heute journal vom 04.09.2021 - Proteste und Widerstand - Druck auf die Taliban; Was ist soziale Gerechtigkeit?
Diese Untertitel sind live produziert.
Und jetzt das "heute journal" mit Heinz Wolf und Marietta Slomka.
Guten Abend,
beginnen wir mit einem Blick nach Afghanistan.
In Kabul lässt die angekündigte Präsentation
der neuen Taliban-Regierung weiter auf sich warten.
Die vielen Fraktionen und Kriegs- herren unter einen Hut zu bringen,
braucht wohl noch Zeit.
Ein Großteil der Bevölkerung wartet ab, wie es nun weitergeht.
Viele sind in einer Art Schockstarre.
Aber es gibt auch Proteste und Widerstand gegen die neuen Herren,
während die Taliban damit beginnen,
ihre Öffentlichkeitsarbeit zu professionalisieren.
Jörg Brase berichtet.
Bilder aus dem staatlichen Krankenhaus in Kabul,
gefilmt vom chinesischen Fernsehen,
geübt in der Verbreitung staatlicher Propaganda.
China sucht nach guten Kontakten mit dem neuen Regime.
Ein Bericht, der den Taliban gefallen wird.
Während des politischen Wechsels im Land hat das Gesundheitssystem,
speziell unsere Klinik, ohne Unterbrechung gearbeitet.
Kritische Patienten wurden rund um die Uhr behandelt.
Vor dem politischen Wechsel aber gab es sehr viele Kriegsopfer.
Auf Kabuls Mauern in der Innenstadt
prangen nun Propagandasprüche der Taliban.
“Wir gratulieren euch zu eurer Freiheit, liebe Landsleute“,
lautet einer.
Doch diese Freiheit gilt nicht für alle.
Mädchen und Jungen dürfen zwar wieder zur Schule gehen,
aber erst mal nur bis zur sechsten Klasse.
Zwar durften Lehrerinnen an ihren Arbeitsplatz zurückkehren,
vielen Frauen in anderen Berufen aber wurde das verwehrt.
Dagegen protestierten Frauenorganisationen
auch heute wieder.
"Taliban, ihr verletzt die Menschenrechte", riefen sie.
Ich will den Frauen helfen, die bisher nicht wieder zur Arbeit,
nicht zur Schule gehen durften.
Ich will ihre Stimme sein.
Die Polizei trat an, um den Protest zu unterbinden.
Eine Frau wurde dabei angeblich verletzt.
Auf dem Markt der Geldwechsler sind die Männer unter sich.
Doch das Geschäft läuft schlecht.
Die Unsicherheit ist groß, wohin das Land nun steuert.
Die neue Regierung
sollte Frieden und Sicherheit für Afghanistan bringen.
Und es sollte einen Waffenstillstand geben.
Denn noch immer wird gekämpft.
In den Bergen oberhalb des Pandschir-Tals
hat sich die Nationale Widerstandsfront verschanzt.
Ein Bündnis verschiedener Oppositionsgruppen.
Angeführt von Ahmad Massoud, Sohn des 2001
ermordeten charismatischen Warlords Ahmad Schah Massoud.
Auch von den Taliban vertriebene Mitglieder der ehemaligen Regierung
haben sich den Milizen angeschlossen.
Wir werden unser Land verteidigen.
Der Widerstand geht weiter.
Wir haben viele Taliban getötet.
Sie töteten viele unserer Soldaten.
Wir haben sie gestern begraben.
Auch heute werden wir wieder von zwei, drei Seiten angegriffen.
Aber wir haben die Situation unter Kontrolle.
Ob sie tatsächlich eine Chance haben, ist fraglich.
Sicher ist nur, dass die Taliban
noch lange nicht alles im Griff haben,
so wie sie es ihr Volk und die Welt glauben machen wollen.
Katrin Eigendorf:
wenn man sich das jetzt anschaut, die Widerstandsfront.
Da wiederholt sich die Geschichte.
