Suizid: Warum willst du sterben? | Engel fragt
Warum werfen sich so viele Menschen vor den Zug?
Diese Bilder wird man nicht los.
Warum bringen sich Menschen überhaupt um?
Und was tun sie damit anderen an?
Es hat das Leben zerschnitten in ein Vorher und ein Nachher.
Ich saß da und hab eine Tablette nach der anderen rausgedrückt
und konnte es nicht unterbrechen.
Was kann man tun,
um Menschen zu helfen, die Selbstmordabsichten haben?
Meine Suche nach Antworten beginne ich in Frankfurt.
Das ist übrigens eine der Städte,
die zu den traurigen Spitzenreitern gehört
in Sachen Selbstmord in Deutschland.
Über 9000 Menschen nehmen sich in Deutschland jedes Jahr das Leben.
Das heißt im Schnitt: jede Stunde ein Selbstmord, 24 Stunden am Tag.
Ich finde das eine unvorstellbar hohe Zahl.
Frage: Was kriegen andere Menschen davon eigentlich mit?
Dürfen wir Sie mal was fragen? - Was denn?
Fahren Sie manchmal Zug? - Ja.
Haben Sie es da schon mitbekommen, dass die Durchsage war
wegen Personenschaden im Gleis ...
Ja, hab ich schon gehört.
Können Sie das in irgendeiner Art und Weise nachvollziehen,
dass Menschen sich umbringen?
Ja, wenn Menschen für sich keinen Ausweg mehr finden,
finde ich das ganz furchtbar.
Aber es ist deren eigene Entscheidung.
Ich verurteile das nicht.
Haben Sie das im eigenen Umfeld schon mal mitbekommen?
Nicht im direkten, aber schon gehört.
Im erweiterten? - Ja.
Ältere Leute, die wirklich sehr krank waren,
die sich dann beide das Leben genommen haben.
Aber nicht vor einen Zug geworfen, sondern auf andere Weise.
Darf ich Sie kurz was fragen?
Was denken Sie, wenn Sie hören,
wie viele Menschen sich vor den Zug werfen?
Dass es natürlich sehr traurig ist,
weil sie eine schwere Krankheit haben, dass dann zu tun.
Ist das eher Mitleid mit den Menschen, die das tun,
oder Mitleid mit den Menschen ... - ... die das erleben müssen.
Mit dem Zugführer vor allem. Das tut mir sehr leid.
Haben Sie das schon erlebt im Umfeld,
dass sich Menschen umgebracht haben?
Ja, der Mann meiner besten Studienfreundin nahm sich das Leben.
Was hat das in Ihnen ausgelöst?
Tiefe Verzweiflung, weil ich das mit meiner Freundin damals
hautnah und jahrelang durchlitten habe,
bis es einigermaßen aufgearbeitet war.
Sie wäre fast selber hinterhergegangen.
Ich fand das schon erstaunlich.
Ich habe mich eine Stunde lang mit Menschen unterhalten.
Fast jeder kannte jemanden im Umfeld,
der sich umgebracht hat.
Warum bringen sich Menschen um?
Warum werfen sie sich vor den Zug,
so wie z.B. Nationaltorhüter Robert Enke vor zehn Jahren?
Plötzlich und brutal:
Robert Enkes Selbsttötung schockierte die Menschen.
Depression war in unserer Gesellschaft vorher ein Tabuthema.
So hielt auch Enke seine Krankheit geheim bis zu seinem Tod.
Am Tag nach seinem Suizid sprach seine Witwe offen darüber.
Nur sie und sein Arzt wussten um seinen Zustand.
Die Zeit während der Depression war nicht einfach.
Aber wir haben sie zusammen durchgestanden.
Das hat uns so zusammengeschweißt, dass wir dachten:
"Wir schaffen alles."
Und wir dachten auch: "Mit Liebe geht das."
Aber man schaffts doch nicht immer.
Für viele war der Torhüter ein Held, ein starker Mann.
Er spielte in der Bundesliga, in der Nationalelf.
Jahrelang konnte sein Arzt die Depression kontrollieren.
Er hatte Unterstützung von seiner Frau. Und trotzdem:
Wenn der Schmerz so groß ist, dass man sagt:
"Ich halt das nicht mehr aus",
dann möchte man am liebsten nicht mehr da sein.
