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Youtube-Lektionen - April 2020, Fakten und wie man nicht mit ihnen umgeht | Falsche Gleichgewichtung

Fakten und wie man nicht mit ihnen umgeht | Falsche Gleichgewichtung

Es sind verwirrende Zeiten, in denen offenbar auch einige unserer engsten Vertrauten auf

einmal verwirrende Positionen vertreten.

»Der menschengemachte Klimawandel sei ja nur EINE Erklärung für das Klima der letzten

Jahre, die Sache mit der Evolutionstheorie sei ja sowieso sehr umstritten und das Coronavirus,

hah, ich hab da mal einen nicht-virologischen Arzt in einem schlecht ausgeleuchteten YouTube-Video

gesehen, der ist da ganz anderer Meinung!

Mittlerweile glaub ich wirklich gar nichts mehr!«

Es kommt immer wieder vor, dass die öffentliche Meinung zu einem wissenschaftlichen Thema

teilweise bis sehr stark von dem Konsens der tatsächlichen akademischen Experten auf diesem

Gebiet abweicht.

Aktuell, #InZeitenVonCorona, wird einem das immer wieder auf sehr bedrückende Weise deutlich.

Und eine der Hauptursachen für diese Abweichungen liegt dort, wo die allermeisten Menschen nunmal

ihr Bild für die Gesamtsituation herhaben: Bei den Medien.

Bei allen, von der Tagesschau über die Bild-Zeitung bis hin zu Ingos täglicher YouTube-Aluhut-Show.

Dieses Phänomen nennt man “Falsche Gleichgewichtung” in der englischen Fachsprache auch “false

balancing”.

Diese mediale Verzerrung ist so elementar, dass ich ehrlich gesagt ein bisschen schockiert

darüber bin, dass es nicht mal einen deutschen Wikipedia-Artikel dazu gibt und es für den

deutschen Begriff auf YouTube, und das ist wirklich wahr, nicht ein einziges Suchergebnis

gibt.

Wenn ich ein Phantasiewort wie “Salatkarambolage” eingebe erhalte ich stattdessen 24 Ergebnisse.

Und ALLE davon sind von ARTE. … ich weiß jetzt nicht was mir das sagen soll.

Auf jeden Fall ist das öffentliche Bewusstsein über dieses Thema zumindest im Internet viel

zu unterrepräsentiert, dafür, dass es jeden Mediennutzer betrifft.

Der kanadische Philosoph Marshall McLuhan veröffentlichte 1964 das Buch “Understanding

Media: The Extensions of Man” und ließ dort einen der Schlüsselsätze für die frühe

Medienwissenschaft fallen “The medium is the message” – “Das Medium ist die Botschaft”.

Das bedeutet simplifiziert, dass das, was die Rezipienten von einem Medieninhalt für

sich mitnehmen, maßgeblich von der Wahl des Mediums abhängt.

Ein bisschen so wie “Der Ton macht die Musik”.

Und das funktioniert heute noch genauso.

Die Wahl des Mediums und des Formats verändert unsere Wahrnehmung von den vermittelten Inhalten.

Falsche Gleichgewichtung beschreibt im speziellen, dass unter dem Vorwand der Objektivität Für-

und Gegensprechern bei einem bestimmten Thema die gleichen Mittel zur Verfügung stehen,

selbst wenn eine Seite die zehnfache Menge an wissenschaftlicher Evidenz hinter sich

hat.

Ein Beispiel: 97-98% der Klimaforscher bilden den Konsens um den menschengemachten Klimawandel,

haben jahrelange replizierbare und immer wieder überprüfte Forschungsergebnisse hinter sich,

während 2-3% dem hingegen nicht zustimmen und deren Belege entweder nicht replizierbar

oder fehlerhaft sind.

Jetzt kommt allerdings eine Talkshow auf die fantastische Idee, sich dem Thema “Sind

wir für den Klimawandel verantwortlich?”

zu widmen und lädt einen Klimaforscher der Befürworter und einen der Gegensprecher ein.

Sie setzt sie gleichberechtigt gegenüber, gibt ihnen im Rahmen der 45 Minuten inklusive

Werbepausen möglichst die gleiche Redezeit und am Ende ist das Fazit “Joa Leude, überraschenderweise

hat schon wieder niemand live im Fernsehen seine Meinung geändert, also werden wir abwarten

müssen wie sich die Situation entwickelt, schüß bis zum nächsten Mal.”

