Zwölftes Kapitel - Tod auf dem Moor - 05
Stapleton wandte sich uns zu, sein Antlitz war totenbleich, aber mit einer gewaltigen Willensanstrengung hatte er seine Bestürzung und Enttäuschung niedergekämpft. Er sah mit einem scharfen Blick erst Holmes und dann mich an und sagte endlich:
»Donnerwetter! Das ist ja eine ganz fürchterliche Geschichte. Wie kam er zu Tode?«
»Er scheint das Genick gebrochen zu haben, indem er von dem Felsen da abstürzte. Mein Freund und ich schlenderten über das Moor, als wir einen Schrei hörten.«
»Ich hörte ebenfalls einen Schrei und ging deshalb aus. Ich war in Besorgnis wegen Sir Henry.«
»Warum denn gerade wegen Sir Henry?« fragte ich unwillkürlich.
»Weil ich ihm vorgeschlagen hatte, zu uns herüberzukommen. Als er nicht kam, war ich überrascht, und natürlich hatte ich seinetwegen Angst, als ich Schreie auf dem Moor hörte. Übrigens« – und damit wanderten seine stechenden Augen wieder von meinem Gesicht zu Holmes' – »hörten Sie nichts außer einem Schrei?«
»Nein,« antwortete Holmes. »Hörten Sie was?«
»Nein.«
»Was soll Ihre Frage dann bedeuten?«
»O, wissen Sie, das Landvolk erzählt sich allerlei Geschichten von einem Geisterhund und so weiter. Er soll sich nachts auf dem Moor hören lassen. Ich frage mich, ob wohl heute nacht so etwas zu sehen oder zu hören gewesen war.«
»Wir hörten nichts Derartiges,« antwortete ich.
»Und welcher Ansicht sind Sie in bezug auf den Tod dieses armen Kerls?«
»Ich bezweifle nicht, daß Angst und Gefahr ihn um seinen Verstand gebracht haben. Er ist in einem Anfall von Verfolgungswahn über das Moor gerannt, ist schließlich hier abgestürzt und hat sich das Genick gebrochen.«
»Das scheint die einleuchtendste Erklärung,« sagte Stapleton mit einem Seufzer, der nach meiner Ansicht ein Seufzer der Erleichterung war. »Was ist Ihre Ansicht darüber, Herr Sherlock Holmes?«
»Ich sehe, Sie sind schnell im Erkennen.« sagte mein Freund mit einer Verbeugung.
»Wir haben Sie seit Doktor Watsons Ankunft erwartet. Sie kommen gerade recht, um Zeuge einer Tragödie zu werden.«
»Ja, da haben Sie recht. Ich bezweifle nicht, daß sich die Erklärung meines Freundes mit den Tatsachen deckt. Ich werde morgen eine unangenehme Erinnerung mit mir nach London zurücknehmen.«
»O, Sie fahren morgen zurück?«
»Das ist meine Absicht.«
»Ich hoffe, Ihr Besuch hat einiges Licht in die Begebenheiten hineingebracht, deren Rätselhaftigkeit uns so sehr in Sorge versetzt hat.«
Holmes zuckte die Achseln und erwiderte:
»Man kann nicht jedesmal den erhofften Erfolg haben. Für eine Ermittlung braucht man Tatsachen und nicht Märchen oder Gerüchte. Der Fall hat sich nicht als zufriedenstellend erwiesen.«
Mein Freund sprach in seiner offensten und freimütigsten Miene. Stapleton sah ihn mit einem scharfen Blick an; dann wandte er sich zu mir:
»Ich hätte Ihnen vorgeschlagen, den armen Mann zu meinem Haus schaffen, aber das würde meine Schwester so in Angst setzen, daß ich mich nicht dazu berechtigt fühle. Ich glaube, wenn wir ihm etwas über sein Gesicht decken, wird er bis morgen unversehrt liegen bleiben.«
Dieser Vorschlag wurde ausgeführt. Stapletons gastliche Einladung in sein Haus lehnten wir ab, und Holmes und ich machten uns auf den Weg nach Baskerville Hall, während der Naturforscher allein zu seinem Haus zurückging. Als wir uns umwandten, sahen wir seine Gestalt langsam über das weite Moor hingehen, und hinter ihm auf dem mondhellen Abhang lag der schwarze Fleck – die Todesstätte des Mannes, der ein so grausiges Ende gefunden.
