grenzfluss zwischen den USA und Mexiko, wird demonstriert. Die Republikaner von Laredo haben zum Protest gegen die Einwanderungspolitik der Biden-Regierung aufgerufen.
O-Ton 02 - („My name is Sandra Whitten…“) Sprecher: Eine der Rednerinnen ist Sandra Whitten. Die 37-Jährige lebt mit ihrer Familie in
Laredo und will Kongressabgeordnete werden, bei den Midterm-Parlamentswahlen im kommenden Jahr. Sandra wirbt für einen harten Kurs in der Einwanderungspolitik.
O-Ton 03 - („Our cities are overwhelmed, our counties are overwhelmed…“): „Unsere Städte sind überfordert, unsere Landkreise sind überfordert, unsere Wohlfahrts-Organisationen: alle überfordert. Das ist so typisch für die Demokraten, ob sie nun 5 Jahre oder 80 Jahre lang regieren. Die sind das Problem, denn die haben das zugelassen!“
Ansage: „Migrationskrise an der Grenze zu Mexiko? – Bidens Einwanderungspolitik“
von Sebastian Hesse.
Sprecher: Die rapsblonde Sandra steht mit ihrer verspiegelten Sonnenbrille und in ihrem schwarzen Kleid auf einer kleinen, improvisierten Bühne, die mit allerhand patriotischem Schmuckwerk aufgehübscht wurde. Bei der Protestkundgebung wehen Trump-Flaggen, als sei noch Wahlkampf. Trump als Superman, Trump als Rambo.
Banner mit der Aufschrift: ‚Build the Wall‘, baut die Mauer. Keiner der Teilnehmer trägt eine Maske.
Atmo-Ton
Sprecher: Jedes Mal, wenn auf dem Rio Grande ein Patrouillenboot der Grenzschützer vorbeifährt, brechen Jubel und Beifall aus. Die zahlreichen Redner beklagen durch die Bank, Laredo werde seit Beginn der Biden-Präsidentschaft geradezu überrannt von ‚Illegal Aliens‘, wie die Flüchtlinge hier genannt werden.
O-Ton 04 - („So God did bless America, God did bless Texas…“)
Sprecher:
Trotz der Schreckensszenarien, die am Ufer des Rio Grande beschworen werden, sieht Sandra Whitten, die Kongress-Kandidatin, die Protestkundgebung eher als Warnung vor einer möglichen Zukunft.
O-Ton 05 - („This is one of the safest cities in the United States of America…“): „Das hier ist eine der sichersten Städte in den USA! Ich lebe hier seit 12 Jahren und habe mich nie unsicher gefühlt. Aber wenn wir jetzt die Klappe halten und das hier an der Grenze geschehen lassen: Das wäre kriminell!“
Sprecher: Als Bürgerin von Laredo weiß Sandra nur allzu genau, dass die Einwohner der Grenzstadt nicht angetan waren von der Stimmungsmache gegen Einwanderer während der Trump-Jahre: „Don't mess with South Texas: No border wall!“ steht auf Bannern in auffallend vielen Vorgärten in Laredo. Aber wie viele Republikaner hat Sandra verinnerlicht, wie erfolgreich Donald Trump 2016 mit dem angstbesetzten Thema auf Stimmenfang ging.
O-Ton 06 - freistehend („President Trump did it right when he said we got to secure the border…”)
Sprecher:
Trumps ‘America first' – Politik sei genau richtig gewesen. Genüsslich rechnen Republikaner seit Wochen vor, wie dramatisch sich die Lage an der Grenze seit Joe Biden's Amtsantritt zugespitzt habe. Tatsächlich klingen die Zahlen der ‚Customs and Border Protection‘ (CBP) besorgniserregend. Allein im März sind entlang der amerikanisch-mexikanischen Grenze über 170.000 illegale Grenzgänger abgefangen worden, ein Plus von gut 70 % gegenüber dem Vormonat. Im April pendelte es sich auf hohem Niveau ein. Grenzschützer sprechen vom größten Anstieg seit 20 Jahren. Seit Oktober letzten Jahres sind entlang der Grenze mehr als eine halbe Million Migranten gestoppt worden. Bis Jahresende könnten es locker zwei Millionen werden, die es irgendwie in die USA schaffen und sich dort freiwillig den Behörden stellen. In der vagen Hoffnung, nicht gleich wieder abgeschoben zu werden.
