Gilbert Keith Chesterton: Der geheime GartenTeil 2
Der geheime Garten Teil 2
Inmitten dieser krankhaften Stille fragte eine unschuldige Stimme:
»War es eine sehr lange Zigarre?«
Der Gegensatz der Gedanken war ein so scharfer, daß sich alles nach dem Sprecher umzublicken gezwungen sah.
»Ich meine,« sagte der kleine Father Brown aus der Zimmerecke, »ich meine jene Zigarre, welche Brayne beendet. Sie scheint beinahe so lange wie ein Spazierstock.«
Trotz der Belanglosigkeit der Frage sprachen Zustimmung sowohl als Verwirrung aus Valentins Gesicht, als er den Kopf erhob.
»Ganz richtig,« bemerkte er schroff. »Iwan, geh und sieh nochmals nach Mr. Brayne und bring' ihn sofort hierher.« In dem Augenblicke, als das Faktotum die Türe geschlossen hatte, wandte sich Valentin mit einem ganz neuen Ernste an die junge Dame.
»Lady Margaret,« sagte er, »ich bin sicher, wir alle fühlen Dankbarkeit sowohl wie Bewunderung für Ihre Tat, daß Sie ohne Rücksicht auf sich selbst des Hauptmanns Gebaren aufklärten. Aber noch bleibt eine Tücke. Lord Galloway traf Sie, wenn ich mich entsinne, als Sie aus dem Studierzimmer nach dem Salon unterwegs waren, und es lagen nur wenige Minuten dazwischen, als er den Garten betrat und den Hauptmann noch herumwandernd fand.«
»Sie dürfen nicht vergessen,« antwortete Margaret mit leiser Ironie in ihrer Stimme, »daß ich ihn eben abgewiesen hatte; er konnte daher nicht gut Arm in Arm mit mir zurückkehren. Immerhin, er ist ein Ehrenmann, und so wartete er mein Eintreten ab – und wurde des Mordes beschuldigt.«
»In jenen wenigen Augenblicken könnte er wirklich« – bemerkte Valentin ernst.
Das Klopfen kam von neuem und Iwan steckte sein narbiges Gesicht herein.
»Bitte um Verzeihung,« meldete er, »aber Mr. Brayne hat das Haus verlassen.«
»Verlassen!« schrie Valentin und sprang zum ersten Male auf die Füße.
»Fort! Ausgerissen! Verduftet!« antwortete Iwan in humorvollem Französisch. »Auch sein Hut und Rock sind fort und ich will Ihnen etwas sagen, was alles übertrumpft. Ich lief zum Hause hinaus, um Spuren von ihm zu finden und fand auch eine, eine große noch dazu!«
»Was meinen Sie?« fragte Valentin.
»Ich werde Ihnen sogleich zeigen,« sagte sein Diener und erschien wieder mit einem blinkenden, blanken, an der Spitze und auf dem Rücken mit Blut befleckten Kavalleriesäbel. Alle Anwesenden starrten ihn an, als wäre es ein Donnerkeil, aber der erfahrene Iwan fuhr ganz ruhig fort:
»Ich fand dies,« sagte er, »fünfzig Meter weit von hier auf der Pariser Straße, in die Büsche geworfen. Mit anderen Worten, ich fand es genau dort, wo Ihrehrenwerter Mr. Brayne es hinwarf, als er weggelaufen ist.«
Neuerdings herrschte ein Schweigen, doch von ganz anderer Art. Valentin ergriff den Säbel, untersuchte ihn, überlegte mit unaffektierter Gedankensammlung und wandte sich dann mit dem Ausdrucke des Respektes O'Brien zu. »Hauptmann,« sagte er, »wir sind sicher, Sie werden uns diese Waffe jederzeit überlassen, wenn sie zu polizeilicher Prüfung benötigt werden sollte. Inzwischen,« fügte er hinzu, indem er den Stahl in die klirrende Scheibe stieß, »lassen Sie mich Ihnen Ihr Schwert zurückgeben.«
Angesichts des militärischen Symbolismus dieser Handlung konnten sich die Zuschauer kaum des Beifalles enthalten.
