7. Kapitel - 02
Clerval, der mich beobachtet hatte, während ich las, war überrascht von meiner Verzweiflung, die an die Stelle meiner Freude bei Empfang des Briefes getreten war. Ich warf den Brief auf den Tisch und barg mein Gesicht in den Händen.
»Lieber Frankenstein,« sagte er, als er bemerkte, daß ich bitterlich weinte, »bist du denn noch immer unglücklich? Was ist denn geschehen?«
Ich veranlaßte ihn mit einer Handbewegung, den Brief zu lesen; währenddem ging ich in der heftigsten Erregung im Zimmer auf und nieder. Auch aus seinen Augen drangen Tränen, als er den schrecklichen Bericht las.
»Trösten kann ich dich nicht, armer Freund, sagte er, »dazu ist das Unglück zu groß. Was wirst du nun tun?«
»Sofort nach Genf reisen. Komm mit mir, die Pferde bestellen.«
Auf dem Wege versuchte Clerval einige Worte des Trostes zu finden. Wenn es ihm auch nicht möglich war, so fühlte ich doch, wie tief er mit mir litt. »Armer Wilhelm! Nun ruht der liebe Junge bei seiner seligen Mutter. Und wenn man ihn noch frisch und blühend gekannt hat, muß es einem ja noch viel weher tun. So elend enden zu müssen unter dem grausamen Griff eines Mörders! Und was für eine Bestie muß der sein, der imstande ist, ein so junges, unschuldiges Leben zu zerstören! Aber daß er nun Frieden hat, mag ein Trost sein für die, die an seiner Bahre klagen und trauern. Wir dürfen ihn nicht weiter bemitleiden, sondern die Überlebenden sind es, die unseres Mitleides bedürfen.«
So sprach Clerval, während wir durch die Straßen eilten. Ich erinnere mich noch heute seiner Worte. Aber damals hatte ich keine Zeit zu antworten. Kaum fuhr der Wagen vor, als ich auch schon hineinsprang und mich von meinem Freunde verabschiedete.
Es war eine traurige Reise. Anfangs konnte es mir nicht rasch genug gehen, denn ich sehnte mich danach, meine Lieben in der Heimat in ihrem Gram zu trösten und sie in die Arme zu schließen. Je näher ich aber meiner Vaterstadt kam, desto mehr verzögerte ich die Fahrt. Ich konnte kaum der Fülle von Eindrücken Herr werden, die über mich hereinstürmten. Es umgaben mich Bilder, die mir von früher Jugend an lieb und vertraut waren, die ich aber seit nahezu sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte. Was konnte sich alles während dieser Zeit geändert haben? Ein plötzliches, erschütterndes Ereignis war ja eingetreten; aber noch tausend andere kleine Veränderungen konnten geschehen sein, die, weniger tief eingreifend, dennoch aber von entscheidender Bedeutung waren. Ich empfand Furcht; ich wagte es nicht, die Fahrt zu beschleunigen, denn tausend Befürchtungen standen mir vor Augen, die mich erzittern ließen, obgleich ich nicht imstande war, mir darüber Rechenschaft zu geben.
Ich blieb zwei Tage in Lausanne, um meiner Angst einigermaßen Meister zu werden. Ich betrachtete den See. Das Wasser lag friedlich da. Alles war still rings umher und die Schneeberge, die Dome der Natur, waren genau so wie einst. In dieser ruhevollen, erhabenen Umgebung erholte ich mich, so daß ich meine Reise nach Genf fortzusetzen vermochte.
Die Straße lief neben dem See her, der gegen meine Vaterstadt zu immer schmaler wurde. Immer deutlicher erkannte ich die finsteren Hänge des Jura und den schimmernden Scheitel des Montblanc. Ich weinte wie ein Kind. »Geliebte Berge! Herrlicher See! Wie freundlich grüßt ihr den Heimkehrenden! Hell leuchten die Berghäupter und blau und friedlich sind Himmel und See. Soll das Frieden bedeuten oder ist es nur, um mein Unglück noch mehr zu vertiefen?«
Ich fürchte, mein lieber Freund, daß ich Ihnen lästig falle, indem ich Sie mit den Schilderungen meiner Gefühle langweile. Aber es waren Tage des Glückes, die ich nie vergessen werde. Mein Heimatland, meine geliebte Heimat! Nur ein Sohn dieses Landes kann verstehen, was ich beim Anblick dieser Bäche, dieser Berge und vor allem des lieblichen Sees empfand.
Aber je näher ich Genf kam, desto mehr bemächtigten sich meiner wieder Gram und Furcht. Die Nacht sank hernieder, und als ich die Berge nicht mehr erkennen konnte, wurde es mir noch düsterer zu Mute. Wie ein unheimlicher Alb lag es auf meiner Seele und dunkel fühlte ich voraus, daß ich dazu bestimmt war, das unglücklichste aller Geschöpfe zu werden. Leider hatte ich das Richtige geahnt und mich nur insofern geirrt, als meine Befürchtungen und Vorahnungen nicht den hundertsten Teil all des Elendes darstellten, das mir beschieden war.
