Der Schatten über Innsmouth - Kapitel 4 – 01
Es war ein sanfter Regen, der mich bei Tage in dem mit Gestrüpp bewachsenen Kanal aus meiner Benommenheit erweckte und als ich auf die Straße stolperte, war keine Spur irgendwelcher Fußstapfen im Schlamm zu sehen. Der Fischgestank war ebenfalls verschwunden. Innsmouth's verfallene Dächer und eingestürzte Türme thronten grau im Südosten, doch ich erspähte kein Lebewesen in den trostlosen Salzmarschen der Umgebung. Meine Uhr tickte noch und zeigte mir, dass es nach Mittag war.
Die Realität dessen, was ich durchgemacht hatte, lag sehr ungewiss in meinem Bewusstsein, doch ich fühlte, dass etwas abscheuliches dort im Hintergrund lag. Ich musste weg von diesem vom Bösen überschatteten Innsmouth --- und so begann ich meine verkrampften, müden Glieder in Bewegung zu setzen. Trotz Schwäche, Hunger, Abscheu und Verwirrung fühlte ich mich nach einer geraumen Zeit fähig zu gehen, so dass ich langsam entlang der matschigen Straße nach Rowley losging. Bis zum Abend war ich im Dorf, hatte eine Mahlzeit zu mir genommen und mich mit vorzeigbaren Kleidern ausgestattet. Ich erwischte den Nachtzug nach Arkham und hatte am nächsten Tag ein langes und ernstes Gespräch mit Regierungsbeamten dort. Ein Prozess, den ich später in Boston wiederholte. Die hauptsächlichen Ergebnisse dieser Gespräche sind der Öffentlichkeit verborgen geblieben --- und ich wünschte, um der Normalität wegen, dass es nichts weiter zu erzählen gäbe. Vielleicht ist es der Wahnsinn, der mich überkommt --- doch vielleicht greift nun ein größerer Schrecken --- oder ein großes Wunder --- nach mir.
Wie man sich vorstellen kann, gab ich die meisten meiner geplanten Ziele für den Rest meiner Reise auf --- jene malerischen, architektonischen und antiquarischen Zeitvertreibe auf die ich mich so sehr gestützt hatte. Ich wagte es auch nicht, das seltsame Schmuckstück anzusehen, das im Museum der Miskatonic University ausgestellt sein soll. Ich machte jedoch etwas aus meinem Aufenthalt in Arkham indem ich einige genealogische Notizen sammelte, für die ich schon lange mich interessiert hatte; sehr grobe und flüchtige Daten, das ist wohl wahr, doch würden sie mir später nützlich sein können, wenn ich die Zeit hätte, sie zu vergleichen und einzuordnen. Der Kurator örtlichen des Geschichtsvereins --- Mr. E. Lapham Peabody --- war sehr zuvorkommend in seiner Unterstützung und bekundete ungewöhnlich starkes Interesse als ich ihm erzählte, dass ich ein Enkel von Eliza Orne aus Arkham sei, die 1867 geboren, James Williamson aus Ohio im Alter von siebzehn Jahren geheiratet hatte.
Es schien, dass einer meiner Onkel mütterlicherseits vor vielen Jahren im Rahmen einer ähnlichen Untersuchung dort gewesen war und dass die Familie meiner Großmutter lokal ein Thema von einige Merkwürdigkeit war. Es hatte laut Mr. Peabody eine rege Debatte um die Hochzeit ihres Vaters Benjamin Orne direkt nach dem Bürgerkrieg gegeben, da insbesondere der Stammbaum der Braut rätselhaft war. Man hielt diese Braut für eine verwaiste Marsh aus New Hampshire --- eine Cousine der Essex County Marshes --- doch war sie in Frankreich großgezogen worden und wusste nur sehr wenig über ihre Familie. Ein Vormund hatte in einer Bostoner Bank Geld hinterlegt um sie und ihre französische Gouvernante zu unterhalten, doch der Name jenes Vormundes war den Arkhamern nicht bekannt und er war alsbald nicht mehr aufzufinden, somit übernahm die Gouvernante diese Rolle per Gerichtsbeschluss. Die Französin --- schon lange tot --- war sehr schweigsam gewesen und es gab jene, die behaupteten, sie hätte mehr erzählen können, als sie es getan hatte.
Doch das rätselhafteste war, dass niemand fähig war, die erfassten Eltern der jungen Frau --- Enoch und Lydia (Meserve) Marsh --- irgendeiner der bekannten Familien von New Hampshire zuzuordnen. Möglicherweise, so wurde suggeriert, war sie die leibliche Tochter irgendeines Marsh von Bekanntheit --- sie hatte immerhin die echten Marsh-Augen. Das meiste dieses Kopfzerbrechens fand nach ihrem frühen Tod statt, der mit der Geburt meiner Großmutter, ihres einzigen Kindes, eintrat. Da mich einige unangenehme Eindrücke mit dem Namen Marsh verbanden, fand ich die Neuigkeit, dass er zu meinem eigenen Stammbaum gehörte gar nicht begrüßenswert und ich war auch nicht erfreut als Mr. Peabody andeutete, dass ich selbst die Marsh-Augen besäße. Ich war jedoch dankbar für die Daten, die sich sicher als wertvoll erweisen würden und machte reichlich Notizen und Listen von Referenzen bezüglich der gut dokumentierten Orne-Familie.
