Hatice Schmidt über Gewalt auf dem Schulhof, Leben ohne Kopftuch und Berlin-Neukölln
Das Kopftuch abzunehmen war für mich 'n Wendepunkt.
Wenn du das so lange trägst, ist es ein Teil von dir.
Ich habe mich nackt gefühlt, verräterisch, ich hatte das Gefühl,
ich verrate die muslimische Community.
Ich bin Hatice Schmidt, in Berlin geboren und aufgewachsen.
Bin 32 Jahre alt und lebe jetzt seit 7 Jahren in Bielefeld.
Aber ziehe dieses Jahr wieder zurück nach Berlin.
Und mache jetzt YouTube seit fast 7 Jahren im Bereich Beauty.
Meine Eltern kommen aus der Türkei vom Schwarzen Meer.
Nach meiner Geburt sind meine Eltern nach Lankwitz gezogen.
Meine Familie war anders als die anderen Familien in Lankwitz.
Meine Mutter hat ein Kopftuch getragen,
und du hast nie 'ne Frau mit Kopftuch gesehen.
Dementsprechend warst du schon so ein Highlight
irgendwie in den Straßen.
Mein Vater war sehr viel arbeiten.
Er hatte halt die Werkstatt
und war dementsprechend einfach nicht zu Hause.
Ich erinnere mich in meiner Kindheit an meinen Vater eigentlich kaum.
Meine Mutter war einfach überfordert.
Wir Mädels waren eigentlich normale Kinder,
also wir haben nichts angestellt.
Einfach aus Angst vor meiner Mutter, weil wir sehr streng erzogen wurden.
Also nicht nur religiös, sondern auch Disziplin.
Wenn wir zu viel gelacht haben, denn Lachen war halt Spaß haben,
wir haben keinen Spaß, wir müssen Disziplin...
immer alles richtig und gut machen.
Dann hat sie mich zum Beispiel mit einer Stecknadel bestraft.
Dann hat sie mit einer Stecknadel in meine Handflächen gestochen.
Bei Minusgraden im Schnee hat sie meine Schwester und mich
auch ausgesperrt.
Das waren so die Erziehungsmethoden meiner Mama.
Ich habe viele Jahre mich damit beschäftigt,
woran das liegen kann, warum Kinder mit Migrationshintergrund
so viel anders erzogen werden.
Ich denke, dass die Menschen einfach Verlustängste haben.
Angst, ihre Kultur zu verlieren in einem fremden Land,
was sie nicht kennen.
Dass sie deswegen hier darauf so pochen, diese Werte beizubehalten,
die sie aus ihren Ländern mitgebracht haben.
Integration wollen sie auch und sagen, natürlich,
meine Kinder sollen eine bessere Schulbildung haben
als wir sie hatten.
Ein besseres Leben haben. Deswegen sind sie auch so streng.
- Also, ich hätte alle meine Töchter Medizin gewünscht.
- Ich habe es ja fast... als Krankenschwester.
Ich war ganz nah dran.
- Medizin. Also, Medizin... Ich kann viele Sachen reparieren.
Aber das nutzt nichts für die Menschheit.
Wer Medizin kann, kann Tausende Menschen helfen.
Das war immer mein Ziel, aber habe ich nicht geschafft. Ist auch egal.
Vielleicht sollte es so sein.
Ich bin stolz, was sie geschafft hat. Sehr stolz.
- Ich versuche, die Dinge in meinem Leben, die um mich herum passieren,
zu verstehen.
Und ich verstehe, aus was für einer Situation meine Eltern kommen.
Die hatten keine Bildung.
Die mussten mit 4 Jahren auf dem Feld arbeiten.
Da ist nichts mit "komm mal her, Mäuschen, alles wird gut und fein."
Nee, da war einfach Strenge und Disziplin,
um diese Familie am Leben zu erhalten.
Klar wäre es schön gewesen, noch behüteter großgeworden zu sein.