O-Ton 07 - geblendet (Come across the Rio Grande Valley…“) Sprecher: „Kommt über den Rio Grande, wir haben ein Hotelzimmer für Euch vorbereitet“: Der
Vorsitzende der republikanischen Partei von Texas, Allen B. West, ist aus Houston zu der Kundgebung in Laredo angereist. Auch der Ex-Offizier und Afro-Amerikaner wirft der Biden-Regierung vor, die Grenze quasi geöffnet zu haben.
O-Ton 08 - („Events like this are so important because we've got to…“): „Veranstaltungen wie diese sind so wichtig, weil wir die Bürger aufrütteln müssen, und ihre Volksvertreter: Ohne Grenzen gibt es keine Nationen mehr! Deshalb sind wir hier, um den Leuten zu sagen: Es gibt hier eine Krise, es herrscht Chaos hier!“
Sprecher: Doch wenn man dieser Tage durch das historische Westernstädtchen am Rio Grande schlendert, dann wirkt Laredo eher schläfrig und ausgestorben, und nicht wie im Chaos versunken. Nur acht Blocks von der Kundgebung entfernt, im Herzen von Laredos Altstadt, liegt das kirchliche Gemeindezentrum Holding Institute. Seit 1880 stellt es Notunterkünfte für Migranten zur Verfügung. Geleitet wird das Zentrum von Pfarrer Mike Smith.
O-Ton 09 - („So right now there's a lot of news being made…“): „Im Moment sind die Nachrichten voll davon: Anstieg bei der Einwanderung, Krise an der Grenze. Ich muss Ihnen sagen: Das hier ist keine Krise! Wir hier in Laredo wissen, wie sich Krise anfühlt. Da müssen schon Hunderte an einem Tag kommen. Das hier kriegen wir hin. Zumal wir ja mit einem Netzwerk an Obdachlosen- Unterkünften zusammenarbeiten.“
Sprecher: Mike Smith sitzt in der Cafeteria des Holding Institutes. Der klimatisierte Raum ist mit einfachen Tischen und Stühlen aus Plastik möbliert. An den Wänden hängen vergilbte Reiseplakate, die für Trips nach Lateinamerika werben. Und ‚Cinco de Mayo‘ – Fähnchen aus Mexiko. An einer Essensausgabe gibt es warme Mahlzeiten für die Migranten, denen der Geistliche ein Dach über dem Kopf bietet. Die Cafeteria ist fast leer. Die meisten, die im ‚Holding Institute‘ untergebracht sind, wurden von Grenzschützern irgendwo im Niemandsland zwischen Mexiko und den USA aufgegriffen und erst einmal in diese Notunterkunft verbracht.
O-Ton 10 - („So here at our particular shelter we only receive…“): „Hier in unserem Shelter beherbergen wir nur komplette Familien. Die unbegleiteten Minderjährigen werden an der Grenze sehr schnell erfasst und dann in Spezial- Unterkünften im ganzen Land untergebracht. Manchmal kommen auch Eltern zu uns, deren Kinder verloren gegangen sind. Oder von ihnen getrennt wurden. Denen helfen wir dann, ihre Kinder wiederzufinden.“
Sprecher: Die Flüchtlingsunterkunft im Herzen von Laredo war auch für Luis die erste Anlaufstelle nach der Ankunft in den USA. Mit seiner sechs Jahre alten Tochter ist es Luis gelungen, ohne Papiere die Grenze zu überwinden. Jetzt sitzt der drahtige, schmalschultrige Mann, der die 30 gerade erst überschritten hat, etwas verloren in der Cafeteria, mit seiner Tochter auf dem Schoss.
