So weit die fusse tragen (1)
Dass die Hölle so schön sein kann!Das Schreien am Zug entlang ist nicht weniger laut als sonst und die Türen der Waggons werden nicht freundli-cher aufgestoßen. Nach sechsundzwanzig Tagen hat das Ohr unterscheiden gelernt, was für Kernstücke der Schwall rauer russischer Worte hat, und nach dem bloßen Klang verstehen die Männer, deren Leiber beim Aufreißen der Tür durch die Öffnung quellen, dass sie fürs Erste die To-ten herauszulegen haben, damit man sie abbucht, dass sie Schnee in den Kochtopf fassen dürfen und dass es erlaubt ist, von dem Holzstoß da drüben zu nehmen, zwar nur ein paar Arme voll für jeden Waggon, aber eben doch Holz, nachdem seit neun Tagen der Kanonenofen nicht mehr angeheizt werden konnte.Vor dem Rechteck der offenen Tür liegt ein sichtig kal-ter Tag, der mild zum Abendwerden eingerötet ist.In der Gleiswirrnis eines Verschiebebahnhofs hat der Zug angehalten.Der Weg in die Ewigkeit hat seine festen Stationen, die schon mit in die Ewigkeit eingeplant sind und keine verlo-rene, aber auch keine gewonnene Zeit mehr kennen, ob der Zug drei Stunden oder vier Tage hier verhält. Diese Station nun heißt Omsk.Der Tag der Fahrt ist der sechsundzwanzigste. Aus den Waggons, die der Tod seit dem letzten Anhalten besucht hat, werden die Leichen in den kalten Tag hinausgehoben und an die Böschung eines etwas höher liegenden Nachbargeleises gelegt. Holz wird hereingenommen. Die Handreichungen sind gewohnt und eingelernt. Aber die Stadt jenseits der Toten und der Geleise ist schön: eine von romantisieren-den Adventzeichnern auf rosaroten Abendhimmel gemalte und mit Schneebehang überzuckerte Silhouette von Tür-men und Hochhäusern.Ein himmellanger Mann, den Arm voll Holz, wie es eben zugeteilt wurde, macht sich den linken Arm frei, um auf die Stadt zu deuten.»Herrgott! Ist das schön!« »Soweit hier überhaupt etwas schön sein kann.« »Die Türme. Die Kirchen.«Leibrecht nimmt dem Himmellangen das Holz ab und wirft es in den Waggon. »Die Kirchen scheinen es dir be-sonders angetan zu haben, Forell. Einmal fromm gewesen? Oder wieder auf dem Weg, fromm zu werden? Der Holz-stapel, wenn man es richtig betrachtet, ist schöner. Wollen wir es nicht noch einmal versuchen?« »Ich bin zu groß«, lacht Forell. »Mich kennen sie.« Aber im Trubel der Holz-ausgabe versucht er es noch einmal, stellt sich an und will von Neuem in den Stapel greifen, als er an der Reihe ist. Da schreit der Pelzvermummte aber auch schon auf, und selbst wenn Forell nicht ein Wort Russisch verstünde, müsste er aus der reichen Wahl farbiger Schimpfworte das Ergebnis ziehen, dass der Mann ihm das Holz aus der Hand schlagen wird, wenn er es wagen sollte, für den WaggonNummer acht ein zweites Mal Holz zu nehmen.»Der Bursche im Pelz ist auf seine Art auch fromm«, lä-chelt Leibrecht, als Forell, enttäuscht und sichtlich kleiner geworden, leer an den Waggon zurückkommt. »Er hat schöne Worte und Namen aus alten frommen Zeiten ge-funden, als er dich abfertigte. Trotzdem – du hast recht. Was hier an Türmen geboten wird, ist herrlich.« »Ich bin meine Kindheit lange im Schatten von Kirchtürmen ge-laufen. Papa war aus Liebhaberei ein eifriger Botaniker, der Sonntag um Sonntag durch die Berge zog und uns Kin-dern, die wir unentwegt mit ihm gehen mussten, zäh und illustrativ beizubringen wusste, wo die gleichen Blumen aus anderem Gestein völlig andere Farben ziehen und wo die Berge ihre herrlichsten Kirchen haben. Kennst du Ettal?«»Ein paarmal durchgefahren.« »Die Kirche solltest du ken-nen. Ich weiß heute nicht mehr, ob sie so schön und groß-artig ist, wie sie mir als Kind erschienen ist. Darum möchte ich einmal wieder in dem Rundbau unter der Kuppel ste-hen.« »Und danken für glückliche Heimkehr?«Forell macht die Augen eng, als Leibrecht so leichthin und wie im Spott von der Heimkehr spricht, die es für kei-nen mehr gibt. »Ich möchte einmal noch unter dieser Kup-pel stehen und mich umsehen oder umhören. Das hat Papa mir beigebracht in der Ettaler Klosterkirche. Der Raum hat keine Akustik. Man ist allein, wo man auch steht, und es kommt anstatt eines vollen Tones immer nur ein Wispern, ein Bruch von Wort und Musik an den Men-schen. Mit Papa möchte ich dort sein.