Aber nein, das war mein Leben, ich akzeptiere das, ich liebe es.
Möchte es auch nicht tauschen.
Ja, ich liebe meinen Papa über alles.
Sind die besten Eltern der Welt für mich.
- Drück den Papa nicht zu viel, der kippt nachher um.
Dann hast du gar keinen Papa mehr.
- Ich war 12 Jahre alt, als wir nach Neukölln gezogen sind.
Für mich war das natürlich ein Kulturschock.
Weil ich dann das erste Mal gemerkt habe,
was es überhaupt ist, Ausländer zu sein.
Das war ein anderer Kontrast.
Es waren so viele Ausländer in Neukölln,
dass ich einfach schockiert war.
Und Neukölln war zu der Zeit nicht so sauber und hipp,
wie es heute ist, sondern es war einfach richtig dreckig, räudig.
Es war für mich einfach so dieser soziale Abstieg
von dem schönen Lankwitz in dieses Neukölln.
Aber hier in Neukölln waren wir immer die Deutschen.
In Lankwitz war halt alles gutbürgerlich,
man nimmt auch gewisse Dinge an.
Wir sind auch wochenends immer in die Moschee gegangen.
Da waren alle Leute aus Wedding, Moabit, Neukölln, Kreuzberg.
Die meinten auch immer, boah, ihr seid wie Deutsche.
Ihr seid wie Deutsche. Ihr redet schon wie die Deutschen.
So haben die es immer uns gesagt.
Weil wir zu deutsch waren für die Türken, die hier gelebt haben.
Ich erinnere mich sehr gut an meinen ersten Schultag.
Ich stand allein auf dem Schulhof. Da kam ein Mädchen auf mich zu.
Und die so: siehst du diese Mädchen da drüben?
Und hat mit dem Finger auf eine Gruppe Mädchen gezeigt.
Ich so: ja. Sie so: wir werden dich schlagen.
Bin ich natürlich total in Panik ausgebrochen, wusste nicht,
was auf mich zukommt. Das war mein Schulalltag sozusagen.
Dann musste ich für mich entscheiden,
hab mir das nicht gefallen lassen
und bin dann in diese Gruppe Mädchen gerutscht,
die dann anderen aufs Maul gehauen hat.
Wir haben uns in allen Parks getroffen hier mit anderen Schulen,
und haben uns einfach geprügelt.
Das war mein Schulalltag.
Das war die Hauptschule in Berlin-Neukölln.
Mein Wendepunkt war 8.Klasse, 8. oder 9.Klasse.
Ich erinnere mich, wir waren auf dem Schulhof.
Und mein bester Freund hat sich
mit einem Mädchen aus der Schule angelegt.
Einfach verbal. Hat sie Schlampe genannt.
Er hat das an dem Tag zu der falschen Person gesagt,
denn sie gehörte zu einer großen arabischen Familie hier in Berlin.
Als er dann zu ihr gesagt hat, halt die Fresse, du Schlampe,
das muss wirklich innerhalb von ein paar Minuten gewesen sein.
Sie muss ihren Bruder angerufen haben.
Dann kam halt ein Typ aus den Büschen gerannt.
Mit so einem Messer.
Und dann hat der einfach auf meinen Freund eingestochen.
Die Messerstecherei hat mein Freund überlebt.
Das war für mich der Punkt, wo ich gesagt habe,
den Scheiß will ich nicht mehr.
Ich habe ja ein Kopftuch getragen von der 7. Klasse bis zur 10.,
sprich, bis zu meinem Abschluss.
Als Ausländermädchen mit Kopftuch
mit einem sehr schlechten Schul- abschluss sind die Chancen: null.
Ich habe mich als Hebamme beworben, immer Absagen, Absagen, Absagen.
Irgendwann hatte dann eine Hebammenschwester angerufen
und meinte, hey, pass auf, ich gebe dir einen Tipp,
bewirb dich doch mal als Krankenschwester.
