Sparsam bis zum Tod
Die Deutschen gelten als die Weltmeister des Sparens. Sie sparen an, legen zurück, tun etwas beiseite und haben dann ganz schön was auf der hohen Kante. Doch wofür wird hier eigentlich gespart?
Karl Dressler spart gerne. Sparen ist wichtig. Als Junge hat er zum Geburtstag ein großes Sparschwein von seinen Eltern bekommen. Zuerst war er ein bisschen enttäuscht, weil es leer war, aber dann hat er jede Woche zwei Mark hineingeworfen. Und als es voll war, nahm er vorsichtig etwas Geld durch den Schlitz heraus und kaufte sich davon noch ein Sparschwein. Er hatte bald eine ganze Herde Sparschweine. Alle bis zum Rand gefüllt. Seine Mutter sagte immer: „Man weiß nie, was kommt. Ein Erdbeben, eine Epidemie, ein Börsencrash. Wer dann keine Ersparnisse hat, ist erledigt, Karl!“ Man sollte immer etwas auf der hohen Kante haben, etwas beiseite tun!“ Zur Bank sollte er das Geld aber nicht bringen, sagte sein Vater, denn dort wäre es nicht sicher. Also baute Karl mit seinem Vater Regale und Schränke, in denen er die Sparschweine aufbewahrte.
Ein vorbildlicher Kleinsparer
Heute ist Karl 58 Jahre alt und arbeitet bei einer Versicherung in Berlin. Die Sparschweine hat er immer noch. Sie stehen in seiner Zweizimmerwohnung im Schlafzimmer auf der Fensterbank. Natürlich hat er irgendwann sein Geld doch auf ein Konto eingezahlt. Dort liegt es nun und wird jeden Monat mehr, wenn er sein Gehalt bekommt. Er spart wirklich, wo er kann. Morgens fährt er immer mit dem Fahrrad zur Arbeit. Er trinkt nur Wasser aus dem Wasserhahn und isst mittags in der Firma selbst geschmierte Brote. Und wenn es im Februar so richtig kalt in seiner Wohnung wird, zieht er einfach den dicken Pullover und Handschuhe an. Er fährt auch nie weg. Seinen Urlaub verbringt er zuhause.
Das kann ich mir doch sparen
Es ist halb neun und Karl sitzt auf seinem Platz im Großraumbüro der Versicherung. Das Telefon klingelt. Sein Chef: Herr Zimmermann. „Karl, du und ein paar Kollegen, ihr müsst morgen zu einer Fortbildung nach Bremen.“ Karl schluckt. Bei einer Reise kann man so schlecht sparen. Und außerdem Fortbildung, ich brauche doch keine Fortbildung mehr, denkt Karl. Dann sucht er im Internet die günstigste Zugverbindung heraus.
Die Fortbildung in Bremen ist furchtbar langweilig. Eine ewig lange Powerpoint-Präsentation und ein paar Spiele für Erwachsene. Teambuilding heißt das. Danach treffen sich alle an der Hotelbar. Karl würde am liebsten auf sein Hotelzimmer gehen, weil die Getränke an der Bar so teuer sind. Aber Herr Meier aus der Marketingabteilung hat darauf bestanden, dass Karl mitkommt. Karl bestellt ein kleines, alkoholfreies Bier, damit es wenigstens so aussieht, als würde er mitfeiern. Er setzt sich etwas abseits der Kollegen auf einen Barhocker. Da kommt ausgerechnet Frau Bommel aus der Buchhaltung auf ihn zu. Karl mag Frau Bommel. Manchmal sieht er sie heimlich an, wenn sie am Kopierer steht. Sie setzt sich neben ihn und sagt: „Mensch, Herr Dressler, Sie mit einem Bier !? Das habe ich ja noch nie gesehen!“ „Tja“, antwortet Karl, „ manchmal muss man es eben krachen lassen!“ „Ja, da haben Sie recht, Herr Dressler. Aber sonst sind sie schon sehr sparsam, oder? „Ja, das kann man wohl so sagen“, sagt Karl etwas verlegen.
Spar dich reich
„Darf ich fragen wofür sie sparen?“, fragt Frau Bommel und nippt an ihrem Aperol Spritz. „Nun, man weiß nie, was kommt. Ein Erdbeben, eine Epidemie, ein Börsencrash“, sagt Karl. „Ein Erdbeben?“ Frau Bommel schaut verwundert. Ich dachte, Sie sparen auf ein Haus oder ein großes Auto.“ „Äh…auch!“, sagt Karl schnell, weil er Frau Bommel beeindrucken will.
„Noch sieben Jahre arbeiten und dann gönne ich mir vielleicht eine Weltreise oder einen Mercedes oder beides“, sagt Karl. Ich habe sogar über ein kleines Haus auf Gran Canaria nachgedacht. Mal sehen. Ich glaube jedenfalls, dass ich das Geld für etwas sehr Tolles ausgeben werde.“ „Wow, dann sind Sie ja eine richtig gute Partie, Herr Dressler“, sagt Frau Bommel, prostet ihm zu und geht zurück zu ihren Kollegen. Schade, denkt Karl. Diese Frau Bommel wäre eine Frau, die er glatt mit nach Gran Canaria nehmen würde. Am nächsten Morgen ist das Seminar beendet. Karl packt seinen Koffer und geht Richtung Bremer Hauptbahnhof. Allein. Die anderen fahren bei Herrn Meier mit, auch Frau Bommel. Karl hat das günstigste Bahnticket, das kostet nur die Hälfte. Klar, das bezahlt die Firma, aber Karl spart aus Prinzip und nicht nur für sich. Außerdem ist Bahnfahren viel umweltschonender , findet er.
Sparsam bis in den Tod
Auf dem Weg vom Hotel zum Bahnhof sieht er ein großes Werbeplakat auf der anderen Straßenseite. „Geiz ist super“ steht darauf, daneben eine hübsche Frau, die auf einer Waschmaschine sitzt. Die Frau sieht ein bisschen aus wie Frau Bommel, denkt Karl.
Doch irgendwie findet Karl in diesem Moment gar nicht, dass Geiz so toll ist. Er fühlt sich einfach nur einsam und leer. Er wäre auch gerne mit Frau Bommel und den anderen mitgefahren. Gedankenverloren überquert er die breite Straße. In diesem Moment kommt von links ein Lieferwagen mit zu hoher Geschwindigkeit und …
Als Hauptkommissar Krawitzke am Unfallort eintrifft, eilt ihm sein junger Kollege Polizeimeister Schuster schon entgegen. „Karl Uwe Dressler, 58, ledig, keine Angehörigen, keine Einträge im Führungszeugnis, keine Haustiere“, sagt Schuster, „laut ärztlichem Befund Tod durch innere Verletzungen.“ „Keine Angehörigen?“, fragt Krawitzke. „Offenbar nicht!“, entgegnet Schuster. „Na, dann wollen wir hoffen, dass er ordentlich gespart hat.“ „Wofür?“ „Na, für seine Beerdigung natürlich.“