Siebentes Kapitel - Die Stapletons von Merripit House - 03
Etwas Braunes rollte und wälzte sich in den grünen Binsen. Dann schoß ein langer Hals, in Todesangst sich reckend, in die Höhe, und ein furchtbarer Schrei hallte über das Moor. Mich überlief es kalt vor Entsetzen, aber mein Begleiter schien stärkere Nerven zu besitzen als ich.
»Weg ist es,« sagte er. »Der Sumpf hat's. Zwei in zwei Tagen und vielleicht noch viele mehr, denn sie streifen bei trockenem Wetter überall auf dem Moor herum und wissen nie den Morast vom festen Boden zu unterscheiden, bis der Sumpf sie gepackt hat. Ein gefährlicher Ort, das große Grimpener Moor.«
»Und Sie sagen, Sie können sich hinaufwagen?«
»Ja, es sind ein oder zwei Fußpfade vorhanden, die ein sehr gewandter Mann benutzen kann. Ich habe sie aufgefunden.«
»Aber warum begeben Sie sich denn auf einen so fürchterlich gefährlichen Boden?«
»Je nun, sehen Sie die Hügel dahinten? Das sind richtige Inseln, auf allen Seiten von dem ungangbaren Sumpf umschlossen. Da findet man die seltensten Pflanzen und Schmetterlinge, wenn man hinzugelangen weiß.«
»Da werde ich auch nächstens mal mein Glück versuchen.«
Er sah mich mit ganz verdutztem Gesicht an und rief:
»Schlagen Sie sich um Gottes willen einen solchen Gedanken aus dem Kopf! Ihr Blut würde über mein Haupt kommen. Ich versichere Ihnen, Sie hätten nicht die geringste Aussicht, lebendig wieder zurückzukommen. Auch ich vermag das nur, weil ich mir mehrere sehr schwer zu beschreibende Kennzeichen gemerkt habe.«
»Hallo!« rief ich. »Was ist denn das?«
Ein langes tiefes Stöhnen von unbeschreiblich traurigem Ausdruck schwebte gleichsam über das Moor zu uns heran. Es erfüllte die ganze Luft, und doch war es unmöglich, genau zu sagen, woher es kam. Erst war es wie ein eintöniges Geflüster, dann schwoll es an zu einem tiefen Brüllen und verhallte wieder zu einem melancholischen, zitterigen Flüstern. Stapleton sah mich mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck an und sagte:
»Sonderbarer Ort, dieses Moor.«
»Aber was war das?«
»Das Landvolk sagt, es sei der Hund von Baskerville, der nach seiner Beute brüllt. Ich habe es bisher ein- oder zweimal gehört, aber niemals so laut.«
Ein Angstgefühl machte mir das Herz kalt, ich blickte rings um mich auf die gewaltige, von grünen Stellen übersprenkelte Ebene. Nichts regte sich auf der weiten Fläche als ein Paar Raben, die mit lautem Gekrächz auf einer Felsspitze hinter uns saßen.
»Sie sind ein wissenschaftlich gebildeter Mann,« sagte ich. »Sie glauben doch nicht an einen solchen Unsinn? Was ist nach Ihrer Meinung die Ursache des seltsamen Tones?«
»Morastlöcher bringen manchmal sonderbare Geräusche hervor. Es kommt von herabsinkendem Schlamm oder vom aufsteigenden Wasser oder etwas ähnlichen.«
»Nein, nein, das war die Stimme eines lebendigen Wesens.«
»Nun, vielleicht war es das. Haben Sie schon mal eine Rohrdommel brüllen gehört?«
»Nein, niemals.«
»Der Vogel ist in England jetzt sehr selten, man kann sagen, ausgestorben; aber auf dem Moor ist alles möglich. Ja, ich sollte mich nicht wundern, wenn sich feststellen ließe, daß der eben vernommene Ton der Schrei der letzten Rohrdommel war.«
»Ich habe nie in meinem Leben so etwas Sonderbares, Geisterhaftes gehört.«
»Ja, es ist eine recht unheimliche Gegend. Sehen Sie mal zu der Hügelreihe drüben. Was sehen Sie da?«
Der ganze steile Abhang war mit mindestens zwanzig ringförmigen grauen Steinbauten bedeckt.
»Was sind es denn für Dinger? Schafhürden?«
»Nein, es sind Heimstätten unserer werten Vorväter. In der vorgeschichtlichen Zeit war das Moor dicht von Menschen bevölkert, und weil später niemand mehr da gewohnt hat, so finden wir ihre ganze häusliche Einrichtung so, wie sie sie verlassen haben. Das sind ihre Wigwams ohne Dächer. Sie können sogar noch ihre Kochherde und ihre Lagerstätten sehen, wenn die Neugierde Sie hineinführt.«
»Aber das ist ja eine richtige Stadt! Wann war sie bewohnt?«
»In der neueren Steinzeit – Datum unbekannt.«
»Was taten die Menschen hier?«
»Sie weideten ihr Vieh auf diesen Abhängen; dann lernten sie nach Zinn zu graben, als das Bronzeschwert das Steinbeil zu verdrängen begann. Sehen Sie da, die tiefe Grube am gegenüberliegenden Hügel? Das sind ihre Spuren. Ja, Sie werden allerlei Absonderliches auf unserem Moor finden, Herr Doktor. O, entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ganz gewiß ist das ein Cyklopides.«
Ein kleiner Käfer oder Falter war vor uns über den Weg geflattert, und im nu rannte Stapleton mit außerordentlicher Schnelligkeit und Gewandtheit hinter ihm her. Zu meinem Bedauern flog das kleine Ding auf den Morast zu, aber mein neuer Bekannter sprang, ohne sich zu besinnen, von einem Grasbüschel zum anderen, daß sein grünes Schmetterlingsnetz in der Luft flatterte. Ich sah ihm nach mit einem gemischten Gefühl von Bewunderung für seine außergewöhnliche Gewandtheit und von Furcht, er möchte den festen Grund unter den Füßen verlieren und in den trügerischen Morast hineingeraten. Plötzlich hörte ich Schritte und sah, als ich mich umdrehte, dicht vor mir auf dem Fußsteig eine weibliche Gestalt. Sie war aus der Richtung gekommen, in der, nach der Rauchsäule zu urteilen, Merripit House lag, aber die Bodenerhebung des Moores hatte sie meinen Blicken verborgen, bis sie mir ganz nahe war.