Für Neil O'Brien war dieses Ereignis in der Tat der Wendepunkt seines Daseins. Um die Zeit, da er wiederum in dem geheimnisvollen, in die Farben des Morgens getauchten Garten umherwanderte, war die tragische Nutzlosigkeit seines gewohnten Benehmens von ihm gefallen: er war ein Mann voll von Ansprüchen auf ein Glück. Lord Galloway erwies sich als Ehrenmann und hatte sich entschuldigt. Lady Margaret gab sich als mehr denn nur als Dame, zum mindesten als Frau, und mochte ihm wohl Besseres als eine Entschuldigung geboten haben, als sie vor dem Frühstück zwischen den alten Blumenbeeten einherwandelten. Die ganze Gesellschaft fühlte sich erleichterterund menschlicher, denn wenn auch das Rätsel des Toten blieb, die Last des Verdachtes war von allen genommen und mit dem sonderbaren Millionär – einem Manne, den kaum jemand kannte – mit nach Paris entwichen. Der Teufel war aus dem Hause geworfen, er hatte sich selbst hinausgeworfen.
Noch blieb aber das Rätsel, und als O'Brien sich neben Dr. Simon auf einen Gartensitz warf, nahm diese eingefleischte wissenschaftliche Natur es sofort wieder auf. Viel war aber nicht aus O'Brien herauszuholen, dessen Gedanken bei angenehmeren Dingen weilten. »Ich kann nicht sagen, daß mich das viel interessiert,« sagte der Irländer offen heraus, »besonders nachdem jetzt alles so ziemlich aufgeklärt scheint. Offenbar haßte Braune diesen Fremden aus irgendeinem Grunde, lockte ihn in den Garten und tötete ihn mit meinem Säbel. Dann floh er in die Stadt und warf unterwegs den Säbel weg. Übrigens sagt mir Iwan, der tote Mann habe einen Yankee-Dollar in der Tasche gehabt. Somit war es ein Landsmann von Brayne. Und das scheint die Sache zu erhärten. Ich sehe keinerlei Schwierigkeit in dieser Geschichte.«
»Es bestehen da fünf ganz gewaltige Schwierigkeiten,« fuhr der Doktor ruhig fort, »gleich einer hohen Mauer innerhalb der Mauern. Mißverstehen Sie mich nicht! Ich bezweifle nicht, daß Brayne es vollführt hat, wohl aber, wie er es getan hat. Erste Schwierigkeit: weshalb sollte ein Mann einen anderen mit einem großen plumpen Säbel toten, wenn er ihn beinahe mit einem Taschenmesser töten könnte, um esdann wieder in die Tasche zu stecken? Zweite Schwierigkeit: Weshalb geschah kein Lärm oder Schrei? Sieht für gewöhnlich ein Mann einen anderen, einen krummen Säbel schwingend, auf sich zukommen, ohne daß er eine Bemerkung dazu macht? Dritte Schwierigkeit: Ein Diener wachte den ganzen Abend an der Eingangstüre, und in Valentins Garten kann nicht einmal eine Ratte irgendwo herein. Wie kam der tote Mann in den Garten? Vierte Schwierigkeit: Dieselben Umstände vorausgesetzt, wie kam Brayne aus dem Garten?«
»Und die fünfte?« fragte Neil, die Augen auf den englischen Priester geheftet, der langsam den Pfad heraufkam. »Ist eine Kleinigkeit, meine ich,« erwiderte der Doktor, »aber ich glaube, eine merkwürdige. Als ich zuerst sah, wie der Kopf abgehauen war, vermutete ich, der Mörder hätte mehr als einen Streich geführt. Aber bei genauem Zusehen fand ich viele Schnitte, die den Hauptschnitt kreuzten, mit anderen Worten, sie wurden geführt, als das Haupt schon abgetrennt war. Haßte Brayne seinen Gegner so tödlich, daß er dessen Körper im Mondlichte mit dem Säbel bearbeitete?«
»Entsetzlich!« bemerkte O'Brien und schauderte. Der kleine Priester Brown war, während sie sprachen, herangekommen und hatte mit charakteristischer Schüchternheit gewartet, bis sie geendet hatten. Dann sagte er verlegen:
»Verzeihen Sie, wenn ich unterbreche, aber ich wurde geschickt, Ihnen die Neuigkeit mitzuteilen –«»Neuigkeit?« Wiederholte Simon und starrte ihn ziemlich nachdenklich durch seine Brille an.