Keiner möchte sterben. Und das hat er auch zu mir gesagt:
"Ich will nicht sterben."
Aber manchmal ist diese Krankheit einfach stärker.
Meistens ist eine psychische Krankheit Auslöser für einen Suizid.
Mehr als die Hälfte der Opfer leidet an einer Depression.
Um die Kranken verengt sich alles.
Ihre Welt wird schwarz und weiß, bis nur Dunkel bleibt.
In Deutschland ist die Zahl der Suizide seit Jahrzehnten ähnlich.
Gut 11.000 waren es vor 20 Jahren.
2017 waren es immer noch 9235 Tote.
Chefarzt Volker Reinken und sein Team
betreuen in ihrer Klinik viele Patienten,
die einen Suizid versucht haben oder planen.
Der Psychiater betont:
"Die Entscheidung zur Selbsttötung treffen Kranke nicht freiwillig."
Die Suizidalität ist eines der Symptome der Depression.
Wenn die Depression behandelt wird,
verschwinden auch die Suizidgedanken.
Robert Enke hatte eine Traumkarriere.
Dann aber gab es berufliche Rückschläge,
dazu Schicksalsschläge, wie der Herztod seiner Tochter Lara.
Eine Lebenskrise, gepaart mit einer psychischen Krankheit:
So ein Mix führt häufig zum Suizid.
Doch auch andere Anlässe können den Anstoß geben,
wie etwa eine negative Lebensbilanz
oder die Diagnose einer schweren Krankheit.
Bislang steigt die Zahl der Suizidopfer mit ihrem Lebensalter.
Die meisten töten sich im Alter zwischen 50 und 60 Jahren.
In letzter Zeit aber wächst die Zahl junger Menschen,
die sich das Leben nehmen.
Eines bleibt über die Jahre konstant:
Zwei von drei Suiziden verüben Männer.
Aus seiner Therapiearbeit weiß Volker Reinken:
Für psychisch Kranke können sich Situationen unerträglich anfühlen,
die für Außenstehende gar nicht dramatisch wirken.
Wir erleben, dass ein und dieselbe Situation oder ähnliche Situationen
den einen so stark trifft, dass es zur Suizidalität führt.
Und den anderen trifft es eben nicht so.
Das heißt, es kommt gar nicht auf die Situation an sich an,
sondern wie die Person diese Situation verarbeitet.
Robert Enke tötete sich, indem er sich von einem Zug überfahren ließ
beim Bahnhof neben seinem Wohnort.
So gab es viele unfreiwillig Beteiligte.
Rund 500 Menschen wählten 2017 den Schienensuizid,
eine besonders brutale Methode, sich umzubringen.
Weitaus häufiger aber ist der Tod durch Erhängen oder Vergiften,
der Sturz aus großer Höhe und Erschießen,
erst dann der Tod vor dem Zug.
Warum suchen Menschen ausgerechnet den gewaltsamen Schienentod?
Psychotherapeuten sehen diese Wahl der Todesart als eine Art Botschaft.
Welche Form des Suizids jemand wählt,
erkläre sich aus der Persönlichkeit des psychisch Kranken.
Es ist so, dass manche Menschen keine Möglichkeit finden,
Aggressionen nach außen zu bringen.
Irgendwann hat sich im Rahmen dieses suizidalen Geschehens,
der Ausweglosigkeit, so viel Aggression angestaut,
die dann, weil sie nicht nach außen gerichtet werden kann,
die Person gegen das eigene Selbst richtet.
Das führt dann zu solchen Formen des Suizids
mit gigantischer Gewalt.
Der Suizid als letzte Botschaft der verzweifelten Person an die Welt.
Eine Botschaft,
auf die die Hinterbliebenen nicht mehr antworten können.
Warum werfen sich Menschen vor den Zug?
Der Psychiater, den wir eben im Film sahen, hat uns auch erzählt,
dass es einigen Selbstmördern auch darum geht,
noch mal ein letztes Signal zu setzen, nach dem Motto:
"Mich hat nie jemand gesehen."
"Jetzt sollt ihr mich alle noch mal wahrnehmen!"
"Und ihr sollt auch leiden!"