O-Ton 11 - („De Honduras! Honduras, de Copán! Esta abburita…“): „Wir kommen aus Honduras, aus Copán! Das liegt an der Grenze zu Guatemala. Die Situation dort ist gerade ziemlich schlimm, nach zwei Hurrikans. Die Wirbelstürme haben mein Haus zerstört. Komplett zerstört! Nichts mehr übrig! Die Hurrikans haben das ganze Land verwüstet. Ich habe vier Kinder: Die kriege ich gerade noch satt, aber für die Schule, für Kleider habe ich kein Geld. Darum sind wir gekommen.“
Sprecher: Das ist häufig zu hören von Grenzgängern aus Zentralamerika: Dass Naturkatastrophen wie Tropenstürme zunehmen und regelmäßig ganze Landstriche
verwüsten. Von Copán aus ist man rund 35 Stunden mit dem Auto unterwegs nach Nuevo Laredo. Zweieinhalb Tausend Kilometer trennen Luis‘ Heimatort von dem mexikanischen Grenzübergang.
O-Ton 12 - („Es dificil y duro! Es duro por el motivo…“): „Die Reise war schwierig und hart! Im Bus durch Guatemala und Mexiko. Man wusste gar nichts, – nicht einmal, wo man war. Meine Schwestern in den USA hatten uns das Geld geschickt. Man musste im Voraus bezahlen.“
Sprecher: Seit der US-Präsidentschaftswahl im November letzten Jahres brodelt die Gerüchteküche. Auch Luis kam in dem festen Glauben, die Grenze sei jetzt wieder leichter zu überwinden.
O-Ton 13 - („Si! Quando el nos dio el proposito …“): „Ja! Als Joe Biden uns Hoffnung gemacht hat, haben wir uns auf den Weg gemacht! Wir hatten gehört, dass mit Biden jetzt die Grenze offen wäre. Dass ich in die USA kommen könnte und ein besseres Leben haben. Als ich das hörte, war ich so froh, dass es einen neuen Präsidenten gibt. Dank Joe Biden sind wir jetzt hier! Ich hoffe, er wird ein langes Leben haben!“
Sprecher: Den Mythos von der durchlässigeren Grenze durch Biden schüren nach Kräften die Menschenschmuggler, für die illegale Grenzübertritte ein lukratives Geschäft sind. Auch Luis und seine Tochter sind mithilfe von ‚Coyotes‘, wie die Menschenschmuggler in Mexiko genannt werden, in die USA gelangt. Luis‘ Schwestern, die nördlich der Grenze leben, – in Virginia und in Houston, Texas –, haben ihm die tausend Dollar vorgestreckt, die die Menschenschmuggler verlangt haben. Jetzt will Luis schnellstmöglich Geld verdienen; – dafür ist er gekommen.
O-Ton 14 - („Si, trabajar! Trabajar para construirlo…“): „Ja, um zu arbeiten. Auf dem Bau. Oder putzen gehen. Meine Kinder brauchen ein Zuhause. Ich will mein Haus wieder aufbauen. So schnell wie möglich. Und bessere Bildung für meine Kinder. Aber das wird schwer, man muss Glück haben. Ohne gültige Papiere. Und ich kann kein Englisch. Für die Kubaner oder die Venezuelaner ist das einfacher, die kommen leichter rein. Wenn Du aus Honduras oder Nicaragua bist, dann wirst Du eher zurückgeschickt. Ich bin nicht sehr zuversichtlich!“
Sprecher: Pfarrer Mike Smith, der das ‚Holding Institute‘ leitet, sind Lebensgeschichten wie die von Luis wohl vertraut: Die seien fast schon ein Klischee.
O-Ton 15 - („There's not a desire of people saying I wanna come and live…”): „Niemand kommt und sagt: Ich will hierbleiben und auf Kosten der USA leben! Nein! Diese Leute wollen arbeiten, sich einfügen. Und das ist ja auch klar: Die wollen ihre daheimgebliebenen Familien unterstützen. Keiner von denen will sich von der Regierung durchfüttern lassen.“
Sprecher: Doch noch stellen die USA illegalen Grenzgängern keine Arbeitsvisa aus, die ihnen einen zeitlich begrenzten legalen Aufenthalt ermöglichen würden. Luis hatte sich wie so viele freiwillig den US-Behörden gestellt, nachdem er amerikanischen Boden unter den Füssen hatte. Seine sechsjährige Tochter hatte er im Gepäck, weil er natürlich wusste, dass die USA Familien mit Minderjährigen nicht sofort wieder abschieben.