Ich konnte nicht daran zweifeln, daß ich Fräulein Stapleton, von der ich schon gehört hatte, vor mir sah; denn Damen mußten überhaupt sehr selten auf dem Moor sein, und ich erinnerte mich, daß von ihr als einer Schönheit gesprochen wurde. Eine Schönheit war die auf mich zukommende Frau ganz sicherlich, und zwar eine Schönheit ganz eigener Art. Man konnte sich keine größere Unähnlichkeit denken als zwischen diesem Geschwisterpaar; Stapleton hatte helles Haar und graue Augen, wie man's jeden Tag sieht, sie dagegen war die dunkelste Brünette, die ich bis dahin in England gesehen hatte – schlank, groß, elegant, ihr stolzes, feingeschnittenes Antlitz war so regelmäßig, daß man es hätte für ausdruckslos halten können, wären nicht die schönen Lippen und die lebhaften dunklen Augen gewesen. Mit ihrer tadellosen Figur und eleganten Kleidung war sie in der Tat eine eigenartige Erscheinung auf einem einsamen Moorfußpfad. Ihre Augen folgten ihrem Bruder, als ich mich umdrehte; dann beschleunigte sie ihren Schritt und kam auf mich zu. Ich hatte meinen Hut gelüftet und wollte einige erklärende Worte sagen, aber ihre Anrede lenkte alle meine Gedanken in eine neue Bahn.
»Reisen Sie ab!« sagte sie. »Reisen Sie augenblicklich wieder nach London!«
Ich starrte sie völlig verblüfft und sprachlos an. Ihre Augen blitzten mich an, und sie stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf.
»Erklärungen kann ich nicht geben.«
Sie sprach schnell, mit tiefer Stimme, an der mir ein eigentümliches Lispeln auffiel.
»Um's Himmels willen, tun Sie doch, worum ich Sie bitte! Reisen Sie ab und setzen Sie niemals wieder Ihren Fuß auf das Moor!«
»Aber ich bin ja gerade erst angekommen.«
»Mann, Mann!« rief sie. »Können Sie nicht auf eine Warnung hören, die zu Ihrem eigenen Besten ist? Gehen Sie wieder nach London! Reisen Sie heute abend noch ab! Entfernen Sie sich unter allen Umständen von diesem Ort … Schscht! Da kommt mein Bruder. Lassen Sie von meiner Warnung kein Wort gegen ihn verlauten. Wollen Sie so freundlich sein, mir die Orchidee dort hinten zwischen den Schachtelhalmen zu pflücken? Wir haben hier auf dem Moor sehr viele Orchideen; freilich sind Sie ein bißchen spät im Jahr gekommen, um noch alle Schönheiten unserer Gegend würdigen zu können.«
Stapleton hatte die Jagd aufgegeben und kam mit heißen Wangen und schwerem Atem zu uns zurück.
»Sieh da, Beryl!« sagte er, und es kam mir vor, als klänge der Ton seiner Begrüßung nicht gerade sehr herzlich.
»Nun, Jack, du bist ja recht erhitzt.«
»Ja, ich war auf der Jagd nach einem Cyklopides. Er ist sehr selten, besonders im Spätherbst. Schade, daß ich ihn nicht fangen konnte.«
Er sprach in gleichgültigem Ton, aber seine kleinen, hellen Augen flogen dabei fortwährend zwischen dem Mädchen und mir hin und her.
»Du hast dich selbst bekannt gemacht, wie ich sehe,« fuhr er fort.
»Ja. Ich sagte gerade zu Sir Henry, er sei ein bißchen spät gekommen, um die eigenartige Schönheit des Moors zu sehen.«
»Sir Henry? Für wen hältst du denn den Herrn hier?«
»Ich denke, er muß Sir Henry Baskerville sein.«
»Nein, nein!« rief ich. »Ich bin ein schlichter Bürgerlicher; aber ich bin sein Freund. Mein Name ist Dr. Watson.«
Eine Blutwelle des Ärgers schoß über ihr ausdrucksvolles Gesicht, und sie sagte: »Unser Gespräch war also ein Mißverständnis.«
»Na, zu einem Gespräch hattest du nicht viel Zeit,« bemerkte ihr Bruder, wieder mit einem forschenden Blick.
»Ich sprach, als wäre Dr. Watson ein Bewohner unserer Gegend statt eines Besuchers,« sagte sie. »Ihm muß es ziemlich gleichgültig sein, ob die Jahreszeit früh oder spät für Orchideen ist … Aber Sie kommen doch gewiß mit nach Merripit House?«