So weit die fusse tragen (Part 1)
Josef Martin Bauer So weit die Füsse tragen Non-profit ebook by tigger Februar 2004 Lizenzausgabe für den Bertelsmann Lesering mit Genehmigung des Franz Ehrenwirth Verlages, München © Franz Ehrenwirth Verlag KG, München Einband Brigitta Kuntze, Vignette W. Bürger [ebook: Einband von Bastei-Lübbe nach dem Kinofilm] Gesamtherstellung Mohn & Co GmbH, Gütersloh Printed in Germany Dieser Klassiker von 1955 beruht auf der wahren Geschichte von dem Soldaten Clemens Forell (der Originalname wurde von Bauer geändert), der 1945 in russische Kriegsgefangenschaft gerät und mit 3.000 Kameraden zu 25 Jahren Bergbaulager in Sibirien verurteilt wird. Bereits beim Transport an das Ostkap Sibiriens sterben fast 2/3 der Gefangenen an Kälte, Hunger und Erschöpfung. Nach weiteren 4 Jahren im Bleibergwerk werden die Vergiftungserscheinungen spürbar, die verbleibenden Männer wissen um den sicheren Tod. Aus dieser Situation heraus wagt Forell eine völlig aussichtslose Flucht, die ihn in eine mehr als 14.000 Kilometer lange Odyssee quer durch das unwirtliche Land führt. Dieses ebook ist nicht zum Verkauf bestimmt!
Daß die Hölle so schön sein kann! Das Schreien am Zug entlang ist nicht weniger laut als sonst, und die Türen der Waggons werden nicht freundlicher aufge- stoßen. Nach sechsundzwanzig Tagen hat das Ohr unterschei- den gelernt, was für Kernstücke der Schwall rauher russischer Worte hat, und nach dem bloßen Klang verstehen die Männer, deren Leiber beim Aufreißen der Tür durch die Öffnung quel- len, daß sie fürs erste die Toten herauszulegen haben, damit man sie abbucht, daß sie Schnee in den Kochtopf fassen dürfen und daß es erlaubt ist, von dem Holzstoß da drüben zu nehmen, zwar nur ein paar Arme voll für jeden Waggon, aber eben doch Holz, nachdem seit neun Tagen der Kanonenofen nicht mehr angeheizt werden konnte. Vor dem Rechteck der offenen Tür liegt ein sichtig kalter Tag, der mild zum Abendwerden eingerötet ist. In der Gleiswirrnis eines Verschiebebahnhofs hat der Zug angehalten. Der Weg in die Ewigkeit hat seine festen Stationen, die schon mit in die Ewigkeit eingeplant sind und keine verlorene, aber auch keine gewonnene Zeit mehr kennen, ob der Zug drei Stunden oder vier Tage hier verhält. Diese Station nun heißt Omsk. Der Tag der Fahrt ist der sechsundzwanzigste. Aus den Waggons, die der Tod seit dem letzten Anhalten besucht hat, werden die Leichen in den kalten Tag hinausgehoben und an die Böschung eines etwas höher liegenden Nachbargeleises gelegt. Holz wird hereingenommen. Die Handreichungen sind gewohnt und eingelernt. Aber die Stadt jenseits der Toten und der Geleise ist schön: eine von romantisierenden Adventzeich- nern auf rosaroten Abendhimmel gemalte und mit Schneebe- hang überzuckerte Silhouette von Türmen und Hochhäusern. Ein himmellanger Mann, den Arm voll Holz, wie es eben zu- 2
geteilt wurde, macht sich den linken Arm frei, um auf die Stadt zu deuten. »Herrgott! Ist das schön!« »Soweit hier überhaupt etwas schön sein kann.« »Die Türme! Die Kirchen!« Leibrecht nimmt dem Himmellangen das Holz ab und wirft es in den Waggon. »Die Kirchen scheinen es dir besonders angetan zu haben, Forell. Einmal fromm gewesen? Oder wie- der auf dem Weg, fromm zu werden? Der Holzstapel, wenn man es richtig betrachtet, ist schöner. Wollen wir es nicht noch einmal versuchen?« »Ich bin zu groß«, lacht Forell. »Mich kennen sie.« Aber im Trubel der Holzausgabe versucht er es noch einmal, stellt sich an und will von neuem in den Stapel greifen, als er an der Rei- he ist. Da schreit der Pelzvermummte aber auch schon auf, und selbst wenn Forell nicht ein Wort Russisch verstünde, müßte er aus der reichen Wahl farbiger Schimpfworte das Ergebnis zie- hen, daß der Mann ihm das Holz aus der Hand schlagen wird, wenn er es wagen sollte, für den Waggon Nummer acht ein zweites Mal Holz zu nehmen. »Der Bursche im Pelz ist auf seine Art auch fromm«, lächelt Leibrecht, als Forell, enttäuscht und sichtlich kleiner geworden, leer an den Waggon zurückkommt. »Er hat schöne Worte und Namen aus alten frommen Zeiten gefunden, als er dich abfer- tigte. Trotzdem – du hast recht. Was hier an Türmen geboten wird, ist herrlich!« »Ich bin meine Kindheit lang im Schatten von Kirchtürmen gelaufen. Papa war aus Liebhaberei ein eifriger Botaniker, der Sonntag um Sonntag durch die Berge zog und uns Kindern, die wir unentwegt mit ihm gehen mußten, zäh und illustrativ bei- zubringen wußte, wo die gleichen Blumen aus anderem Ge- stein völlig andere Farben ziehen und wo die Berge ihre herr- lichsten Kirchen haben. Kennst du Ettal?« »Ein paarmal durchgefahren.« 3