Apropos leiden: Wie geht es eigentlich den Menschen,
die in einen Selbstmord mitverwickelt sind?
Ich bin verabredet mit einem Lokführer,
der das große Unglück hatte,
zweimal in seiner Laufbahn einen Menschen zu überfahren.
Ich treffe ihn in der Nähe der damaligen Unfallstelle.
Hallo! - Morgen!
Moin, Philipp Engel. - Meinhard.
Meinhard, sollen wir "du" sagen? - Ja klar. Bleiben wir beim "Du".
Vielen Dank, dass du gekommen bist. - Gerne.
War das hier?
Nein, ca. 600 Meter oben, in der Kurve, von Offenbach kommend.
Direkt am Gleis
steht ein Stromkasten von der Verteilungsanlage.
Dahinter saß er, wartete.
Er wartete hinter dem Kasten? - Genau.
Du hattest keine Chance, ihn zu sehen?
Nee.
Sollen wir ein Stück gehen? - Ja, können wir gerne.
Ist das jetzt schwierig, da hinzugehen?
Nee, eigentlich nicht. Ich bin wirklich über den Punkt drüber weg.
Ich habe psychologische Hilfe in Anspruch genommen.
Und ich muss wirklich sagen, ohne die psychologische Hilfe
würde ich heute wahrscheinlich nicht mehr fahren.
Der Moment, in dem das passiert ist, an was erinnerst du dich da?
Ich weiß noch genau den Moment.
Er trug einen hellblauen Tainingsanzug.
Er kam mit drei Schritten und einem Satz hervor.
Das sieht man immer wieder. Das vergisst man nicht.
Das sind Bilder, die man nicht los wird.
Am schlimmsten sind die Geräusche.
Wenn man jemanden überfährt, in dem Moment, wenn er vor den Zug springt,
das ist, als ob ein wassergefüllter Luftballon platzen würde.
Dieses Krachen der Knochen, das werden Sie hören.
* Ein Zug fährt gerade vorbei. *
Diesen Ton bekommen Sie nie wieder raus.
Das tut weh, steckt in einem drin. Aber man kann es vergessen machen.
Aber das geht wirklich nur mit psychologischer Hilfe.
Mit "vergessen machen" meint Meinhard Bahr verarbeiten.
Er musste vor allem lernen,
dass er keine Schuld trägt am Tod des Mannes.
Noch heute passiert er diese Stelle hier als Lokführer fast täglich.
War das am Anfang das Gefühl: Man ist Täter oder man ist Opfer?
Man bekommt beides. Man ist ein bisschen hilflos.
Man ist der ganzen Sache irgendwo hilflos ausgesetzt.
Man wird benutzt von einer Person für irgendwas,
was man eigentlich gar nicht möchte.
Man ist auf der einen Seite Täter, weil man es tut.
Aber man ist auch das Opfer.
Man ist mehr Opfer als Täter.
Über die Zeit, hat da eher die Wut überwogen auf denjenigen
oder war es Mitleid oder was waren das für Gefühle?
Ganz am Anfang war es wirklich immer wieder Wut.
Man hat wirklich Schwierigkeiten die ersten drei, vier Nächte.
Die sind grausam. Man schläft einfach nicht.
Ohne Medikamente kommen Sie nie zum Schlafen,
weil Sie die ganze Nacht grübeln: "Hätte ich ihn nicht sehen müssen?"
Sie machen sich immer Gedanken: "Hätte ich das verhindern können?"
Wenn man das aber überarbeitet hat,
diese Sachen durchdacht hat und dann erklärt bekommen hat,
wie weit das mit den Leuten ist, dann ist da auch Mitleid dabei.
Trotzdem bleibt immer übrig: Wir sind die Benutzten.
120 Stundenkilometer zeigte damals sein Tacho.
Um zum Stehen zu kommen, braucht die Bahn mehrere Hundert Meter.
Da ist die Stelle, wo der junge Mann auf mich gewartet hat.
Wie lange hat es gedauert, bis du wieder fahren konntest?
Ich fuhr nach drei Wochen mit meinem Teamleiter die Strecke hier ab.
Da war es so weit okay für mich.