Und das ist ein riesiges Problem.

Denn durch diese Gegenüberstellung suggeriert das Format, das Medium eine Kontroversität,

die faktisch so nicht existiert.

Das Publikum, das sich nicht mit den genauen Zahlen und der Klimaforschung auseinandergesetzt

hat, wird von dieser Herangehensweise fehlinformiert, weil es den Eindruck eines 50:50 Verhältnisses

erweckt, wobei es doch am ehesten 97:3 sind.

Und klar, auch die Unterzahl könnte am Ende doch recht haben.

Aber gerade bei wissenschaftlichem Arbeiten bekommt man nicht mehr Zulauf, wenn man möglichst

häufig und dominant in Talkshows auftaucht, sondern wenn man Ergebnisse zur Hand hat,

die reproduzier- und nicht falsifizierbar sind.

Das ist das Schöne an der Wissenschaft; das alles sind keine Meinungen.

Kommt eine bessere Erklärung daher, nimmt man halt die.

Aber die muss es erstmal geben.

Um dem zu widersprechen müsste man verschwörungstheoretisch argumentieren, was leider aktuell viel zu

viele tun, und rein mathematisch würde sich eine Verschwörung mit derart vielen Eingeweihten

maximal ein paar Jahre geheim halten lassen.

Aber zurück zur falschen Gleichgewichtung.

Ironischerweise ist dieses Phänomen eine mediale Verzerrung, die auftaucht, weil man

als Produzent aktiv versucht mediale Verzerrungen zu verhindern.

Man will ja nicht voreingenommen sein, als Journalist hat man gelernt, auch die Gegenstimme

zu Wort kommen zu lassen, frei nach dem Pro- und Contra-Prinzip.

Und das ist auch richtig, aber bei wissenschaftlichen Themen kommt man so irgendwann in die Situation,

sich gezwungen zu fühlen, noch jemanden einzuladen, der einer wissenschaftlichen Grundannahme

widerspricht, weil der in seiner Telegramgruppe mal was von einer flachen Erde geredet hat.

Im schlimmsten Fall werden in einem Format Fakten und Meinungen gleichgesetzt, meist

mit dem Hintergedanken ein Thema kontroverser und damit interessanter gestalten zu können,

als es die Realität zulässt.

Die BBC hat beispielsweise 2014 beschlossen ihre Reporter Seminare besuchen zu lassen,

die ihnen beibringen sollen, wie sie dafür sorgen können, dass die Unterzahl in einem

Beitrag auch wie die Unterzahl wirkt.

Im besten Fall bekäme ein Konsens von 97% auch 97% Sendezeit in einem Beitrag.

Um das in unserem Beispiel etwas überspitzt darzustellen, müssten für die Legitimation,

einen Gegensprecher einladen zu dürfen, 32 weitere Fürsprecher auf der anderen Seite

sitzen, oder der Gegensprecher hätte in den 45 Minuten nur etwa 1 Minute und 20 Sekunden

Zeit selbst zu reden.

Und nur einfach “dagegen” zu sein, qualifiziert einen noch lange nicht dafür, von allen angehört

und ernst genommen zu werden.

Dann hätten wir in jedem Artikel und jeder Reportage noch mindestens einen verwirrten

Schwurbler sitzen, der etwas von Echsenmenschen und der Hohlerde fantasiert.

Und diese Aufmerksamkeit würde diesem Menschen wahrscheinlich einen viel zu großen Gefallen

tun.

Deswegen: eine öffentliche Diskussion gleicher Verhältnisse mit einer Person, die einen

Standpunkt vertritt, der bei weitem kein ebenbürtiges Verhältnis hat, ist falsche Gleichgewichtung

und lässt völlig unabhängig von dem Ausgang der Diskussion die Unterzahl größer und

legitimer wirken, als sie eigentlich ist.

Aus diesem Grund sind die ganzen Verschwörungsideologen auf YouTube, Facebook und Telegram ja so erpicht

darauf, mit anderen öffentlich zu diskutieren.

Würde man verneinen, wäre man in ihren Augen der ignorante Feigling, der sich keiner Debatte

stellen wolle.

Wenn man zusagen würde, gäbe man ihnen aber ein Format und ein Medium, das ihren teilweise

menschenfeindlichen Ansichten nähere Betrachtungswürdigkeit und allgemeine Legitimität zuspricht.

Und das wäre furchtbar schade.