»Ja, es tut mir leid,« sagte Father Brown milde. »Es ist nämlich ein neuer Mord vorgekommen.«
Beide Männer sprangen von ihrem Sitze auf, so daß dieser taumelte.
»Und was noch merkwürdiger ist,« fuhr der Priester fort, seinen Blick gelassen auf die Rhododendren richtend, »er ist von derselben gräßlichen Art; es ist eine weitere Enthauptung. Man fand den zweiten Kopf noch blutend im Flusse, wenige Yards von Braynes weg nach Paris; man vermutet somit –«
»Um's Himmels willen!« schrie O'Brien, »ist Brayne von einer fixen Idee befallen?« »Es gibt amerikanische Vendettas,« erwiderte der Priester unbeweglich. Dann fügte er hinzu: »Sie sollen nach der Bibliothek kommen und sehen.«
Hauptmann O'Brien folgte mit einem ausgesprochenen Gefühl des Unwohlseins den anderen zur Untersuchung. Als Soldat haßte er diese geheimnisvolle Metzelei. Wo sollten diese sonderbaren Amputationen schließlich enden? Erst war ein Kopf abgehauen und dann ein zweiter; in diesem Falle, sagte er sich bitter, traf es nicht zu, daß zwei Köpfe besser sind als einer. Als er das Studierzimmer durchquerte, strauchelte er beinahe angesichts eines auffallenden Zusammentreffens. Auf Valentins Tisch lag das farbige Bild noch eines dritten blutigen Kopfes, und es war der Valentins selbst. Ein zweiter Blick zeigte ihm, daß es sich nur um ein nationalistisches Blatt, genannt »Die Guillotine«, handelte, welches jede Woche einen seiner politischen Gegner mit rollenden Augen und verzerrten Zügen genau wie nach einer Enthauptung darstellte; und Valentin galt ihm als ein solcher eingefleischter Gegner von Bedeutung. O'Brien jedoch war Irländer mit etwas Keuschheit selbst in seinen Sünden. Und diese große, intellektuelle Brutalität, welche ausschließlich Frankreich eigen ist, widerte ihn an. Er fühlte Paris in seiner Gesamtheit, angefangen von den Grotesken an den gotischen Kirchen bis zu den rohen Karikaturen in den Zeitungen. Er erinnerte sich der riesenhaften Spässe der Revolution. Er sah die ganze Stadt als eine einzige häßliche Energie, angefangen von der blutigen Skizze auf Valentins Tisch bis hinauf, wo über einem Berge und Walde von Wasserspeiern der große Teufel auf Notre Dame herabgrinste.
Die Bibliothek war lang, niedrig und dunkel. Das Licht, welches eindrang, kam unter niedrigen Fensterläden hervor und hatte noch etwas von dem frischen Hauche des Morgens an sich. Valentin und sein Diener Iwan warteten auf sie am oberen Ende eines langen, leicht geneigten Pultes, auf dem die sterblichen, im Zwielicht ungeheuerlich aussehenden Reste lagen. Die große schwarze Gestalt und das gelbe Gesicht des im Garten gefundenen Mannes stellten sich ihnen wesentlich unverändert dar. Der zweite Kopf, der an jenem Morgen aus dem Schilfe gefischt worden war, lag triefend und tropfend daneben; Valentins Leute waren noch damit beschäftigt, die Restedieser zweiten Leiche zu suchen, von denen man annahm, daß sie abgetrieben worden seien. Father Brown, der O'Briens Empfindsamkeit nicht im mindesten zu teilen schien, ging zum zweiten Kopfe hinüber und untersuchte ihn mit einer flüchtigen Sorgfalt. Er war wenig mehr als ein Bündel nassen weißen Haares, umsäumt vom Silberglanze des rötlichen, klaren, von der Seite einfallenden Morgenlichts; das Gesicht, das von einer häßlichen, purpurroten, beinahe kriminalen Art zu sein schien, war viel gegen Bäume und Steine gestoßen, als es vom Wasser weitergeschwemmt worden war.