»Jetzt geht der Kampf also los,« sagte Holmes, als wir zusammen über das Moor gingen. »Was für Nerven der Bursche hat. Wie er sich zusammenriß trotz des lähmenden Schocks, den er empfunden haben muß, als er sah, daß der verkehrte Mann seinem Anschlag zum Opfer gefallen ist. Ich sagte dir in London schon, Watson, und ich sag's dir hier noch einmal: Niemals haben wir einen Gegner gehabt, der unserer Klinge würdiger war.«
»Es tut mir leid, daß er dich gesehen hat.«
»Mir hat es zuerst auch leid getan. Aber dagegen läßt sich nun mal nichts machen.«
»Da er nun weiß, daß du hier bist – welchen Einfluß wird das deiner Meinung nach auf seine Pläne haben?«
»Vielleicht veranlaßt es ihn zu größerer Vorsicht – vielleicht treibt es ihn aber auch sofort zu verzweifelten Maßnahmen. Wie die meisten klugen Verbrecher vertraut er möglicherweise zu sehr auf seine eigene Klugheit und bildet sich ein, daß er uns vollständig getäuscht hat.«
»Warum sollen wir ihn denn nicht auf der Stelle festnehmen?«
»Mein lieber Watson, du bist der geborener Mann der Tat. Dein Instinkt treibt dich stets dazu, irgend was Energisches zu tun. Aber nehmen wir an, wir ließen ihn noch in dieser Nacht festnehmen – was in aller Welt würde uns das nützen? Wir könnten ihm nichts beweisen. Das ist eben seine teuflische Schlauheit. Wenn er sich eines menschlichen Werkzeugs bediente, so könnten wir auf ein Zeugnis von diesem rechnen, aber wenn wir diesen großen Hund ans Tageslicht ziehen, so genügt das noch lange nicht, um seinem Herrn den Strick um den Hals zu legen.«
»Aber es liegt doch ganz ohne Frage ein Fall vor, der reif fürs Gericht ist.«
»Keine Ahnung. Alles ist nur Voraussetzung und Mutmaßung. Wir würden vom Gericht ausgelacht werden, wenn wir mit einer solchen Geschichte und mit derartigen Beweisen daherkämen.«
»Aber Sir Charles' Tod?«
»Tot aufgefunden ohne Zeichen von Gewaltanwendung an seinem Körper. Du und ich, wir wissen, daß er durch blankes Entsetzen starb, und wir wissen, was ihm solche Angst einjagte. Aber wie sollen wir unsere Überzeugung zwölf beschränkten Geschworenen beibringen? Was für Spuren sind vorhanden, die auf einen Hund deuten? Wo sind die Spuren seiner Fangzähne? Wir natürlich, wir wissen, daß ein Hund keinen Leichnam beißt, und daß Sir Charles tot war, ehe die Bestie ihn einholte. Aber wir müssen dies alles beweisen, und wir sind nicht in der Lage, das zu tun.«
»Und dann, heute abend?«
»Das nützt uns auch nicht viel mehr. Wieder besteht kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Bluthund und dem Tod des Mannes. Wir haben den Hund niemals gesehen. Wir hörten ihn; aber wir können nicht beweisen, daß er den Mann hetzte. Es gibt keinerlei Motiv. Nein, mein Lieber – wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, daß wir augenblicklich noch keinen Fall haben, der fürs Gericht reif ist, und daß wir daher alles daransetzen müssen, uns das Beweismaterial zu beschaffen.«
»Und was schlägst du dazu vor?«
»Ich setze große Hoffnungen darauf, daß Frau Laura Lyons etwas dazu tun kann, wenn ihr der Stand der Dinge klar gemacht wird. Und außerdem habe ich noch meinen eigenen Plan. Für morgen haben wir also genug Wichtiges vor; aber ich hoffe, ehe der Tag zu Ende geht, wird der Sieg endlich mein sein.«
Ich konnte nichts weiter aus ihm herausbringen, und er wanderte, in Gedanken versunken, an meiner Seite bis ans Tor von Baskerville Hall.
»Kommst du mit herauf?«
»Ja; ich sehe keinen Grund, warum ich mich noch länger verstecken soll. Aber noch ein Wort, Watson. Sage zu Sir Henry nichts von dem Bluthund. Laß ihn Seldens Tod der Ursache zuschreiben, die Stapleton uns einreden wollte. Er wird stärkere Nerven haben für die Herausforderung, die ihm morgen bevorsteht – denn wenn ich mich deines Berichtes entsinne, so soll er ja morgen bei den Leuten speisen.«
»Ja; und ich ebenfalls.«
»Dann mußt du dich entschuldigen, und er muß allein gehen. Das wird sich ja leicht machen lassen. Und nun – wir sind zwar um unser Mittagessen gekommen, aber das Nachtessen wollen wir uns jetzt recht schmecken lassen.«