Als ich dann am übernächsten Tag
meine eigene Schicht wieder aufnahm,
bin ich ab Bebra gefahren und musste dann aufgeben.
Ich bekam Schweißausbrüche, Verkrampfungen.
Hinter jedem Stromkasten suchte ich,
ob da eventuell jemand stehen könne, der mir vor den Zug springt.
Ich konnte einfach nicht mehr bis Fulda fahren.
Ich musste mich dann ablösen lassen.
Nach wie vielen Monaten
konntest du dann wieder halbwegs "symptomfrei" fahren?
Na ja, es waren fast acht Monate vom Tag des Unfalls
bis zur ersten Schicht, die ich wieder fahren konnte.
Dann machte es mir nichts mehr aus.
Insgesamt war Meinhard Bahr
vier Monate in psychotherapeutischer Behandlung.
Das war so einer, ne? - Jawohl, so ein Zug war das.
Danke, dass du mit mir hierhergegangen bist.
Gerne. - Fand ich toll.
Boah, die tun mir echt alle so maximal leid:
der Selbstmörder, klar, die Angehörigen,
aber auch so ein Lokführer wie Meinhard.
Eine Frage geht mir nicht aus dem Kopf:
Warum schaffen es Menschen in tiefen Krisen offensichtlich nicht,
sich rechtzeitig Hilfe zu holen?
Florian hat uns am Telefon gesagt, er kann uns dazu etwas sagen.
Sein Bruder hat sich vor neun Jahren das Leben genommen.
Florian wartet jetzt in Darmstadt auf uns.
Florian wollte mich in diesem Raum treffen.
Denn hier trifft er regelmäßig seine Selbsthilfegruppe.
Der Ort gibt ihm Sicherheit.
Florian hat die Gruppe selber ins Leben gerufen,
um seine eigene Trauer besser verarbeiten zu können.
Danke, dass wir kommen durften. - Gerne. Schwieriges Thema.
Was hat sich Ihr Bruder angetan?
Er hat sich erhängt in den frühen Morgenstunden,
geplant, an einem Ort, den er sich ausgesucht hat in der Stadt.
Können Sie sich erinnern? Was löste das in Ihnen aus?
Es war ein Schock und die Welt stand still.
Es hat das Leben zerschnitten in ein Vorher und ein Nachher.
Hat sich das in irgendeiner Art und Weise vorher angedeutet?
Dass es so enden würde nicht, nee. Das hat uns alle überrascht.
Es hat uns den Boden unter den Füßen weggezogen.
Ich wusste, dass mein Bruder sich nicht wohlfühlte.
Aber dass es so endet, damit hat man nicht gerechnet, nein.
Was war das für ein Typ, ihr Bruder?
Er war 24, war noch etwas größer als ich, noch etwas breiter,
aber nicht kräftig, sondern eher athletisch.
Haben Sie Bilder?
Ja, hab ich auch. Es war ein sensibler junger Mann.
Er hatte Freunde, ging auf Veranstaltungen.
Er hatte seine Musikgruppen, die er mochte.
Hat Ihr Bruder darüber geredet, über seine Depression?
Dieser Begriff "Depression" ist nie gefallen.
Es ist ja etwas sehr Intimes.
Ich glaube, darauf passen manche Leute auch sehr stark auf.
Dass sie diesen Bereich vor den anderen verborgen halten.
Genau. - Vielleicht auch vor sich selber?
Ich glaube schon, dass manche das auch nicht wahrhaben möchten.
Vielleicht auch, weil Depression immer noch so ein Stigma hat,
so einen Stempel, komisch irgendwie?
Ja, definitiv.
Ich muss sehr an einen Satz denken, den ich mal gehört habe:
"Ach, hätte ich nur zum Beispiel Diabetes oder hätte ich Krebs."
"Dann wissen die Leute, was ich habe."
"Dann wissen sie: Das ist eine Krankheit."
Wenn man sagt, man hat anscheinend Depression,
dann hat das etwas Degradierendes.
Man ist nicht voll Herr seiner Sinne, für immer unbelastbar.
Vielleicht auch so ein Versager-Image?
Ja, vielleicht gehört das auch dazu.
Gerade bei jungen Leuten könnte ich mir vorstellen,
dass auch Selbstwertgefühl eine ganz wichtige Sache ist.
