Rapperswil
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung «Andrea erzählt» vom 12. Mai 2017. Es freut mich sehr, sind Sie wieder mit dabei. Als Erstes möchte ich Alicia zu ihrer 200. Sendung «A mi aire» gratulieren. Das ist wirklich sehr beeindruckend [1]! Derzeit steht auf dem Sechseläutenplatz in Zürich wieder ein grosses Zelt [2]. Es gehört dem berühmten Zirkus Knie aus Rapperswil. Für uns Kinder war das früher immer ein Zeichen, dass der Winter wirklich vorbei war. Heute gehe ich eigentlich nicht mehr in den Zirkus. Aber ich freue mich immer noch, wenn er in der Stadt ist. Ein guter Grund, Ihnen heute von Rapperswil zu erzählen, der Stadt am oberen Ende des Zürichsees. Sie gehört schon zum Kanton St. Gallen und heisst seit 2007 eigentlich Rapperswil-Jona. Aber die meisten sagen trotzdem einfach «Rapperswil» und das werde ich hier auch tun. Nun wünsche ich Ihnen viel Vergnügen!
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In Rapperswil gibt es einen berühmten Zoo. Er heisst «Knies Kinderzoo» und gehört ebenfalls [3] zum Zirkus Knie. Hier leben seine Tiere im Winter. Im Sommer sind die Elefanten und einige andere Tiere mit dem Zirkus unterwegs. Trotzdem sind immer noch die meisten im Zoo und man kann sie dort besuchen. Als ich klein war, war ich oft hier. Und auch mit unseren Kindern sind wir häufig [4] in Knies Kinderzoo gefahren. Ich habe ihn sehr gern.
Man kann dort zum Beispiel Hyazinth Aras sehen. Das sind riesengrosse [5], dunkelblaue Papageien. Früher waren sie kaum [6] bekannt. Seit dem Film «Rio» kennt sie jedes Kind. Es gibt auch eine Seelöwen [7]-Show und man darf die Tiere mit gekauftem Futter füttern. Etwas ganz besonderes sind die Elefanten. Einige von ihnen bleiben nämlich auch im Sommer im Zoo. Dann darf man auf ihnen reiten. Dazu tragen sie auf dem Rücken eine Art kleine Bank [8], auf der man sitzen kann. Ich liebe Elefanten. Aber ich habe auch Angst vor ihnen. Sie sind mir einfach zu gross.
Als wir einmal im Kinderzoo waren, sagten meine Kinder: «Mama, wir möchten auf dem Elefanten reiten. Aber du musst mitkommen.» Ich antwortete: «Also gut, das ist eine schöne Idee.» Ich fand es gar nicht schön, aber ich dachte: «Wenn ich den Kindern sage, dass ich Angst habe, fürchten [9] sie sich auch. Das wäre schade.»
Ich stieg mit den Kindern die spezielle Elefanten-Treppe hoch und setzte mich auf den Elefanten. Leider hatte ich solche Panik [10], dass ich schon bald schrie [11]: «Hilfe, bitte kehren Sie um! Ich möchte absteigen [12]!» Aber der Elefanten-Führer lachte nur. Gut, waren meine Kinder damals noch recht klein. Sie schämten [13] sich nicht, sondern hielten beide je eine meiner Hände. Es machte sie stolz [14], mal mich zu trösten [15] — statt umgekehrt.
Ein Jahr später besuchten wir den Kinderzoo wieder. Diesmal sagten die Kinder: «Mama, wir möchten gern nochmals mit dem Elenfanten reiten. Aber du kommst besser nicht mit.» Wir lachten und ich war froh. Ich wartete also bei der Elefanten-Treppe und passte auf unseren Picknicksack [16] auf. Als das grosse Tier von seinem Spaziergang zurückkam, wäre ich am liebsten davon gerannt. Aber ich gab mir Mühe und ging nur ein paar Schritte zur Seite. Der Elefant interessierte sich allerdings gar nicht für mich. Dafür ging er zu meinem Picknicksack und fing seelenruhig [17] an, ihn mitsamt [18] seinem Inhalt zu fressen. Der Elefantenführer konnte unser Essen nur mit Mühe retten.