»Guten Morgen, Hauptmann O'Brien,« sagte Valentin in gelassener Herzlichkeit. »Sie haben wohl schon von Braynes jüngstem Versuche im Fleischerhandwerk gehört?«
Father Brown stand noch über den Kopf mit dem weißen Haare gebeugt und sagte, ohne aufzublicken:
»Es ist wohl ganz sicher, daß Brayne auch diesen Kopf abgeschnitten hat.«
»Der gesunde Menschenverstand scheint das zu sagen,« erwiderte Valentin, die Hände in den Taschen. »Ermordet in derselben Weise wie der andere. Gefunden wenige Yards entfernt von dem anderen. Und abgetrennt mit derselben Waffe, die er, wie wir wissen, mitgenommen hatte.«
»Ja, ja, ich weiß,« bemerkte Brown unterwürfig, »Und doch, Sie verstehen, zweifle ich, ob Brayne diesen Kopf abgeschnitten haben kann.«
»Weshalb nicht?« fragte Dr. Simon mit begreiflichem Staunen.
»Well, Doktor,« erwiderte der Priester, indem er flüchtig aufblickte, »kann jemand sich seinen eigenen Kopf abhauen? Ich weiß es nicht.«
O'Brien fühlte eine ganze Welt von Tollheit um seine Ohren zusammenkrachen, aber der Doktor sprang mit ungestümer Geschäftigkeit vorwärts und schob das weiße Haar beiseite. »O, es ist kein Zweifel, es ist Brayne,« sagte der Priester ruhig. »Er hatte genau diesen Schnitt im linken Ohr.«
Der Detektiv, der den Priester festen und funkelnden Auges betrachtet hatte, öffnete den zusammengepreßten Mund und stieß scharf hervor:
»Sie scheinen ja eine ganze Menge über ihn zu wissen, Father Brown?«
»Gewiß,« antwortete der kleine Mann einfach. »Ich hatte seit einigen Wochen mit ihm zu tun. Er trug sich mit dem Gedanken, sich unserer Kirche anzuschließen.«
Die Glut des Fanatikers sprang in Valentins Auge, und mit geballten Fäusten trat er auf den Priester zu.
»Und vielleicht,« schrie er mit sengendem Hohne, »vielleicht auch mit dem Gedanken, all sein Geld Ihrer Kirche zu vermachen!«
»Vielleicht auch damit,« gab Brown einfältig zur Antwort, »es ist möglich.«
»In diesem Falle,« schrie Valentin mit fürchterlichem Lächeln, »könnten Sie in der Tat eine Menge über ihn wissen. Über sein Leben und seinen – –«
Hauptmann O'Brien legte eine Hand auf Valentins Arm. »Lassen Sie dieses verleumderische Geschwätz, Valentin,« sagte er, »oder es könnte nochmals von einem Säbel die Rede sein.«
Doch Valentin hatte unter dem festen, demütigen Blicke des Priesters seine Selbstbeherrschung wiedergefunden.
»Nun,« warf er kurz hin, »anderer Leute Privatmeinungen können warten. Sie, meine Herren, sind noch durch Ihr Versprechen, zu bleiben, gebunden; Sie müssen ihm selbst Geltung verschaffen – einer gegenüber dem anderen. Hier, Iwan wird Ihnen Weiteres mitteilen, was für Sie von Wichtigkeit ist. Ich muß mich an die Arbeit machen und an die Behörde berichten, wir können dies nicht länger geheimhalten ... Ich werde in meinem Studierzimmer beim Schreiben sein, falls noch irgend etwas Neues dazukommen sollte.«
»Gibt es noch etwas, Iwan?« fragte Dr. Simon, als der Chef der Polizei den Raum verlassen hatte.
»Nur eines noch, glaube ich, Sir,« sagte Iwan, und sein altes, graues Gesicht legte sich in Falten, »aber das ist wichtig in seiner Art. Es betrifft den alten Hanswurst dort, den Sie im Gras gefunden haben,« und er deutete ohne eine Spur von Ehrfurcht auf den großen schwarzen Körper mit dem gelben Kopfe. »Wir haben jedenfalls herausgefunden, wer es ist.«
»Wirklich?« rief der erstaunte Doktor.