Inwieweit hat das auch mit Leistungsdruck zu tun,
dass man einfach funktionieren möchte?
Im sozialen Gefüge will man ja irgendwie eine Position haben,
an seinem Arbeitsplatz, unter seinen Kommilitonen und sonst wo.
Es ist ja immer eine Sache, die sich über Vergleichen definiert.
Wenn man dann sagt: Vielleicht eine Depression, es geht einem nicht gut.
Das hören die Leute nicht gern.
Die unterhalten sich lieber über andere Sachen.
Sie haben dann eine Selbsthilfegruppe gegründet.
Ja.
Erzählen andere in der Gruppe Ähnliches,
dass sie nicht ahnten, wie schlecht es Angehörigen geht?
Es gibt Gemeinsamkeiten.
Und zwar kommt es doch oft vor, dass die Leute das so empfinden,
als ob die Person, die sich suizidiert, vorher verstellt hat,
dass sie ein anderes Leben hatten als das, was sie gesehen haben.
Dann kommt doch die Frage auf:
Wie gut kannte ich die Person eigentlich?
Könnte man das noch mal durchleben, würd man ganz anders
an die Sache rangehen, vieles viel ernster nehmen.
Man wird Verständnis haben, dass jemand vielleicht nicht die Kraft
hat, sich selbst zu helfen, ihm viel mehr Unterstützung geben.
Tja, wo holt man sich Hilfe?
Wir haben mal geguckt bei der Recherche.
Ein Hilfsangebot fanden wir echt überzeugend.
Das richtet sich vor allem an junge Menschen,
die seelische Probleme haben.
Denen wird dort von anderen jungen Menschen geholfen.
Niemanden interessiert es, wie es mir in meinem Inneren geht.
Solange ich Fassade zeige, ist es toll, aber dahinter?
Ich fühle mich einsam und kraftlos. Ich kann nicht mehr.
Wahrscheinlich wäre das Leben für alle einfacher ohne mich.
Liebe Sarah, ich heiße Johannes, bin 22 Jahre alt
und studiere in Nürnberg.
So wie du schreibst, scheint es dir wirklich schlecht zu gehen.
Ich finde es stark, dass du die Kraft dazu hattest, Hilfe zu holen.
Ich möchte dir gerne helfen.
Johannes berät Jugendliche per Mail.
Der Elektrotechnik-Student arbeitet ehrenamtlich bei "U25",
eine deutschlandweite Suizidprävention.
Sie setzt auf Beratung durch Gleichaltrige.
Das sind ganz unterschiedliche Situationen.
Beziehungsstress, Schulstress.
Wenn sie mit ihren Eltern nicht klarkommen,
so wie man es auch von sich manchmal kennt.
Und dann natürlich auch Sachen wie Suizidgedanken,
mit denen sie nicht umgehen können oder selbstverletzendes Verhalten.
Viele der Hilfesuchenden bei U25 sind suizidgefährdete Jugendliche.
Die Altersgruppe unter 25 Jahren
ist die mit der höchsten Rate an Suizidversuchen in Deutschland.
Über 600 nehmen sich jährlich das Leben.
Oft sehen Jugendliche, die wenig erfahren in Krisenbewältigung sind,
nur noch diesen Weg aus der eigenen Not.
* Musik *
Ich möchte einfach einschlafen, dass alles Leid aufhört
und sich in Luft auflöst.
Ich hab Mails bekommen, bei denen ich erst mal durchatmen musste
und nicht genau wusste, was ich jetzt machen soll.
Das sind Mails, wo drinsteht:
"Wenn du das hier liest, bin ich entweder tot oder im Krankenhaus."
Dann gibt es Mails, die langfristig beunruhigend werden können:
Wenn eine Hilfesuchende immer düsterere Gedanken schreibt
und dann immer weniger schreibt und immer hoffnungsloser.
Da fangen bei mir die Spekulationen an, was könnte passiert sein?
Ist was passiert oder ist nur zufällig Pause gerade?
Hat man vielleicht etwas falsch gemacht?
Diese Gedanken ploppen in einem auf.
Da ist es einfach sehr wichtig, dass man im Austausch bleibt
mit anderen Peers oder mit den Hauptamtlichen.