Der Sohn von Massoud geht in diesen Krieg und sagt, er tritt das Erbe
seines Vaters an.
Er steht nicht alleine da.
Er hat eine Front zusammenbekommen, von ehemaligen
Regierungsangehörigen. Er hat Teile der Armee auf seiner Seite.
Und er hat Waffen gesammelt.
Harmlos ist diese Widerstandsbewegung nicht.
Pandschir war auch immer schon unter den Russen umkämpft.
Ja, die Geographie war schon immer kriegsentscheidend.
Mutige, junge Frauen protestieren.
Hat das eine Chance?
Ich denke, für die Frauen, die in Kabul demonstrieren,
könnte sich die Situation als schwierig erweisen.
Weil die Taliban bereit sind, brutal zurückzuschlagen.
Das ist ein unglaublicher Mut, mit dem sie vorgehen.
Aber man beobachtet auch, dass es starke Spaltungen innerhalb der
Taliban gibt. Es gibt Gruppierungen, die sagen,
wir können nicht all das, was das Volk errungen hat,
vom Tisch fegen.
Da sind die Frauenrechte ein wichtiger Gradmesser.
Da gibt es auch die Debatte mit den internationalen Geldgebern.
Frauenrechte könnten für die Zukunft der Verhandlungen
eine bedeutende Rolle spielen.
Die bittere Lage der Menschen in Afghanistan war auch
eines der Themen, die heute bei der "Unteilbar"-Demo in Berlin
eine Rolle spielten.
Neben vielen anderen.
Klimawandel, Antirassismus, soziale Ungerechtigkeiten, zu niedrige Löhne,
zu hohe Miete und vieles mehr.
Thematisch war sozusagen für jeden etwas dabei,
so vielfältig wie die Mitglieder des Aktionsbündnisses "Unteilbar".
Zu den 350 Organisationen,
die sich unter diesem Titel zusammengeschlossen haben,
gehören Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen
oder auch die Fridays-for-Future-Bewegung.
Viele Interessen also, viele Anliegen.
Stephanie Gargosch und Nils Schneider berichten.
Eine Gesellschaft, die alle mitnimmt.
Die Schwachen schützt und niemanden diskriminiert.
Fast zu schön, um wahr zu sein.
Die Demonstranten in Berlin haben aber konkrete Vorstellungen,
wie man mehr Gerechtigkeit erreichen kann.
Immer wieder fällt das Stichwort Löhne.
Wir haben ja jetzt in der Krise gesehen, wer hier die Sache wuppt.
Das sind keine Banken, sondern das sind die Leute,
die an der Kasse sitzen, die in der Pflege arbeiten.
Und wenn die nicht entsprechend entlohnt werden
und gewertschätzt werden, z.B. durch Lohn, dann haben wir ein Problem.
Da ich im Gesundheitswesen arbeite,
muss sich da ganz besonders was ändern.
Denn es kann nicht sein, dass Krankenhäuser
an die freie Wirtschaft angelehnt sind
und wie Wirtschaftsunternehmen arbeiten müssen.
Ich denke aber auch das ganze Personal in Kitas, Erzieherinnen,
Erzieher sind auch eine ganz wichtige Gruppe,
die einfach mehr Geld für ihre Arbeit kriegen sollten.
Ein Riesenthema, gerade in Berlin, sind auch die Mieten.
Bei der kommenden Wahl kann hier auch über ein Volksbegehren
abgestimmt werden, das vorsieht, große Wohnungskonzerne zu enteignen.
Es ist schon erschütternd, dass so viele Leute sich Gedanken
machen müssen, ob sie überhaupt in ihrer Wohnung bleiben können.
Also für die muss auf alle Fälle auch was gemacht werden.
Dass alle Menschen Wohnraum haben, den sie sich leisten können
und der ihrer würdig ist.
Und natürlich der Klimaschutz.
Der Klimaschutz, ja.
Wir haben nur eine Erde und die sollte bewohnbar bleiben.