Anders als allein reisende Erwachsene. Dass Luis vorerst bleiben darf, in der Notunterkunft, heißt noch lange nicht, dass er Arbeit bekommen wird oder länger im Lande geduldet wird.
MUSIKTRENNER
O-Ton 16 - („My name is Carlos Evaristo Flores. I'm an attorney that lives in Laredo…”): „Mein Name ist Carlos Evaristo Flores. Ich bin ein Anwalt aus Laredo, Texas. Und ein Mitglied der Koalition gegen Trumps Mauer an der Grenze. Wir kämpfen weiter gegen einen Wall entlang der Grenze zu Mexiko.“
Sprecher: Carlos Flores ist alles andere als ein linker Aktivist. Der Anwalt, dessen Kanzlei in einem gepflegten Vorort von Laredo liegt, vertritt die Rechte von Landbesitzern, die von der Trump-Regierung für das Mauerbau-Projekt entlang der Grenze enteignet wurden. Oder noch enteignet werden sollen.
O-Ton 17 - („What hangs in the balance, Sebastian, what hangs in the balance…“): „Worum es geht, sind die Eigentümer-Rechte hunderter US-Staatsbürger, die an der Grenze leben, dort Farmen bewirtschaften. Denen wird gesagt: Wir konfiszieren Euer Land, zahlen Euch Pfennigbeträge dafür. Im Gegenzug gibt es was, das womöglich gar nicht funktioniert, aber vielen Menschen im Land ein stärkeres Sicherheitsgefühl gibt, weil man an der Grenze etwas entstehen sieht.“
Sprecher: Carlos hat zwar mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass die Biden-Regierung die Finanzierung von Trumps Mauerbau über den Verteidigungsetat zurückgenommen hat. Aber er glaubt nicht unbedingt, dass damit das gesamte Bauvorhaben gestoppt ist: Aus Angst vor horrenden Entschädigungszahlungen, so der Anwalt, lässt Biden den Bau möglicherweise da weiterlaufen, wo gültige Verträge bestehen. Überhaupt wundert sich der Anwalt über die Aufregung wegen der angeblichen Krise an der Grenze: Bislang habe die Biden-Regierung doch noch gar nichts geändert!
O-Ton 18 - („What I understand is that the only thing that has changed…“): „Das Einzige, was sich verändert hat, ist, das unbegleitete Minderjährige nicht mehr nach Mexiko abgeschoben werden! Es ist unmenschlich, einen unbegleiteten Minderjährigen nach Mexiko zurück zu schicken. Wo sie in diesen Auffanglagern landen würden, wo es immer wieder zu Gewalt durch die Kartelle kommt. Präsident Biden und Minister Mayorkas verstehen, dass das unmenschlich ist! Die versuchen,
Fehler der Trump-Regierung zu korrigieren. Vor allem das Trennen von Familien an der Grenze.“
Sprecher: Der neue Heimatschutz-Minister unter Biden, Alejandro Mayorkas, ist gebürtiger Kubaner. Damit ist zum ersten Mal ein Latino für die Grenzsicherung der USA zuständig. Mayorkas findet deutliche Worte:
O-Ton 19 - freistehend („We are expelling families, we are expelling single adults, we have communicated, we will continue to communicate to the children: Do not come! Do not come!”): „Wir schieben Familien und allein reisende Erwachsene ab!”, stellt der Minister klar,
„und den Kindern sagen wir: Kommt nicht, kommt nicht!“
Sprecher: Aber sie kommen doch: 22.500 Kinder und Jugendliche ohne Eltern sind seit Bidens Amtsantritt ins Land gekommen. Stand Anfang Mai. Sie werden als allerstes auf Covid getestet und dann in abgeschirmten Notunterkünften untergebracht. Nach massiven anfänglichen Unterbringungsschwierigkeiten hat sich die Lage mittlerweile entspannt. Im Verlaufe des April ist das Aufkommen an Kindern und Jugendlichen um 88 % zurückgegangen, berichtet die ‚US Customs and Border Protection‘ (CBP). Entsprechend kriegen Grenzstädte wie Laredo von den minderjährigen Migranten gar nichts mit. Carlos Evaristo Flores muss jedes Mal schmunzeln, wenn er den Begriff ‚Migranten‘ hört: Laredos Bevölkerung besteht zu 96 % aus Latinos. Im Alltag wird mehr Spanisch als Englisch gesprochen. Was sich aus der Historie Laredos erklärt:
O-Ton 20 - („Laredo, Texas, is a city that was founded in 1755, I think it was…”): „Laredo, Texas, wurde im Jahre 1755 gegründet. Noch bevor die USA ein eigenständiges Land waren. Auf der anderen Seite der Grenze liegt Nuevo Laredo. Wir waren mal eins, aber als der Rio Grande zum Grenzfluss erklärt wurde, spaltete das die Stadt in zwei.“
Sprecher: Der Bürgermeister des texanischen Teils der Doppelstadt, Pete Saenz, lenkt zwar nur die Geschicke von Laredo. Aber diese Geschicke hängen auch stark davon ab, was sich am anderen Ufer des Rio Grande abspielt.