« »Jetzt gib dich mit Omsk zufrieden! An den Verhältnissen gemessen ist es auch schön. Und was deinen Vater betrifft, so ist er, wenn ich mich aus deinen Erzählungen recht erinnere, schon ge-storben.« »Vierzig, im Frühjahr. Er wird mir fehlen mit sei-nen Erklärungen. So bin ich eben dann allein.« »Komm, Forell! Komm! Nach sechsundzwanzig Tagen im geschlos-senen Waggon erträgst du die kalte Luft nicht mehr.« »Stei-gen wir eben ein!« »Ich kenne das, mein Lieber. Genau so hat es mit Emmesberger angefangen. Der hat von Äpfeln auf dem Schlafzimmerschrank geträumt. Bei dir sind es Kirchen. Für deine Frömmigkeit gebe ich nicht allzu viel. Aber aus solchen Träumen kommen dann die großen Dummheiten, wenn die Zeit dazu bleibt und das Gewis-sen Frostschäden abbekommen hat. Emmesberger hat mit den Äpfeln auf dem Schrank angefangen. Dann ist er tage-lang mit Danhorn zusammengesteckt und hat sich erklä-ren lassen, wie weit die mandschurische Grenze an der knappsten Stelle von der Bahn entfernt ist. Er ist die Sor-gen um die Flucht los und darf nun ewig Äpfel vom Schlaf-zimmerschrank essen, friert nicht mehr, hungert nicht mehr, braucht sich nicht mehr die Berge um den Baikalsee erklären zu lassen, und wenn es ihn nicht inzwischen völlig zugeschneit hat, lehnt er noch so im Schnee, wie wir ihn am Tobol aus dem Wagen gelegt haben: den starr gefrore-nen rechten Arm hinter dem Kopf, wie wenn er schlafe oder halbwach von den Äpfeln träume.«»Lass den guten Emmesberger in Frieden! Er war eine treue Seele. Aber so einer kommt im Ernstfall keine fünf-zig Kilometer weit.« »Du, meinst du, kämest weiter?«Forell hat ein kaltes, eckiges Gesicht bekommen. Der rosarote Abend ist graugelb geworden und leuchtet Forells Gesicht aus, dass es nur noch Wachs ist. »Dass es keinen Sinn hat, weiß ich so gut wie du. Aber es hat keinen Sinn, mich mit Emmesberger abschrecken zu wollen. Emmes-berger ist tot. Er war ausgelaugt und leer. Die Kälte hatte es leicht mit ihm. Die plötzlich aufgeflackerte Hoffnung hatte ja schon etwas an sich von der Euphorie, die zuwei-len einem Sterbenden noch neues Leben vorgaukelt. Mit Toten kannst du mich nicht erschrecken. Ich habe ihn sel-ber hinausgetragen und in den Schnee gelegt. Gut, dass du mich daran erinnert hast.« Forell nimmt den um einen Kopf kleineren Leibrecht heftig am Arm. »Man müsste an einem Tag, der nicht zu kalt ist, den Mut zum Sterben ha-ben. Es ist ein gefährliches Spiel. Ich weiß. Ganz wenig Chance. Die Toten aber haben ihre Chance in ihrer Be-deutungslosigkeit. Sie werden aus der Liste abgeschrieben, und wenn sie einmal ausgebucht sind, kommt niemand mehr auf den Gedanken, sie zu suchen. Es bleibt nur die Frage: Wie lang hält einer es aus, so als Toter im Schnee zu liegen, wenn der Zug zwei, drei, vier Stunden stehen bleibt? Zwei Stunden getraue ich es mir auszuhalten. Län-ger nicht. Länger geht es unmöglich. Ganz erstarren darf ich ja nicht. Komm, Leibrecht! Wir steigen ein!«Leibrecht und Forell helfen sich gegenseitig hinauf.Es riecht nach Weiterfahrt.Die Begleitsoldaten sind wieder mürrisch und benützen die quer in die Faust genommene Maschinenpistole wie der Croupier einer Spielbank seinen Rechen. Der Gewin-ner bekommt zugeschoben, was ihm zusteht. Geldeswert oder wrackige Menschen ohne Wert. Die Gefangenen, grau quellende Masse, müssen förmlich zusammengepresst werden, damit die Tür zu schließen ist.Als aber die Masse wieder wie Teig in einer Kastenform zurechtgedrückt ist, schließt niemand die Tür. Man wird also erst später weiterfahren. Erst in einer Stunde. Oder erst morgen früh. Vielleicht gar erst nach Tagen. Warum auch beeilen? Keiner, wie sie hier eingepfercht sind, hat weniger als fünfundzwanzig Jahre vor sich, und jede Stunde jeder Tag, jede Woche Fahrt und Halten und Herumgesto-ßenwerden geht von den fünfundzwanzig Jahren ab, frei-lich nicht anders als ein Löffel Salz vom Meer. Man hat nicht zugehört, was Forell und Leibrecht gesprochen ha-ben. Es war nur so viel zu hören, dass sie Omsk im