Es kann nicht sein, dass die Firmen, die die Umweltverschmutzung
und die Umweltkatastrophen mit verursachen, dass die Kosten,
das zu beseitigen, wieder auf die Normalbürger abgewälzt wird.
Einen Großteil der Demonstranten machen politische
und gesellschaftliche Gruppen aus dem linken Spektrum aus.
Bei der ersten "Unteilbar"-Demo vor drei Jahren
waren noch 240.000 Menschen auf die Straße gegangen.
Damals ging es gegen Rassismus und Diskriminierung.
Heute, beim Thema soziale Gerechtigkeit,
war es nur ein Bruchteil dessen.
Die Polizei spricht von 10.000,
der Veranstalter von 30.000 Teilnehmern.
Möglicherweise der Pandemie und der Angst vor Ansteckung geschuldet.
Kurz vor den Wahlen wollen die Organisatoren aufrütteln.
Wir zeigen, dass wir unteilbar miteinander verbunden sind,
dass die Zivilgesellschaft ganz klare Forderungen und Visionen hat
für eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen, die hier leben.
Die Gruppen marschierten weit auseinandergezogen, mit Maske.
Das Corona-Sicherheitskonzept
hat nach Angaben der Polizei funktioniert.
Wenn von Flüchtlingen die Rede ist,
denkt man ja v.a. an Länder wie Syrien oder Afghanistan
und an den afrikanischen Kontinent.
Gewaltige Flüchtlingsdramen spielen sich aber auch noch
in ganz anderen Weltregionen ab,
nur dass man davon in unseren Breitengraden weniger mitbekommt.
Kolumbien etwa ist eines der Länder
mit den weltweit meisten Binnenflüchtlingen.
Durch den jahrzehntelangen Bürger- krieg sind rund 5 Mio. Kolumbianer
aus ihren Heimatorten geflüchtet bzw. wurden vertrieben.
Viele, denen einmal Hof und Land gehörte, hausen heute
in provisorischen Hütten.
Zu diesen Entwurzelten kommen nun auch noch jeden Tag
tausende Flüchtlinge aus dem benachbarten Venezuela hinzu.
Unser Südamerikakorrespondent Christoph Röckerath
beginnt seinen Bericht in der Grenzstadt Cucuta.
Der kleine Jonai traut seinen Augen kaum,
endlich eine richtige Mahlzeit warm, frisch, sauber.
Dass er und seine vier Geschwister gemeinsam mit Mutter Emily
an einem Tisch sitzen und genug zu essen haben,
ist etwas ganz Besonderes.
Das Rote Kreuz hat die Familie aufgenommen in einem Stützpunkt
im kolumbianischen Cucuta, direkt an der Grenze zu Venezuela.
Vor mehr als zwei Jahren sind Emily und ihre Kinder
aus ihrer Heimat geflohen und doch nie wirklich angekommen in Kolumbien
Kein Geld, kein Dach, keine Ahnung, wohin.
Die Leute haben zu mir gesagt, ich solle mich prostituieren.
So viele üble Dinge, sogar Drogen zu verkaufen,
haben sie mir vorgeschlagen.
Aber dafür bin ich nicht hergekommen.
Ich bin hergekommen,
um meinen Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.
Emily ist studierte Grundschullehrerin, doch das Gehalt
in Venezuela reichte nicht einmal fürs Essen.
Und so nahm sie ihre Kinder und flüchtete.
Es folgen Monate voller Not, Ausbeutung und Gefahr.
Erst als sie nicht mehr weiterweiß und schon zurück
nach Venezuela will, wendet sie sich ans Rote Kreuz.
An diesem Tag hatten meine Kinder noch nichts gegessen.
Ich habe gesagt, bitte helfen Sie mir,
damit meine Kinder nicht hungern müssen.
Stell dir vor, dein Kind bittet sich um Essen
und du hast nur ein paar Cent in der Tasche.
Auf Dauer hierbleiben können sie nicht.
Das Rote Kreuz und andere Organisationen
können hier im Grenzgebiet nur Nothilfe leisten.