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Die zweite Rapperswiler Geschichte, die ich Ihnen heute erzählen möchte, ist eigentlich in Zürich passiert. Aber es geht auch dabei um einen Elefanten aus Rapperswil. Sie klingt wie ein Märchen, ist aber wirklich wahr. An einem Frühlingstag vor ein paar Jahren war der Zirkus Knie wieder in der Stadt. Michael und Nora, zwei Freunde von uns, waren zu dieser Zeit auf dem Weg an eine Beerdigung [19]. Eine junge Freundin von ihnen war an Krebs gestorben und hatte zwei kleine Kinder [20] zurückgelassen. Michael und Nora waren extrem traurig.
An diesem Tag regnete es so fest, dass alle Strassen leer waren. Bei der Löwenstrasse stellten sie sich darum unter ein Dach. Sie wollten warten, bis der Regen weniger stark war. Plötzlich sahen sie, wie ganz nahe von ihnen ein Elefant durch den Regen spazierte. Nora flüsterte: «Siehst du das auch?» Michael nickte nur. Dann fingen beide an zu weinen. Erst später hörten sie, dass tatsächlich ein Elefant aus dem Zirkus weggelaufen war. Es war ein Weibchen und hiess Sabu. Doch auch dann blieb das Erlebnis für unsere Freunde magisch. Sie erzählten uns: «Es war, als wäre unsere verstorbene Freundin als Elefanten-Engel an uns vorbeigegangen — wie in einem traurigen aber schönen Traum.»
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In Rapperswil gibt es natürlich noch ganz andere Dinge zu sehen als nur Zootiere. Es gibt dort auch ein schönes Schloss, eine Altstadt und berühmte Rosengärten. Was mir aber am besten gefällt, ist eine neue Holzbrücke. Sie ist 841 Meter lang und man kann darauf über das Wasser auf die andere Seite des Sees spazieren! Die Brücke gehört zum berühmten Jakobsweg.
Sie erinnert mich an ein Projekt, das meinem Schwiegervater sehr wichtig ist: Ein durchgehender [21] Ufer-Weg um den ganzen Zürichsee. Er hat es mir so erklärt: «Der Zürichsee ist der einzige See im Kanton Zürich, um den man nicht ganz herumspazieren kann. Nur weil viele reiche Leute ihre Häuser am See haben, können alle anderen nicht überall zum Wasser. Ich finde das nicht richtig.»
Das stimmt zwar. Aber ich hatte und habe eine andere Meinung dazu. Ich sagte deshalb: «Erstens glaube ich nicht, dass das funktioniert. Zu viele sind dagegen. Zudem gefallen mir die schönen Villen direkt am Wasser. Es freut mich, dass es sie gibt.»
Die Gärten dieser Häuser gehen nämlich bis zum Wasser. Die Leute, denen sie gehören, haben dort oft ein kleines Schiff. Das ist wunderbar. Ich weiss, dass ich sonst eigentlich will, dass Reichtum [22] besser verteilt wird. Aber ich möchte trotzdem nicht, dass es den Seeuferweg gibt. Denn diese Häuser sind doch das, wovon wir alle träumen. Ich sagte zu meinem Schwiegervater: «Für mich wäre es, als würde man anderen aus Neid [23] das wegnehmen, was man selbst nicht haben kann. Das nützt doch niemandem etwas.» Natürlich ist er nicht mit mir einverstanden, doch das stört uns beide nicht.