Dann habe ich mich beworben an ganz vielen Krankenpflegeschulen
hier in Berlin. Absagen, Absagen, Absagen.
Dann habe ich mich gefragt,
vielleicht liegt es auch am Kopftuch?
Vielleicht kriege ich diesen Job nicht, weil ich einen Hijab trage.
Also bin ich in die Karl-Marx-Straße.
Hab mein Kopftuch abgenommen in der Kabine,
noch mal Bewerbungsfotos ohne Kopftuch.
Habe dieselbe Bewerbung einfach ausgedruckt.
Das Foto ohne Kopftuch draufgeklebt
und hatte 2 Tage später ein Einstellungsgespräch.
Ich musste jetzt entscheiden, okay, entweder nimmst du deinen Hijab ab.
Weil du standhaft bist und du überzeugt bist.
Oder du bleibst dein Leben lang arbeitslos.
Für mich war dann der Job auf jeden Fall wichtiger.
Ich wollte was aus mir machen.
Ich wollte mehr, ich musste weitermachen.
Ich wollte nicht
an einem Kopftuch in dieser Gesellschaft scheitern,
sondern wollte einfach was aus mir machen.
Und das war dann der Punkt, ich musste mein Kopftuch abnehmen.
Ich habe auch einen Teil gefühlt von meinem Glauben abgelegt.
Was ja gar nicht so war, im Gegenteil, ich hab ja geglaubt.
Aber so etwas abzugeben, das ist einfach ein anderes Gefühl.
Ich hab mich so beobachtet gefühlt.
Ich dachte echt in der S-Bahn, jeder guckt mich an.
Aber keiner weiß das ja. Aber so fühlst du dich halt.
Bielefeld, musst du dir vorstellen, ist super rich. Super clean.
Super German. Hahaha.
Eigentlich die perfekte Stadt, eigentlich das,
was ich mir immer erträumt hab, als ich in Neukölln geleb hat.
Raus aus diesem Dreck, dieses kaputte.
Ich wollte einfach ein gutes Leben haben.
Das hatte ich dann in Bielefeld.
Ceran-Kochfeld, Hammer.
Saubere Wohnung, hahaha, 'nen deutschen Mann,
der hat gutes Geld verdient, gearbeitet.
Ich hab mir ein Jahr Auszeit genommen,
um zu gucken, was willst du machen?
Ich wollte nicht mehr in meinen Beruf der Krankenschwester zurück
wegen des Schichtdienstes.
Und dann bin ich in ein tiefes Loch gefallen.
In ein richtig dunkles Loch. Und dachte mir so, ich will zurück.
Ich will einfach zurück.
Da habe ich erst gemerkt, wie bunt überhaupt Neukölln ist.
Habe gemerkt, was hier eigentlich alles ist.
Neukölln ist mein Zuhause.
Für mich ist Neukölln alles, was mich ausmacht.
Irgendwie auch als Mensch.
Ich finde, Neukölln ist irgendwie dieses Kaputte,
aber heute auch so Glamour.
Und das beschreibt mich auch.
Dieses kaputte Glamour. Ich liebe Neukölln.
Ich liebe die Vielfalt, ich liebe das Essen.
Hier sind meine Eltern, hier ist mein Zuhause.
Ich bin dankbar für jede schlechte Erfahrung, die ich gemacht habe.
Das hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.
Und ich bin richtig stolz auf mich.
Ich ziehe manchmal selbst meinen Hut vor mir und bin einfach nur dankbar.
Untertitel: ARD Text im Auftrag von FUNK, 2019
Das waren meine Schlüsselmomente in meinem Leben.
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aus eurem Leben mit mir.
Ich würde super gerne lesen, was bei euch der Moment war.
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Ich hoffe, dieses Video hat euch gefallen.
Abonniert "Germania". Bis bald.