Fakten und wie man nicht mit ihnen umgeht | Falsche Gleichgewichtung Facts and how not to deal with them | False Equal Weighting Факти і як з ними не працювати | Хибне рівновідсоткове зважування

Es sind verwirrende Zeiten, in denen offenbar auch einige unserer engsten Vertrauten auf

einmal verwirrende Positionen vertreten.

»Der menschengemachte Klimawandel sei ja nur EINE Erklärung für das Klima der letzten

Jahre, die Sache mit der Evolutionstheorie sei ja sowieso sehr umstritten und das Coronavirus,

hah, ich hab da mal einen nicht-virologischen Arzt in einem schlecht ausgeleuchteten YouTube-Video

gesehen, der ist da ganz anderer Meinung!

Mittlerweile glaub ich wirklich gar nichts mehr!«

Es kommt immer wieder vor, dass die öffentliche Meinung zu einem wissenschaftlichen Thema

teilweise bis sehr stark von dem Konsens der tatsächlichen akademischen Experten auf diesem

Gebiet abweicht.

Aktuell, #InZeitenVonCorona, wird einem das immer wieder auf sehr bedrückende Weise deutlich.

Und eine der Hauptursachen für diese Abweichungen liegt dort, wo die allermeisten Menschen nunmal

ihr Bild für die Gesamtsituation herhaben: Bei den Medien.

Bei allen, von der Tagesschau über die Bild-Zeitung bis hin zu Ingos täglicher YouTube-Aluhut-Show.

Dieses Phänomen nennt man “Falsche Gleichgewichtung” in der englischen Fachsprache auch “false

balancing”.

Diese mediale Verzerrung ist so elementar, dass ich ehrlich gesagt ein bisschen schockiert

darüber bin, dass es nicht mal einen deutschen Wikipedia-Artikel dazu gibt und es für den

deutschen Begriff auf YouTube, und das ist wirklich wahr, nicht ein einziges Suchergebnis

gibt.

Wenn ich ein Phantasiewort wie “Salatkarambolage” eingebe erhalte ich stattdessen 24 Ergebnisse.

Und ALLE davon sind von ARTE. … ich weiß jetzt nicht was mir das sagen soll.

Auf jeden Fall ist das öffentliche Bewusstsein über dieses Thema zumindest im Internet viel

zu unterrepräsentiert, dafür, dass es jeden Mediennutzer betrifft.

Der kanadische Philosoph Marshall McLuhan veröffentlichte 1964 das Buch “Understanding

Media: The Extensions of Man” und ließ dort einen der Schlüsselsätze für die frühe

Medienwissenschaft fallen “The medium is the message” – “Das Medium ist die Botschaft”.

Das bedeutet simplifiziert, dass das, was die Rezipienten von einem Medieninhalt für

sich mitnehmen, maßgeblich von der Wahl des Mediums abhängt.

Ein bisschen so wie “Der Ton macht die Musik”.

Und das funktioniert heute noch genauso.

Die Wahl des Mediums und des Formats verändert unsere Wahrnehmung von den vermittelten Inhalten.

Falsche Gleichgewichtung beschreibt im speziellen, dass unter dem Vorwand der Objektivität Für-

und Gegensprechern bei einem bestimmten Thema die gleichen Mittel zur Verfügung stehen,

selbst wenn eine Seite die zehnfache Menge an wissenschaftlicher Evidenz hinter sich

hat.

Ein Beispiel: 97-98% der Klimaforscher bilden den Konsens um den menschengemachten Klimawandel,

haben jahrelange replizierbare und immer wieder überprüfte Forschungsergebnisse hinter sich,

während 2-3% dem hingegen nicht zustimmen und deren Belege entweder nicht replizierbar

oder fehlerhaft sind.

Jetzt kommt allerdings eine Talkshow auf die fantastische Idee, sich dem Thema “Sind

wir für den Klimawandel verantwortlich?”

zu widmen und lädt einen Klimaforscher der Befürworter und einen der Gegensprecher ein.

Sie setzt sie gleichberechtigt gegenüber, gibt ihnen im Rahmen der 45 Minuten inklusive

Werbepausen möglichst die gleiche Redezeit und am Ende ist das Fazit “Joa Leude, überraschenderweise

hat schon wieder niemand live im Fernsehen seine Meinung geändert, also werden wir abwarten

müssen wie sich die Situation entwickelt, schüß bis zum nächsten Mal.”