Der Strom der Flüchtlinge reißt nicht ab.
Wir haben diese Unterkunft erst vor drei Tagen eröffnet
und in diesen drei Tagen
schon 40 Personen aus zehn Familien aufgenommen.
Das zeigt, dass der Bedarf hier sehr groß ist.
Mehr als 2 Mio. Flüchtlinge aus Venezuela
sind allein in Kolumbien unterwegs.
In der Grenzstadt Cucuta tummeln sich tausende Gestrandete.
Geschäftemacher und Menschen, die nur kurz über die Grenze kommen,
um sich bei einer Hilfsorganisation medizinisch behandeln zu lassen.
Die meisten aber ziehen weiter, so wie Joana,
die mit ihrem Mann und einem Freund unterwegs ist.
Sie will bis nach Peru, erzählt sie uns.
Denn sie ist schwanger
und ihr Kind soll auf keinen Fall hier zur Welt kommen.
Für mein Kind ist der Bauch das sicherste Transportmittel.
Von hier bis zu ihrem Ziel sind es noch mehr als 3.000 Kilometer.
Die Verzweiflung scheint manchmal größer
als die Entfernungen auf diesem Kontinent.
Und jetzt die Nachrichten von Heinz Wolf.
Zunächst zur Corona-Situation in Deutschland:
Die Zahl der Neuinfektionen ist weiter angestiegen.
Das Robert Koch-Institut erfasste 10.835 Neuinfektionen
innerhalb von 24 Stunden.
Das sind 532 mehr als am vergangenen Samstag.
Weitere 24 Todesfälle wurden gemeldet.
Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 80,7.
Angesichts der stockenden Impfungen in Deutschland
werden Warnungen vor einer kritischeren Corona-Lage
in den kommenden Monaten lauter.
Mediziner befürchten im Herbst eine erneute starke Belastung
der Intensivstationen, sollte das Impftempo nicht schnell anziehen.
Gesundheitsminister Spahn rief erneut dazu auf, Impfangebote wahrzunehmen.
Vollständig geimpft sind laut Spahn in Deutschland rund 51 Mio. Menschen
und damit etwa 61 % der Bevölkerung.
Nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul
haben sich auch mindestens fünf hochrangige Politiker
aus Afghanistan nach Deutschland abgesetzt - das meldet der "Spiegel".
Unter den mehr als 4.500 Ausgeflogenen
sind nach Angaben von Bundesinnen- minister Seehofer
bislang 20 sicherheitsrelevante Fälle bekannt.
Darunter sind auch verurteilte Straftäter
und offenbar Terrorverdächtige.
Der Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer ging heute weiter.
Kritik am Verhalten der GDL
kam vom Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Hoffmann.
Er bemängelte in der "Rheinischen Post", dass die GDL
Einzelinteressen über das Gesamtinteresse
aller anderen Bahnbeschäftigten stelle.
Man dürfe die Beschäftigtengruppen eines Unternehmens
nicht gegeneinander ausspielen.
Um die Auswirkungen des Streiks abzumildern, will die Bahn
an diesem Wochenende die Kapazitäten im Fernverkehr erhöhen
und rund 30 % des normalen Fahrplans anbieten.
Enden soll der Arbeitskampf laut GDL-Ankündigung am Dienstag um 2 Uhr.
Die Wetteraussichten für morgen:
Im Norden teils zäher Hochnebel,
der sich im Tagesverlauf aber meist auflöst.
Sonst sonnig oder nur locker bewölkt.
Im Bergland ganz vereinzelt gewittrige Schauer möglich.
Die weiteren Aussichten:
Auch in den nächsten Tagen ruhiges Spätsommerwetter
mit einer Mischung aus Sonne, Wolken und Nebel.
Und um diesen sommerlichen Samstagabend schön abzurunden,
gibt's jetzt noch das "sportstudio".
Gegen 0 Uhr gibt es dann die nächste "heute Xpress".
Und uns morgen wieder, auf Wiedersehen.