»Er hieß Arnold Becker,« erklärte der Unterdetektiv, »obwohl er sich unter vielen anderen Namen verbarg. Er war so etwas wie ein Landstreicher, und man weiß, daß er in Amerika gewesen ist; dadurch kam er mit Brayne in Berührung. Wir selbst hatten nicht viel mit ihm zu tun, denn er arbeitete meist in Deutschland. Natürlich waren wir in Verbindung mit der deutschen Polizei. Aber ganz merkwürdigerweise gab es einen Zwillingsbruder von ihm namens Louis Becker, der uns viel zu schaffen machte, wir fanden es tatsächlich erst gestern noch für notwendig, ihn zu guillotinieren. Nun, es ist ein wunderliches Zusammentreffen, meine Herren, aber als ich diesen Burschen lang im Grase liegen sah, empfand ich den größten Schlag meines Lebens, hätte ich nicht mit meinen eigenen Augen Louis Becker guillotiniert gesehen, geschworen hätte ich, es sei Louis Becker, der dort im Grase lag. Dann natürlich fiel mir sein Zwillingsbruder in Deutschland ein, und als ich diesen Faden verfolgte –«
Der explizierende Iwan hielt inne, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil niemand ihm zuhörte. Der Hauptmann und der Doktor starrten beide auf Father Brown, der aufgesprungen war und sich die Schläfen drückte, wie dies jemand in plötzlichem und heftigem Schmerze tut.
»Halt, halt, halt!« schrie er, »eine Minute nur, denn ich sehe zur Hälfte. Wird Gott mir die Kraft geben? Wird mein Verstand sich ganz aufraffen undalles sehen? Himmel, hilf! Ich war doch sonst ziemlich gut im Denken. Ich konnte früher den Inhalt jeder Seite des Aquinaten wiedergeben. Wird mein Kopf springen – oder werde ich sehen? Ich sehe halb – nur halb.«
Er vergrub den Kopf in die Hände und stand wie unter der Marter des Denkens oder des Betens erstarrt, während die anderen drei nur immer auf dieses letzte Wunderzeichen ihrer abenteuerlichen zwölf Stunden starrten.
Als Father Browns Hände fielen, enthüllten sie ein ganz frisches und ernstes Gesicht wie von einem Kinde. Er tat einen tiefen Seufzer und begann sodann:
»Sagen und erledigen wir dies so kurz als möglich. Hören Sie mich an. Es wird dies die rascheste Art sein, Sie alle von der Wahrheit zu überzeugen.« Er wandte sich an den Doktor. »Dr. Simon, Sie sind ein starker Kopf und ich hörte Sie heute morgen die fünf schwersten Fragen über diese Geschichte stellen. Gut. Wenn Sie sie nochmals stellen wollten, ich will sie beantworten.«
Simon fiel der Zwicker in Zweifel und Neugier von der Nase, doch er antwortete sofort.
Well , die erste Frage ist wohl, weshalb sollte überhaupt ein Mann einen anderen mit einem plumpen Säbel töten, wenn er es mit einem Dolche hätte tun können?«
»Mit einem Dolche kann man nicht enthaupten,« erwiderte Brown ruhig, »und für diesen Mord war das Enthaupten absolut notwendig.«
»Weshalb?« schrie O'Brien interessiert. »Und die nächste Frage?« fuhr Father Brown fort.
»Ja, weshalb stieß der Mann keinen Schrei oder irgendeinen Laut aus?« fragte der Doktor. »Säbel sind in Gärten gewiß etwas Ungewöhnliches.«
»Zweige!« erwiderte der Priester nachdenklich, und wandte sich gegen das Fenster, das auf den Schauplatz des Todes hinausblickte. »Niemand beachtete diesen Punkt, die Zweige. Weshalb sollten sie auf jenem Rasen liegen (sehen Sie einmal), so weit von jedem Baum? Sie wurden nicht abgehauen, sie wurden abgerissen. Der Mörder beschäftigte sein Opfer durch einige Tricks mit dem Säbel, indem er ihm zeigte, wie er einen Zweig mitten in her Luft entzweischneiden könne oder sonstwie. Dann, während sein Feind sich bückte, den Erfolg zu sehen, ein stummer Streich und das Haupt fiel.«
»Nun,« sagte der Doktor langsam, »das klingt ganz glaubwürdig. Aber meine beiden nächsten Fragen werden jedermann verblüffen.«
Der Priester stand immer noch nachdenklich, den Blick zum Fenster hinausgerichtet und wartete.