Und das ist ein riesiges Problem.

Denn durch diese Gegenüberstellung suggeriert das Format, das Medium eine Kontroversität,

die faktisch so nicht existiert.

Das Publikum, das sich nicht mit den genauen Zahlen und der Klimaforschung auseinandergesetzt

hat, wird von dieser Herangehensweise fehlinformiert, weil es den Eindruck eines 50:50 Verhältnisses

erweckt, wobei es doch am ehesten 97:3 sind.

Und klar, auch die Unterzahl könnte am Ende doch recht haben.

Aber gerade bei wissenschaftlichem Arbeiten bekommt man nicht mehr Zulauf, wenn man möglichst

häufig und dominant in Talkshows auftaucht, sondern wenn man Ergebnisse zur Hand hat,

die reproduzier- und nicht falsifizierbar sind.

Das ist das Schöne an der Wissenschaft; das alles sind keine Meinungen.

Kommt eine bessere Erklärung daher, nimmt man halt die.

Aber die muss es erstmal geben.

Um dem zu widersprechen müsste man verschwörungstheoretisch argumentieren, was leider aktuell viel zu

viele tun, und rein mathematisch würde sich eine Verschwörung mit derart vielen Eingeweihten

maximal ein paar Jahre geheim halten lassen.

Aber zurück zur falschen Gleichgewichtung.

Ironischerweise ist dieses Phänomen eine mediale Verzerrung, die auftaucht, weil man

als Produzent aktiv versucht mediale Verzerrungen zu verhindern.

Man will ja nicht voreingenommen sein, als Journalist hat man gelernt, auch die Gegenstimme

zu Wort kommen zu lassen, frei nach dem Pro- und Contra-Prinzip.

Und das ist auch richtig, aber bei wissenschaftlichen Themen kommt man so irgendwann in die Situation,

sich gezwungen zu fühlen, noch jemanden einzuladen, der einer wissenschaftlichen Grundannahme

widerspricht, weil der in seiner Telegramgruppe mal was von einer flachen Erde geredet hat.

Im schlimmsten Fall werden in einem Format Fakten und Meinungen gleichgesetzt, meist

mit dem Hintergedanken ein Thema kontroverser und damit interessanter gestalten zu können,

als es die Realität zulässt.

Die BBC hat beispielsweise 2014 beschlossen ihre Reporter Seminare besuchen zu lassen,

die ihnen beibringen sollen, wie sie dafür sorgen können, dass die Unterzahl in einem

Beitrag auch wie die Unterzahl wirkt.

Im besten Fall bekäme ein Konsens von 97% auch 97% Sendezeit in einem Beitrag.

Um das in unserem Beispiel etwas überspitzt darzustellen, müssten für die Legitimation,

einen Gegensprecher einladen zu dürfen, 32 weitere Fürsprecher auf der anderen Seite

sitzen, oder der Gegensprecher hätte in den 45 Minuten nur etwa 1 Minute und 20 Sekunden

Zeit selbst zu reden.

Und nur einfach “dagegen” zu sein, qualifiziert einen noch lange nicht dafür, von allen angehört

und ernst genommen zu werden.

Dann hätten wir in jedem Artikel und jeder Reportage noch mindestens einen verwirrten

Schwurbler sitzen, der etwas von Echsenmenschen und der Hohlerde fantasiert.

Und diese Aufmerksamkeit würde diesem Menschen wahrscheinlich einen viel zu großen Gefallen

tun.

Deswegen: eine öffentliche Diskussion gleicher Verhältnisse mit einer Person, die einen

Standpunkt vertritt, der bei weitem kein ebenbürtiges Verhältnis hat, ist falsche Gleichgewichtung

und lässt völlig unabhängig von dem Ausgang der Diskussion die Unterzahl größer und

legitimer wirken, als sie eigentlich ist.

Aus diesem Grund sind die ganzen Verschwörungsideologen auf YouTube, Facebook und Telegram ja so erpicht

darauf, mit anderen öffentlich zu diskutieren.

Würde man verneinen, wäre man in ihren Augen der ignorante Feigling, der sich keiner Debatte

stellen wolle.

Wenn man zusagen würde, gäbe man ihnen aber ein Format und ein Medium, das ihren teilweise

menschenfeindlichen Ansichten nähere Betrachtungswürdigkeit und allgemeine Legitimität zuspricht.

Und das wäre furchtbar schade.