Ich reiste direkt von Boston heim nach Toledo und verbrachte später einen Monat in Maumee um mich von jenem Martyrium zu erholen. Im September ging ich für mein letztes Studienjahr nach Oberlin und war von da an bis zum nächsten Juli beschäftigt mit dem Studium und anderen erbaulichen Aktivitäten --- an den vergangenen Schrecken nur durch gelegentliche Besuche von Regierungsleuten erinnert, die in Verbindung mit der Kampagne, die meine Gesuche und Beweise losgetreten hatte standen. Etwa Mitte Juli --- nur ein Jahr nach den Erlebnissen in Innsmouth --- verbrachte ich eine Woche bei der Familie meiner verstorbenen Mutter in Cleveland und verglich einige meiner neuen genealogischen Daten mit den verschiedenen Aufzeichnungen, Überlieferungen und Erbstücken dort um zu sehen, was ich für eine Verbindungskarte erstellen konnte.
Ich fand an dieser Arbeit nicht gerade großen Gefallen, denn die Atmosphäre des Williamson-Hauses hatte etwas Deprimierendes für mich. Es lastete dort ein morbider Druck auf allem und meine Mutter hatte Besuche bei ihren Eltern in meiner Kindheit nie angeregt, obwohl sie ihren Vater immer willkommen geheißen hatte, wenn er in Toledo war. Meine in Arkham geborene Großmutter war mir immer merkwürdig und fast furchterregend vorgekommen und ich glaube, ich hatte nicht getrauert, als sie verschwand. Ich war damals acht Jahre alt und man hatte sich erzählt, dass sie in Trauer um den Selbstmord meines Onkel Douglas, ihres ältesten Sohnes, davongezogen war. Er hatte sich nach einer Reise nach Neuengland erschossen --- zweifelsohne die selbe Reise durch die man sich beim Geschichtsverein von Arkham an ihn erinnerte.
Dieser Onkel hatte ihr ähnlich gesehen und ich hatte ihn ebenfalls nie gemocht. Irgendetwas an beider starrem, unverwandtem Blick hatte in mir vages, unerklärliches Unbehagen verursacht. Meine Mutter und Onkel Walter hatten nicht so ausgesehen. Sie waren nach ihrem Vater gekommen, obwohl der arme kleine Cousin Lawrence --- Walter's Sohn --- fast ein perfektes Duplikat seiner Großmutter gewesen war, bis ihn seine Krankheit in die permanente Abschottung einer Nervenklinik in Canton gezwungen hatte. Ich hatte ihn vier Jahre lang nicht gesehen, doch mein Onkel hatte einmal anklingen lassen, dass sein Zustand, geistig wie körperlich sehr schlecht war. Diese Sorge war vermutlich die Ursache für den Tod seiner Mutter zwei Jahre zuvor.
Der Cleveland-Haushalt bestand nun aus meinem Großvater und seinem verwitweten Sohn Walter, doch die Erinnerung an frühere Zeiten hing schwer über ihnen. Ich mochte den Ort nach wie vor nicht und versuchte, meine Nachforschungen so schnell wie möglich zu erledigen. Die Williamson--Aufzeichnungen und Überlieferungen wurden in großer Zahl durch meinen Großvater bereitgestellt, doch für Material zu den Ornes musste ich mich auf meinen Onkel Walter verlassen, der mir den Inhalt all seiner Akten inklusive Notizen, Briefen, Zeitungsausschnitten, Erbstücken, Fotos und Miniaturen zur Verfügung stellte.
Es war, während ich durch die Briefe auf der Orne-Seite ging als ich begann, eine Art Furcht vor meiner eigenen Abstammung zu entwickeln. Wie gesagt, hatten meine Großmutter und Onkel Douglas mich schon immer beunruhigt. Nun, Jahre nach ihrem Tod, blickte ich auf ihre Gesichter in Bildern mit einem spürbar stärkeren Gefühl der Abneigung und Befremdung. Ich konnte die Veränderung zunächst nicht nachvollziehen, doch allmählich begann sich meinem Unterbewusstsein eine Art fürchterlicher Vergleich aufzudrängen, obwohl sich mein Verstand selbst gegen den kleinsten Gedanken daran sträubte. Es war klar, dass der typische Ausdruck auf diesen Gesichtern mir etwas andeutete, das er vorher nicht angedeutet hatte --- etwas, das in mir nackte Panik hervorbringen würde, wenn ich zu offen daran dächte.
Doch den schlimmsten Schock erfuhr ich, als mein Onkel mir den Orne-Schmuck in einem Bankschließfach in der Stadt zeigte. Einige der Gegenstände waren schon zart und inspirierend genug, doch da war ein Kasten mit merkwürdigen alten Stücken, die von meiner mysteriösen Urgroßmutter stammten, die mein Onkel fast zögerlich vorzeigte. Sie waren, so sagte er, von groteskem, fast widerwärtigen Aussehen und waren nach seinem Wissen nie öffentlich getragen worden, obwohl meine Großmutter sie gerne angeschaut hatte. Diffuse Legenden um Unglück rankten sich darum und die französische Gouvernante meiner Urgroßmutter hatte gesagt, dass man sie in Neuengland nicht tragen sollte, obwohl man sie ohne weiteres in Europa anlegen könne.