O-Ton 21 - („We're an organism, I say. When something occurs on the Mexican side…”): „Wir sind ein Organismus! Wenn auf der mexikanischen Seite etwas passiert, hat das für uns wirtschaftliche Auswirkungen. Familien haben Angehörige auf beiden Seiten. Wir sind so verbunden, eine Region. Und trotzdem Patrioten: Wir als Amerikaner, sie als Mexikaner. Wir respektieren und brauchen uns: Denn unsere symbiotische Beziehung erhält uns am Leben. Das macht uns so einzigartig!“
Sprecher: In den zurückliegenden anderthalb Jahren hat die Corona-Krise beide Hälften von Laredo wirtschaftlich gleichermaßen hart getroffen.
O-Ton 22 - („Pre pandemic, before Covid hit '19 Laredo, like in no other time…”): „Vor der Pandemie, bevor 2019 Covid kam, ging es uns so gut wie überhaupt noch nie! Die Grenzregion hier, Laredo, lag jahrelang 31 %, 32 % unterhalb der Armutsgrenze! Einer von drei Einwohnern Laredos lebte in Armut. Anfang 2020 hatten wir das auf 19,5 % reduzieren können. Das war unglaublich!“
Sprecher: Aber eben nur ein Zwischen-Hoch. Auch Miguel Conchas, der Präsident von Laredos Handelskammer, klagt über dramatische Pandemie-Folgen.
O-Ton 23 - („We were enjoying 3,5 % unemployment, I believe…”): „Wir waren 2019 bei einer erfreulich niedrigen Arbeitslosenquote von 3,5 %! Historisch war das für uns eine der besten Zeiten! Wegen Covid schnellte die Rate dieses Jahr dann nach oben, weil die meisten Läden zumachen mussten. Da lag die Quote dann bei 14 %!“
Sprecher: Der Hauptgrund: Die geschlossene Grenze. Zwar ist der grenzüberschreitende Warenverkehr weiter geflossen: Je 8.000 Lastwagen täglich in beide Richtungen. Rund 100 Züge pro Tag über die Eisenbahnbrücke. Aber der kleine Grenzverkehr, den Laredos Wirtschaft so dringend benötigt, kam zum Erliegen.
O-Ton 24 - („Mexican families love to come across the border to shop…”): „Mexikanische Familien lieben es, zum Einkaufen über die Grenze zu kommen! Die kaufen gerne amerikanische Produkte. Die gibt's zwar auch in Mexiko. Aber die shoppen gerne hier in den USA!“
Sprecher: Wenn man vom mexikanischen Nuevo Laredo über eine der Fußgängerbrücken, die den Rio Grande überqueren, ins texanische Laredo läuft, dann sieht man als erstes einen gewaltigen Schriftzug: „Bienvenidos a los Outlet Shoppes“, ‚Willkommen in den Outlet-Shops‘. Parallel zu dem Grenzfluss steht auf amerikanischer Seite ein kolossales Einkaufszentrum. Der endlos lange Flachdachbau ist pastellfarben angestrichen, mit Markenlogos gesprenkelt und wirkt wie eine unüberwindliche Mauer. Wer in die kopfsteingepflasterten Altstadtgassen des Westernstädtchens will, der muss seinen Weg durch die Mega-Mall finden. Und die ist in diesen Tagen menschenleer. Die Shops, die allesamt zu großen Ketten gehören, werden die Pandemie wohl unbeschadet überstehen. Aber die kleinen, individuellen Läden in der Altstadt, und die Familienrestaurants, die hat's schwer erwischt. O-Ton 25 - freistehend („More than anything it hurt the small businessmen, small shops, restaurants. They've suffered. Many of them probably will not be able to reopen!”)