Abend-licht schön gefunden und von der Innigkeit heimatlicher Kirchen geplaudert haben. Forell und Kirchen!In den langen Tagen der Fahrt hat man die Zeichen deu-ten gelernt, die darauf hinweisen, dass es wieder einmal Es-sen geben wird. Sonst wären die Türen längst geschlossen worden. Von dort herüber, wo der Himmel sich nun aus dem Graugelb algengrün verfärbt hat, sodass die Türme und Hochhäuser wie vor einem Spiegel aus Wasser ste-hen, kommt eben noch genug Licht, um die Gesichter in Waggon acht matt zu erhellen, seltsam angespannte Ge-sichter, wie wenn sie auf einen Prediger hören würden, der aus der Nacht auf sie einspricht. Selbst dann bleiben die Gesichter so gleichförmig angespannt und starr, als die Füße, um sich zu erwärmen, zu stampfen beginnen. Einer fängt an. Nach ein paar Minuten stampfen sechsundacht-zig Männer, die Kälte aus den erschlaffenden Beinen zu stoßen. Sie wissen gar nicht in Waggon acht, dass dieses Stampfen vorn begonnen und sich von Wagen zu Wagen fortgepflanzt hat, als wäre Befehl dazu gegeben worden. Ir-gendwo vorne wird dann etwas Lautes geschrien, vielleicht weil den Transportoffizier der Lärm vergrämt hat, und wie vorhin das Stampfen von vorn nach rückwärts durch den Zug gegangen ist, so kommt nun mit einem schleifenden Kriechen vom Platz der Lokomotive her das Schweigen. Dann stehen die Gesichter wieder starr, wie wenn alle hochen müssten, aber was wie Andacht und Versunkenheit erscheint, ist das gebannte Warten auf ein hörbares Zei-chen, dass es heute endlich wieder Kartoschki geben wird.Um neun am Abend geschieht es wirklich.Ein Eimer voll Kartoffeln, nicht ganz gar gekocht wie immer, schon beinahe kalt wie immer, wird mit viel Lärm zur Waggontür hereingeschüttet, durch die Tür auf den Boden. Was an der Tür steht, weicht zurück, nicht aus Ehrfurcht vor dem Essen, das sonst zertreten werden könnte, sondern aus Misstrauen. Es könnte ja einer, wenn man sich nicht auf diese Methode geeinigt hätte, im Dun-kel schnell zugreifen und eine Kartoffel beiseiteschaffen, für sich allein. Auf Leibrecht liegt die Verantwortung, dass richtig und gerecht verteilt wird. Weil er ein Mann ist, der zu gar nichts zwingen kann, hat man ihn gezwungen, das zu übernehmen, denn er hat eine Art, zu befehlen, dass es wie eine Bitte klingt, die auch den Rücksichtslosesten zur Rücksicht veranlasst.Leibrecht ist Bankbeamter und könnte seinem Aussehen nach vielleicht ein Nachtportier eines mäßig großen Ho-tels sein. Als Leutnant ist er aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt. Aus diesem zweiten Krieg kehrt er nicht mehr heim, denn er wurde, für andere Aufgaben nicht recht brauchbar, zu den Landesschützen eingezogen, hat sich brav und bieder, als das Landesschützendasein noch in der Etappe vor sich ging, auf gemächlich rollender Kugel zum Hauptmann emporgedient und ist beim großen Be-schuldigen in der Lubljanka zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt worden, weil man ihn dafür verantwortlich machte, dass sein Bataillon unter anderem auch gefangene Russen bewacht hatte. Einundfünfzig ist er, und sein blüh-weißes Haar sieht auch jetzt noch gepflegt aus. Dass er sechsundsiebzigjährig diese jetzt schon so mühevolle Reise in umgekehrter Richtung noch einmal machen soll, will ihm ungereimt erscheinen. Seine Gewalt über den Wag-gon bezieht er aus jener Güte, wie sie zuweilen den Einfäl-tigen eigen ist. An Intelligenz und gereifter Klugheit fehlt es ihm keineswegs, doch verbirgt sich dies alles hinter der alles und nichts wissenden Flächigkeit seines Nachtpor-tiergesichts. Niemand glaubt ihm seine Magenbeschwer-den, die ihm das Ansehen eines opferbereiten Heiligen eingetragen haben. Sein Magen kann diese halbgaren und halbkalten Kartoffeln nicht vertragen, doch sehen die an-deren in dem häufigen Verzicht auf die Hälfte seiner Ra-tion eine Geste schönen Edelmuts. Vor allem aber weiß je-der, dass Leibrecht nie eine Kartoffel unberechtigt in die eigene Tasche stecken wird. Seine Einfalt ist nichts anderes als ein ans Pedantische grenzender Hang zur Rechtlichkeit, wo sie in Zahlen ausgedrückt werden kann.