Es war vollkommen Nacht geworden, als ich vor den Mauern von Genf ankam. Aber die Tore der Stadt waren schon geschlossen und ich mußte mich deshalb bequemen, die Nacht in Socheron, einem kleinen Dörfchen eine halbe Stunde von Genf entfernt, zuzubringen. Da das Wetter noch günstig war und ich doch keine Ruhe gefunden hätte, beschloß ich, den Ort zu besuchen, wo mein armer Bruder Wilhelm ermordet worden war. Ich war genötigt, mit einem Boot über den See nach Plainpalais zu fahren. Während dieser kurzen Überfahrt bemerkte ich, daß Blitze um den Scheitel des Montblanc zuckten. In unheimlicher Hast zog ein Gewitter heran und ich begab mich sofort nach der Landung auf einen niederen Hügel, um von dort aus das Naturschauspiel zu beobachten. Es machte rasche Fortschritte. Bald war der Himmel von Wolken überzogen und schon klatschten die ersten schweren Tropfen hernieder. Dann öffneten sich rauschend die Schleusen über mir.
Durch die wachsende Finsternis, den heulenden Sturm schritt ich dahin, während in den Lüften der Donner entsetzlich brüllte. Er hallte zurück vom Salêve und von den Wänden des Jura und der Savoyer Alpen. Grelle Blitze blendeten meine Augen und der See erschien wie ein Meer von Feuer; bis dann das Auge sich wieder erholt hatte, wandelte ich in der pechschwarzen Finsternis dahin. Wie man es in der Schweiz häufig beobachten kann, waren Gewitter von verschiedenen Seiten aufgestiegen. Das stärkste hing gerade über der Stadt, über dem Teil des Sees, der sich zwischen Belrive und Copet ausdehnt. Ein anderes entlud sich mit schwachen Blitzen über dem Jura und ein drittes stand über dem Mole, einem spitzen Bergkegel östlich des Sees.
Eilig schritt ich dahin, während ich mich des ebenso herrlichen wie furchtbaren Schauspiels freute. Dieser tosende Kampf in den Lüften erregte mich; ich klatschte in die Hände und schrie laut: »Wilhelm, lieber Junge, das ist deine Leichenfeier, dein Totengesang!« Während ich dies ausrief, bemerkte ich im Dunkel, daß sich aus einem Gebüsch in meiner Nähe etwas herausschlich. Ich stand still und starrte gespannt nach der Stelle; ich konnte mich nicht getäuscht haben. Jäh zuckte ein Blitz auf – vor mir stand in seiner gigantischen Größe, in seiner übermenschlichen Häßlichkeit das Scheusal, der entsetzliche Dämon, dem ich das Leben gegeben. Was wollte er hier? War er vielleicht (ich schauderte bei dem Gedanken) der Mörder meines Bruders? Kaum war mir diese Möglichkeit durch den Kopf gefahren, da setzte sie sich schon als Gewißheit in mir fest. Meine Zähne klapperten und ich mußte mich gegen einen Baum lehnen. Die Gestalt huschte an mir vorbei und verschwand im Dunkel. Kein menschliches Wesen hatte Wilhelm getötet, er war es! Ein Zweifel erschien mir ausgeschlossen. Schon die Tatsache, daß mir der Gedanke überhaupt kam, war mir ein Beweis für seine Richtigkeit. Einen Augenblick dachte ich daran, den Dämon zu verfolgen und zu erwürgen; aber jeder Versuch wäre umsonst gewesen, denn im blendenden Lichte des nächsten Blitzes sah ich ihn an der senkrechten Wand des Mont Salêve, eines Berges, der sich südlich Plainpalais erhebt, hinaufklettern. Bald hatte er den Gipfel erreicht und war verschwunden.
Ich stand regungslos. Das Unwetter hatte aufgehört, aber es regnete noch immer und alles ringsum war in rabenschwarze Finsternis gehüllt. Vor meinem Geiste rollten sich in rascher Folge all die Ereignisse ab, die ich mit größter Mühe zu vergessen getrachtet hatte: die Vorarbeiten meiner unseligen Schöpfung, das Erscheinen der Kreatur an meinem Bett und ihr Verschwinden. Zwei Jahre fast waren seit jener Nacht verronnen, da das Werk meiner Hände zu leben begann. War das sein erstes Verbrechen? Leider hatte ich ein Scheusal auf die Welt losgelassen, das an grausigen Bluttaten seine Freude hatte. Hatte er denn nicht meinen Bruder getötet?
Ich kann nicht beschreiben, welche Angst ich in jener Nacht litt, die ich, durchnäßt und halb erfroren, im Freien verbrachte. Das Wetter ließ mich ganz gleichgültig; ich erschöpfte mich im Durchdenken all des Leides und der Verzweiflung, die mir noch bevorstanden. Was für ein Wesen hatte ich da in die Welt gesetzt? Mit starkem Willen und großer körperlicher Kraft hatte ich es ausgerüstet, die es nun zu blutigen Zwecken mißbrauchte, wie die Tatsachen bewiesen. Es war wie mein eigener Vampyr, der aus dem Grabe zurückkehrt, um alles zu zerstören, was ihm im Leben lieb war.