»Sie wissen, daß der ganze Garten wie ein luftdichter Raum verschlossen war,« fuhr der Doktor fort, »Gut, wie kam der Fremde dann in den Garten?«
Ohne sich umzudrehen, antwortete der kleine Priester: »Es war niemals ein fremder Mann im Garten.«
Schweigen trat ein und ein plötzlicher Ausbruch beinahe kindlichen Lachens löste die Spannung. Die Ungeheuerlichkeit von Browns Bemerkung veranlaßte Iwan zu offenem Hohne.
»O,« rief er, »also wir zerrten nicht vergangene Nacht den großen fetten Kerl auf das Sofa dort? Er war wohl gar nicht in den Garten gekommen?«
»In den Garten gekommen?« wiederholte Brown noch immer sinnend. »Nein, nicht ganz.«
»Zum Teufel nochmal,« rief Simon, »ein Mensch kommt in den Garten oder er kommt nicht hinein!«
»Nicht notwendigerweise,« erwiderte der Priester mit mattem Lächeln. »Welches ist die nächste Frage, Doktor?«
»Sie sind wohl krank,« meinte Dr. Simon scharf, »aber wenn Sie wollen, werde ich die nächste Frage stellen. Wie kam Brayne aus dem Garten?«
»Er kam nicht aus dem Garten,« sagte der Priester, immer noch zum Fenster hinausblickend.
»Kam nicht aus dem Garten?« platzte Simon heraus.
»Nicht ganz,« bestätigte Father Brown.
Simon schüttelte in einem Wutanfalle französischer Logik seine Fäuste. »Ein Mensch kommt aus einem Garten oder er kommt einfach nicht heraus,« schrie er.
»Nicht immer,« gab Brown zur Antwort.
Dr. Simon sprang ungeduldig auf seine Füße.
»Ich habe keine Zeit für solch sinnloses Geschwätz übrig,« bemerkte er ärgerlich. »Wenn Sie nicht einsehen, daß ein Mensch entweder auf der einen Seiteeiner Mauer oder auf der anderen ist, will ich Sie nicht weiter belästigen, Father.«
»Doktor,« bat der Geistliche sehr freundlich, »wir sind immer sehr gut mitsammen gestanden. Und wenn auch nur um alter Freundschaft willen, warten Sie noch und stellen Sie Ihre fünfte Frage.«
Der ungeduldige Simon sank in einen Stuhl und sagte kurz:
»Das Haupt und die Schultern waren in sonderbarer Weise abgeschnitten. Es schien nach eingetretenem Tode geschehen zu sein.«
»Ja,« sagte der Priester regungslos, »es wurde so gemacht, um Sie genau das eine Falsche vermuten zu lassen, das Sie vermuteten. Es geschah, um Sie als selbstverständlich annehmen zu lassen, daß der Kopf zu dem Körper gehörte.«
Das Grenzgebiet des Verstandes, auf dem alles Ungeheuerliche entsteht, war in dem Kelten O'Brien in schreckliche Bewegung geraten. Er fühlte die chaotische Gegenwart all der Ritter und Meerweiber, welche der Menschen unnatürliche Einbildungskraft hervorgebracht hat. Eine Stimme, älter als seine Vorväter, schien ihm ins Ohr zu raunen: Halte dich ferne dem ungeheuerlichen Garten, wo der Baum wächst mit der doppelten Frucht. Meide den bösen Garten, wo der Mann starb mit den zwei Köpfen! Und doch, während diese eklen symbolischen Gestalten an dem alten Spiegel seiner irischen Seele vorüberzogen, war sein französierter Verstand ganz frisch und so aufmerksam und ungläubig auf den sonderbaren Priester gerichtet, wie bei all den anderen.
Father Brown hatte sich endlich umgewendet und stand im dichten Schatten gegen das Fenster gerichtet, doch selbst in diesem Schatten konnte man sehen, daß er grau wie Asche war. Nichtsdestoweniger sprach er ganz vernünftig, als gäbe es auf der ganzen Welt keine Keltenseele.