»Die Kirche solltest du kennen. Ich weiß heute nicht mehr, ob sie so schön und großartig ist, wie sie mir als Kind erschie- nen ist. Darum möchte ich einmal wieder in dem Rundbau un- ter der Kuppel stehen.« »Und danken für die glückliche Heimkehr?« Forell macht die Augen eng, als Leibrecht so leichthin und wie im Spott von der Heimkehr spricht, die es für keinen mehr gibt. »Ich möchte einmal noch unter dieser Kuppel stehen und mich umsehen oder umhören. Das hat Papa mir beigebracht in der Ettaler Klosterkirche. Der Raum hat keine Akustik. Man ist allein, wo man auch steht, und es kommt anstatt eines vollen Tones immer nur ein Wispern, ein Bruch von Wort und Musik an den Menschen. Mit Papa möchte ich dort sein.« »Jetzt gib dich mit Omsk zufrieden! An den Verhältnissen gemessen ist es auch schön. Und was deinen Vater betrifft, so ist er, wenn ich mich aus deinen Erzählungen recht erinnere, schon gestorben.« »Vierzig im Frühjahr. Er wird mir fehlen mit seinen Erklä- rungen. So bin ich eben dann allein.« »Komm, Forell! Komm! Nach sechsundzwanzig Tagen im geschlossenen Waggon erträgst du die kalte Luft nicht mehr.« »Steigen wir eben ein!« »Ich kenne das, mein Lieber. Genauso hat es mit Emmesber- ger angefangen. Der hat von Äpfeln auf dem Schlafzimmer- schrank geträumt. Bei dir sind es Kirchen. Für deine Frömmig- keit gebe ich nicht allzuviel. Aber aus solchen Träumen kom- men dann die großen Dummheiten, wenn die Zeit dazu bleibt und das Gewissen Frostschäden abbekommen hat. Emmesber- ger hat mit den Äpfeln auf dem Schrank angefangen. Dann hat er tagelang mit Danhorn zusammengesteckt und hat sich erklä- ren lassen, wie weit die mandschurische Grenze an der knapp- sten Stelle von der Bahn entfernt ist. Er ist die Sorgen um die Flucht los und darf nun ewig Äpfel vom Schlafzimmerschrank 4
essen, friert nicht mehr, hungert nicht mehr, braucht sich nicht mehr die Berge um den Baikalsee erklären zu lassen, und wenn es ihn nicht inzwischen völlig zugeschneit hat, lehnt er noch so im Schnee, wie wir ihn am Tobol aus dem Wagen gelegt ha- ben: den starr gefrorenen rechten Arm hinter dem Kopf, wie wenn er schlafe oder halbwach von den Äpfeln träume.« »Laß den guten Emmesberger in Frieden! Er war eine treue Seele. Aber so einer kommt im Ernstfall keine fünfzig Kilome- ter weit.« »Du, meinst du, kämest weiter?« Forell hat ein kaltes, eckiges Gesicht bekommen. Der rosaro- te Abend ist graugelb geworden und leuchtet Forells Gesicht aus, daß es nur noch Wachs ist. »Daß es keinen Sinn hat, weiß ich so gut wie du. Aber es hat keinen Sinn, mich mit Emmes- berger abschrecken zu wollen. Emmesberger ist tot. Er war ausgelaugt und leer. Die Kälte hatte es leicht mit ihm. Die plötzlich aufgeflackerte Hoffnung hatte ja schon etwas an sich von der Euphorie, die zuweilen einem Sterbenden noch neues Leben vorgaukelt. Mit Toten kannst du mich nicht erschrecken. Ich habe ihn selber hinausgetragen und in den Schnee gelegt. Gut, daß du mich daran erinnert hast.« Forell nimmt den um einen Kopf kleineren Leibrecht heftig am Arm. »Man müßte an einem Tag, der nicht zu kalt ist, den Mut zum Sterben haben. Es ist ein gefährliches Spiel. Ich weiß. Ganz wenig Chance. Die Toten aber haben ihre Chance in ihrer Bedeutungslosig- keit. Sie werden aus der Liste abgeschrieben, und wenn sie einmal ausgebucht sind, kommt niemand mehr auf den Gedan- ken, sie zu suchen. Es bleibt nur die Frage: wie lang hält einer es aus, so als Toter im Schnee zu liegen, wenn der Zug zwei, drei, vier Stunden stehenbleibt? Zwei Stunden getraue ich es mir auszuhalten. Länger nicht. Länger geht es unmöglich. Ganz erstarren darf ich ja nicht. Komm, Leibrecht! Wir steigen ein!