Und ich fahre weiterhin gern von Zürich mit dem Schiff nach Rapperswil. Das ist eine schöne Fahrt und man kann vom Wasser aus all die Villen und Gärten sehen. Ich liebe es, mir vorzustellen, dass ich selbst dort wohnen würde. Das werde ich natürlich nie. Aber das macht nichts. Dafür kann ich mir jedes Mal ein anderes Haus für meine Träume aussuchen.
Übrigens gibt es zu diesem Streit noch eine lustige, kleine Geschichte. Mein Schwiegervater hat nämlich ein Haus in Griechenland. Es ist gross und schön und hat einen riesigen Garten mit Olivenbäumen, Früchten und Blumen — ein Paradies! Er lebt dort etwa die Hälfte des Jahres. Unten am Garten gibt es einen ganz einsamen Strand. Wenn dort fremde Leute baden, sagt er: «Hm, was tun die da? Das ist doch eigentlich unser Strand.»
Ich finde das komisch und habe ihm deshalb gesagt: «Erstens gehört der Strand nicht dir und zweitens müsstest du doch wollen, dass er für alle da ist. So, wie das Ufer des Zürichsees.» Mein Schwiegervater schaute mich an. Dann fing er an zu lachen und sagte: «Wahrscheinlich hast du recht. Wenn es um einen selbst geht, dann denkt man halt immer ein bisschen anders.» Das stimmt. Es geht ja auch mir so, selbst [24] wenn ich das wirklich blöd finde.
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Eine Schifffahrt von Zürich nach Rapperswil lohnt [25] sich wirklich! Besonders, wenn Sie nicht an einem Sonntag gehen müssen. Dann hat es extrem viele Leute. Das gilt [26] übrigens auch für den Kinderzoo.
Jetzt freue ich mich sehr, wenn Sie bei Instagram unter #PodClubAndrea und #andreaerzaehlt vorbeischauen und auch die nächste Sendung auf podclub.ch oder über unsere App mit dem Vokabeltrainer hören. Wegen Auffahrt wird sie übrigens erst am Montag, dem 29. Mai, online sein. Dann werde ich Ihnen von «Viznau» erzählen. Auf Wiederhören und gute Zeit!
Glossaire: Andrea erzählt (D) [1] beeindruckend: es macht Eindruck, ist ein grosse Leistung
[2] das Zelt: eine Art Haus aus Stoff oder Fell und Stäben, z.B. für Camping
[3] ebenfalls: auch
[4] häufig: oft
[5] riesengross: sehr gross
[6] kaum: fast nicht
[7] der Seelöwe: Robben-Art, ein Säugetier mit Fell und Flossen, das im Meer lebt
[8] die Bank: eine Art langer Stuhl, auf dem mehrere Leute nebeneinander sitzen können
[9] sich fürchten: Angst haben
[10] die Panik: grosse, unkontrollierbare Angst
[11] schreien: laut rufen, oft aus Angst oder Wut
[12] absteigen: von einem Pferd, einem anderen Tier oder z.B. einem Fahrrad hinunter gehen
[13] sich schämen: etwas peinlich finden
[14] stolz: glücklich über etwas, was man geschafft hat
[15] trösten: jemandem, der traurig ist oder Angst hat, Mut machen
[16] der Picknicksack: Tasche mit Essen für unterwegs
[17] seelenruhig: völlig ruhig, gelassen
[18] mitsamt: mit allem
[19] die Beerdigung: Ritual, bei dem ein gestorbener Mensch verabschiedet und je nach Glaube in den Boden gebracht wird
[20] zurücklassen: im Zusammenhang mit dem Tod ist damit gemeint, dass der Verstorbene Menschen auf der Welt verlässt, weil er sie nicht mitnehmen kann
[21] durchgehend: über eine ganze Strecke gehend, hier: um den ganzen See
[22] der Reichtum: Besitz
[23] der Neid: Eifersucht auf etwas, was andere haben
[24] selbst: hier: auch, sogar
[25] sich lohnen: es wert sein
[26] gelten: wahr, gültig sein