»Meine Herren,« sagte er, »Sie fanden nicht den fremden Körper Beckers im Garten. Sie fanden überhaupt keinen fremden Körper im Garten. Trotz Dr. Simons Appell an die Vernunft behaupte ich immer noch, dass Becker nur teilweise zugegen war. Sehen Sie her! (Er wies auf den schwarzen Rumpf der geheimnisvollen Leiche.) Sie sahen nie in Ihrem Leben diesen Mann. Sahen Sie vielleicht diesen?«
Er schob rasch den großen gelben Kopf des Unbekannten zur Seite und brachte an dessen Stelle den weißbehaarten Kopf daneben. Und da, vollständig und eins lag unverkennbar Julius K. Brayne.
»Der Mörder,« fuhr Brown ruhig weiter, »hieb den Kopf seines Feindes ab und schleuderte das Schwert weit über die Mauer. Aber er war zu gerieben, um nur das Schwert fortzuwerfen. Er warf auch den Kopf über die Mauer. Dann brauchte er nur einen anderen Kopf auf den Körper setzen, und (da er auf seiner Privatuntersuchung bestand) Sie alle hielten das für einen gänzlich neuen Mann.«
»Einen anderen Kopf aufsetzen!« meinte O'Brien betroffen. »Welchen anderen Kopf? Köpfe wachsen nicht so ohne weiteres an den Büschen, nicht?«
»Nein,« antwortete Father Brown trocken, während er auf seine Schuhspitzen niederblickte, »es gibt nur einen Ort, wo sie wachsen. Sie wachsen im Korbe der Guillotine, neben dem nicht ganz eine Stunde vor dem Morde der Chef der Polizei, Aristide Valentin, gestanden hatte. O, meine Freunde, hört mich nur noch eine Minute lang an, ehe ihr mich in Stücke zerreißt. Valentin ist ein ehrlicher Mann, wenn Verranntsein in eine bestreitbare Sache Ehrlichkeit ist. Aber sahen Sie nie in seinem kalten grauen Auge, daß er nicht bei vollem Verstande ist? Er würde alles tun, alles, um das, was er den Aberglauben des Kreuzes nennt, zu brechen. Dafür hat er gekämpft und danach gehungert und jetzt hat er dafür gemordet. Braynes ungezählte Millionen waren bisher unter so viele Sekten verstreut worden, daß sie nur wenig das Gleichgewicht der Dinge zu stören vermochten. Valentin jedoch hörte von einem Gerüchte, daß Brayne wie so viele unruhige Skeptiker uns zutrieb, und das war etwas anderes. Brayne wollte der verarmten Kirche Frankreichs Ströme von Reichtum zufließen lassen; ja, er wollte sogar für sechs nationalistische Blätter wie die ›Guillotine‹ die Kosten bestreiten. Die Schlacht war auf einem Punkte schon zum Stehen gebracht und das entfachte den Fanatiker. Er beschloß, den Millionär zu beseitigen, und er tat es auf eine Weise, wie man von dem größten Detektiverwarten durfte, daß er das Verbrechen begehen würde. Er nahm unter einem kriminologischen Vorwande den abgetrennten Kopf Beckers an sich und brachte ihn in seiner amtlichen Handtasche mit nach Hause. Er hatte diesen letzten Streit mit Brayne gehabt, den Lord Galloway nicht bis zu Ende hörte; nachdem er darin unterlag, führte er ihn hinaus in den versiegelten Garten, plauderte über Fechtkunst, benutzte Zweige und einen Säbel zur Darstellung und–«.
Iwan mit der Narbe sprang auf.
»Sie Narr,« brüllte er jenen an. »Sie werden mit zu meinem Herrn kommen und ich nehme Sie beim –«
»Wieso? Ich wollte ja eben dorthin gehen,« erwiderte Brown tiefernst. »Ich muß ihn ersuchen, zu beichten usw.«
Indem sie den unglücklichen Brown wie eine Geisel oder ein Opfer vor sich hertrieben, brachen sie mitsammen in die überraschende Stille von Valentins Arbeitszimmer.
Der große Detektiv saß an einem Pulte, anscheinend zu sehr beschäftigt, um auf das lärmende Eindringen zu achten. Sie stockten einen Augenblick, bis etwas in jenem aufrechten und geschmeidigen Rücken den Doktor plötzlich herantreten ließ. Ein Blick genügte ihm. Neben Valentins Ellenbogen stand eine kleine Schachtel mit Pillen, und Valentin saß tot in seinem Stuhle. Und auf dem leblosen Gesichte des Selbstmörders lag mehr als nur der Stolz eines Kato.