« Leibrecht und Forell helfen sich gegenseitig hinauf. Es riecht nach Weiterfahrt. 5 Die Begleitsoldaten sind wieder mürrisch und benützen die quer in die Faust genommene Maschinenpistole wie der Crou- pier einer Spielbank seinen Rechen. Der Gewinner bekommt zugeschoben, was ihm zusteht, Geldeswert oder wrackige Menschen ohne Wert. Die Gefangenen, grau quellende Masse, müssen förmlich zusammengepreßt werden, damit die Tür zu schließen ist. Als aber die Masse wieder wie Teig in einer Kastenform zu- rechtgedrückt ist, schließt niemand die Tür. Man wird also erst später weiterfahren. Erst in einer Stunde. Oder erst morgen früh. Vielleicht gar erst nach Tagen. Warum auch beeilen? Keiner, wie sie hier eingepfercht sind, hat weniger als fünfund- zwanzig Jahre vor sich, und jede Stunde, jeder Tag, jede Wo- che Fahrt und Halten und Herumgestoßenwerden geht von den fünfundzwanzig Jahren ab, freilich nicht anders als ein Löffel Salz vom Meer. Man hat nicht zugehört, was Forell und Leib- recht gesprochen haben. Es war nur so viel zu hören, daß sie Omsk im Abendlicht schön gefunden und von der Innigkeit heimatlicher Kirchen geplaudert haben. Forell und Kirchen! In den langen Tagen der Fahrt hat man die Zeichen deuten gelernt, die darauf hinweisen, daß es wieder einmal Essen ge- ben wird. Sonst wären die Türen längst geschlossen worden. Von dort herüber, wo der Himmel sich nun aus dem Graugelb algengrün verfärbt hat, so daß die Türme und Hochhäuser wie vor einem Spiegel aus Wasser stehen, kommt eben noch genug Licht, um die Gesichter im Waggon acht matt zu erhellen, selt- sam angespannte Gesichter, wie wenn sie auf einen Prediger hören würden, der aus der Nacht auf sie einspricht. Selbst dann bleiben die Gesichter so gleichförmig angespannt und starr, als die Füße, um sich zu erwärmen, zu stampfen beginnen. Einer fängt an. Nach ein paar Minuten stampfen sechsundachtzig Männer, die Kälte aus den erschlaffenden Beinen zu stoßen. Sie wissen gar nicht in Waggon acht, daß dieses Stampfen vorn begonnen und sich von Wagen zu Wagen fortgepflanzt hat, als 6
wäre Befehl dazu gegeben worden. Irgendwo vorne wird dann etwas Lautes geschrien, vielleicht weil den Transportoffizier der Lärm vergrämt hat, und wie vorhin das Stampfen von vorn nach rückwärts durch den Zug gegangen ist, so kommt nun mit einem schleifenden Kriechen vom Platz der Lokomotive her das Schweigen. Dann stehen die Gesichter wieder starr, wie wenn alle horchen müßten, aber was wie Andacht und Versun- kenheit erscheint, ist das gebannte Warten auf ein hörbares Zeichen, daß es heute endlich wieder Kartoschki geben wird. Um neun am Abend geschieht es wirklich. Ein Eimer voll Kartoffeln, nicht ganz gar gekocht wie immer, schon beinahe kalt wie immer, wird mit viel Lärm zur Wag- gontür hereingeschüttet, durch die Tür auf den Boden. Was an der Tür steht, weicht zurück, nicht aus Ehrfurcht vor dem Es- sen, das sonst zertreten werden könnte, sondern aus Mißtrauen. Es könnte ja einer, wenn man sich nicht auf diese Methode geeinigt hätte, im Dunkel schnell zugreifen und eine Kartoffel beiseite schaffen für sich allein. Auf Leibrecht liegt die Verantwortung, daß richtig und ge- recht verteilt wird. Weil er ein Mann ist, der zu gar nichts zwingen kann, hat man ihn gezwungen, das zu übernehmen, denn er hat eine Art zu befehlen, daß es wie eine Bitte klingt, die auch den Rücksichtslosesten zur Rücksicht veranlaßt. Leibrecht ist Bankbeamter und könnte seinem Aussehen nach vielleicht ein Nachtportier eines mäßig großen Hotels sein. Als Leutnant ist er aus dem ersten Weltkrieg heimgekehrt. Aus diesem zweiten Krieg kehrt er nicht mehr heim, denn er wurde, für andere Aufgaben nicht recht brauchbar, zu den Landes- schützen eingezogen, hat sich brav und bieder, als das Landes- schützendasein noch in der Etappe vor sich ging, auf gemäch- lich rollender Kugel zum Hauptmann emporgedient und ist beim großen Beschuldigen in der Lubljanka zu fünfundzwan- zig Jahren verurteilt worden, weil man ihn dafür verantwortlich machte, daß sein Bataillon unter anderem auch gefangene 7
Russen bewacht hatte. Einundfünfzig ist er, und sein blühweißes Haar sieht auch jetzt noch gepflegt aus.