Wenn Johannes nicht weiter weiß, berät er sich mit Jennifer Catsam,
eine der Teamleiterinnen von U25 der Caritas Nürnberg.
Sie bildet die Peers in einem 32-stündigen Lehrgang aus
und steht später ständig im Kontakt mit ihnen.
Ich mach mir da schon Sorgen, jetzt dieser abrupte Abbruch.
Eine Möglichkeit wäre, ihr noch mal zu schreiben.
Vielleicht kannst du noch was reinschreiben, was dir einfällt
an Kompetenzen und Ressourcen, die sie hat.
Gerade, wenn man in einem Tief ist, ist es wichtig,
dass einem jemand erzählt, was einem alles aufgefallen ist.
Die Idee ist: In einer schwierigen Situation, wo jemand
niemanden hat zum Reden, da zu sein und ein offenes Ohr zu haben.
Ich glaube, das können Gleichaltrige sehr gut.
Sie kennen diese Situation und sie wissen, wie man sich da fühlt.
Sie wissen, dass sie nichts lösen müssen, sondern nur da sein sollen.
Und ich glaube, das kann jeder Mensch.
Liebe Sarah, lass mich dir zumindest sagen, dass du mir nicht egal bist.
Ich würde gerne wissen, wie es dir in deinem Inneren geht.
Auch wenn du es im Moment nicht so sehen kannst:
Ich denke, dass du sehr viel wert bist.
Die Peers von U25:
Sie werden für viele junge Hilfesuchende zu engen Vertrauten,
die ihnen helfen, wieder zurück ins Leben zu finden.
Ich finde solche Projekt toll.
Trotzdem wird mir immer klarer, wie schwierig das sein muss
für Menschen, die in einem ganz tiefen Loch sitzen,
sich da irgendwie wieder rauszuarbeiten.
Wenn das Leben ja überhaupt nicht mehr lebenswert scheint.
Ich treffe jetzt einen Mann, der versucht hat, sich umzubringen.
Er wurde zum Glück gerettet.
Er hat es geschafft, sich aus dem Loch rauszuarbeiten.
Wie er das gemacht hat, will er mir erzählen.
Mario Dieringer heißt der Mann, mit dem ich jetzt verabredet bin.
Und ich muss zugeben: Es ist schon ein mulmiges Gefühl zu wissen,
ich rede gleich mit jemandem über seinen Selbsttötungsversuch.
Schön, dass es geklappt hat. - Ja, finde ich auch toll.
Danke, dass Sie mit uns darüber reden.
Ich fange jetzt einfach mal an.
Wie lange ist es her, dass Sie versucht haben, sich umzubringen?
Das war am 28.12.2014.
Morgens um neun, als mein Gehirn plötzlich verrückt spielt.
Es hat eine Entscheidung getroffen, wie ich es immer nenne.
Ich hatte damals eine SMS bekommen, die einfach nur blöd war,
aber jetzt nichts Dramatisches.
Nicht so dramatisch, dass man sich deswegen das Leben nehmen will.
Und plötzlich hab ich angefangen zu weinen.
Ich konnte es nicht mehr stoppen.
Irgendwann habe ich angefangen, eine Schlaftablette nach der anderen
in mich hinein zu schaufeln.
Ich war mir die ganze Zeit darüber bewusst,
dass jetzt etwas total schief läuft.
Aber ich fühlte mich wie eine Marionette.
Der Tod als Puppenspiel und ich mittendrin im letzten Akt.
Warum haben Sie nicht in diesem Moment noch mal Hilfe gerufen?
Man kann es nicht. Man kann es nicht.
Man möchte, dass es aufhört, dass diese tägliche Seelenqual aufhört.
Wissen Sie heute, was dahintergesteckt hat?
Das war wahrscheinlich nicht nur die SMS, oder?
Nein, das war nicht nur die SMS.
Die SMS war der der berühmte Tropfen,
der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Es drohten wieder Lebensumstände sich zu wiederholen.
Mein Stiefvater war Alkoholiker.
Er hat unsäglich auf mich eingeprügelt.
Wir sprechen wirklich so von der 120-Kilogramm-Bauarbeiter-Faust,
die mich zehn Mal hintereinander mitten ins Gesicht geschlagen hat.