Sprecher:
„Viele werden wohl nach der Pandemie nicht wieder aufmachen können”, klagt Handelskammer-Präsident Conchas. Die Ironie in Laredo liegt also darin, dass die Stadt nicht unter einer offenen Grenze leidet, wie Amerikas politische Rechte behauptet, sondern im Gegenteil unter der geschlossenen Grenze. Nicht der Zuwachs an illegaler Migration macht dem Grenzort zu schaffen, sondern der Wegfall der legalen Grenzübertritte. ‚Title 42‘ heißt die Verordnung aus der Trump-Ära, die Joe Biden aufrechterhalten hat. Sie verbietet jeden Grenzübertritt, der nicht essentiell ist. Und dazu zählen mexikanische Tagestouristen, die sonst in Scharen zum Shoppen nach Laredo strömen. Die Regierung in Washington habe den kleinen
Grenzverkehr zu ‚unwesentlichem Geschäft‘ erklärt, so Conchas, hier an der Grenze sei er aber sehr wohl wesentlich.
O-Ton 26 - freistehend („They call it nonessential! To us it's essential!” Unfortunately, but the rules are made in Washington and in Mexico City!”) Sprecher:
Bedauerlicherweise würden die Regeln in Washington und in Mexico City gemacht. Überhaupt würden in den fernen Hauptstädten seltsame Vorstellungen vom Leben entlang der Grenze herrschen. Das merke man auch jetzt wieder, sagt Conchas, wenn von der angeblichen ‚Krise an der Grenze‘ die Rede ist.
O-Ton 27 - („I think sometimes Washington loves words like crisis…”): „Manchmal denke ich, Washington liebt Begriffe wie ‘Krise'! Aus politischen Gründen. Hier gab es schon immer illegale Einwanderung. Das gehört hier zum Leben!“
Sprecher: Der Handelskammer-Präsident kann nicht verstehen, warum die heimlichen Grenzübertritte nicht legalisiert werden. Durch zeitlich befristete Arbeitsvisa. Dann müsste niemand mehr sein Leben riskieren, in der vagen Hoffnung auf schlecht bezahlte Schwarzarbeit.
O-Ton 28 - („Most of the people that come across don't necessarily want to become US citizens…”): „Die meisten Grenzgänger wollen doch gar keine US-Staatsbürger werden! Die wollen arbeiten! Geld verdienen und das zu ihren Familien nach Hause schicken. Ich verstehe einfach nicht, warum wir denen keine Arbeitserlaubnis erteilen können! Die Zahlen steuern. Zu unserem Nutzen, zu deren Nutzen. Das ist doch unproblematisch!“
Sprecher: Jobs gäbe es in Laredo genug. Jobs, die kein US-Staatsbürger machen wolle. Diese Jobs an ‚Migrant Worker‘ von südlich der Grenze zu vergeben brächte nur Vorteile.
O-Ton 29 - („To me it's a solution of some type, you know…“): „Für mich wäre das eine Lösung: Ihnen Arbeitsgenehmigungen zu erteilen! So wüsste man auch, wer sich im Lande aufhält. Die bezahlen Steuern. Wenn sie gegen
das Gesetz verstoßen, schiebt man sie ab. Aber wenn sie sich an die Regeln halten, dann gibt's doch gar kein Problem! Ich verstehe das nicht!“
MUSIKTRENNER
Sprecher: Ob die Biden-Regierung das heiße Eisen ‚Gastarbeiter-Programme‘ anfassen wird, steht vorerst in den Sternen. Der neue US-Präsident hat aber erkannt, wie akut der Handlungsbedarf ist: Biden hat Einwanderungsreform zur Vize-Chefinnen-Sache erklärt – und Vizepräsidentin Kamala Harris beauftragt, ein Gesamtkonzept zu erstellen.