Er hat mich durch meine Kindheit geprügelt.
Egal, was ich gemacht und getan habe, es war nie gut genug.
Es hieß immer: "Du hast kein Talent, du kannst nix."
"Du bist sowieso viel zu blöd."
"Aus dir wird nie irgendetwas werden."
Und daraus hat sich auf der einen Seite ein Muster entwickelt,
das tief implementiert ist.
Das sagt mir auf der einen Seite: "Du bist niemals gut genug."
Die andere Seite sagt: "Deshalb musst du noch viel besser werden."
Also brutaler Leistungsdruck?
Letztendlich ja.
Die Geschichte ist ja noch viel krasser, was Sie mir erzählt haben.
Später brachte sich ihr Lebensgefährte,
der Sie damals gerettet hat, der Sie entdeckt hat, selber um.
Sie hatten nicht nur mit Ihren vorhandenen Depressionen zu kämpfen,
sondern auch noch mit dem Tod des geliebten Menschen.
Wie schafft man es da wieder raus?
Sie haben mir erzählt, dass Sie heute ein glücklicher Mensch sind.
Das Zauberwort ist tatsächlich Sinnzentrierung.
Dem Leben einen neuen Sinn zu geben.
Den hab ich in "Trees of Memory" gefunden.
Ich laufe um die Welt.
Ich pflanze Bäume der Erinnerung für Suizidopfer.
"Trees of Memory" heißt sein Projekt.
Dafür besucht er Hinterbliebene von Suizidopfern,
die sich über die sozialen Medien an ihn gewandt haben.
Vor zwei Jahren ist er losgelaufen.
Mittlerweile hat er 3000 Kilometer hinter sich
und hat 21 Bäume gepflanzt.
* Musik *
Bei einer Baumpflanzung in Hanau dürfen wir dabei sein.
Anita Trees schrieb Mario Dieringer an.
Mit der Bitte, für ihren Sohn Valentin einen Baum zu pflanzen.
Vor drei Jahren nahm sich der damals 14-Jährige das Leben.
Dann pflanzen wir die Hoffnung und das Leben.
Mario Dieringer möchte Hinterbliebenen Trost zusprechen.
Der Tod von Valentin kam für alle völlig überraschend.
Valentin konnte himmelhoch jauchzend sein.
Aber er konnte auch das Gegenteil und frustrierte sein Umfeld
mit seiner unsagbar schlechten Laune.
Doch warum sollte man sich Sorgen machen,
wenn man nicht in den schlimmsten Albträumen daran gedacht hätte,
dass im Hintergrund eine Krankheit brodelt?
Wenn man noch nicht mal wusste, dass es diese Krankheit gibt?
Mit seinen Bäumen will Mario Dieringer
weltweit Erinnerungsorte schaffen.
Er will die Distanz zwischen Betroffenen und nicht Betroffenen
verringern und neuen Lebensmut pflanzen.
Ich kann meinem Sohn nicht mehr beim Wachsen zusehen.
Das übertrage ich jetzt ein bisschen symbolisch auf den Baum.
Der wird groß und stark, das ist für mich das Bild.
Das ist sehr sehr wichtig. Da kann man sich auch halten.
Ganz bewusst für andere da sein.
Für Mario Dieringer eine Lebensaufgabe,mit der er es schafft,
seine eigene Depression hinter sich zu lassen.
Wenn ich irgendwo ankomme und die nehmen mich in den Arm,
als ob sie mich schon 100 Jahre kennen:
Das ist eine Bestätigung, die ich auf die Art und Weise
noch nie zuvor in meinem Leben erfahren habe.
Dieser neu gewonnene Sinn des Lebens trägt mich auf die Art und Weise
durch das Leben, dafür gibts gar keine Worte.
Das war heute eine Sendung, die mich selber wirklich sehr bewegt hat.
Was mich besonders bedrückt hat, ist, dass man von außen
schlecht erkennen kann, ob sich jemand umbringen möchte oder nicht.
Umso wachsamer muss man wohl sein und umso aufmerksamer.
Was mir Mut gemacht hat, ist Mario.
Er hat mir gezeigt, dass man aus tiefen Krisen
wieder rauskommen kann, wenn man sich Hilfe holt.
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