O-Ton 30 - freistehend („We also have to get to the root problem of why people are fleeing particularly to our southern border from Guatemala, Honduras and El Salvador.”)
Sprecher:
„Wir müssen an die Wurzel des Problems, die Fluchtursachen”, so Präsident Biden im April in seiner Rege im Kongress, „und diese Wurzeln finden sich in Guatemala, Honduras und El Salvador!“ Die drei mittelamerikanischen Staaten, die man in den USA ‚Northern Triangle‘ nennt, das nördliche Dreieck, wurden in der jüngeren Vergangenheit besonders von Naturkatastrophen heimgesucht. Wenn sich dort die Lebensverhältnisse verbessern, so das Kalkül, dann müsse auch niemand mehr das Glück in der Ferne suchen. Eine Deadline für Harris‘ Gesamtkonzept gibt es nicht, was einige in Laredo den Kopf schütteln lässt. Pfarrer Mike Smith vom ‚Holdings Institute‘ nimmt die vielen Absichtserklärungen, die er zum Thema Einwanderung gehört hat, solange nicht ernst, wie sie schwammig und vage bleiben.
O-Ton 31 - („For us the solution to the immigration problem…“): „Für uns liegt die Lösung der Einwanderungs-Problematik darin, Klarheit zu schaffen. Die Trump-Politik kann man als unmenschlich kritisieren, aber die war kristallklar!
Unmissverständlich! Im Moment weiß niemand Bescheid. Ich würde Vizepräsidentin Harris bitten, Klarheit zu schaffen: Arbeitsvisa erteilen, dadurch den Überblick behalten. Die Shelter, die NGOs mit all ihrer Erfahrung direkt an der Grenze mithelfen lassen.“
Sprecher: Auch in Sachen Gelassenheit könnte sich die Politik in Washington eine Scheibe bei den Grenzbewohnern abschneiden, meint der Geistliche, das gelte für die Regierenden ebenso wie für die Oppositionellen, die mal wieder Wahlkampf machen mit dem Reizthema Einwanderung.
O-Ton 32 - („If you lived here at the border, which I have most of my life…“): „Wenn Sie, wie ich, hier an der Grenze leben würden, dass wüssten Sie, dass Einwanderung ein einziger, endloser, ewiger Fluss ist. Nichts daran ist neu.
Manchmal tritt der Fluss über die Ufer, manchmal ist das Flussbett trocken.“
MUSIKTRENNER
Sprecher: Doch egal wieviel Wasser bis November kommenden Jahres durch das Flussbett des Rio Grande fließt: Bis dahin, bis zu den ‚Midterm Elections‘, dürfte das Reizthema auf der Tagesordnung bleiben. Ungeachtet dessen, was Kamala Harris einwanderungspolitisch auf den Weg bringt. Vor Ort, an der Grenze, in Laredo, macht sich da kaum jemand Illusionen. Der Anwalt Carlos Evaristo Flores spricht wohl für viele:
O-Ton 33 - („Right now we're in a political climate where the far right doesn't really want…“): „Im gegenwärtigen politischen Klima will die äußerste Rechte gar nicht über Lösungen reden. Die wollen Menschen dämonisieren! Politiker, die auf die Stimmen der äußeren Rechten aus sind, gehen mit dämonisierender Wortwahl auf
Stimmenfang.“
Sprecher: Nicht nur bei der Republikaner-Kundgebung in Laredo: Entlang der knapp 3.200 Kilometer langen Grenze zwischen den USA und Mexiko war in den vergangenen Monaten so manches Stelldichein empörter Trump-Parteigänger zu erleben.
Geradezu ein republikanischer Protest-Tourismus. Im November kommenden Jahres, bei den Parlamentswahlen, wird sich zeigen, ob das Reizthema noch immer so zündet wie bei der Präsidentschaftswahl 2016.
AtmO-Ton („And now it's coming on each and every one of us to go out, and defend Texas, and defend America!”) (Autor: Sebastian Hesse, Laredo, Texas)