Gilbert Keith Chesterton: Das blaue Kreuz Teil 2
Das blaue Kreuz Teil 2
Ihre Fahrt führte sie jetzt zwischen kahlen Mauern hin wie durch Tunnels, Straßen mit wenigen Lichtern und selbst mit wenigen Fenstern. Straßen, die überall aus den kahlen Rückwänden gebildet zu sein schienen. Die Dämmerung nahm zu und es war für die Londoner Polizisten nicht leicht, festzuhalten, nach welcher genauen Richtung sie schritten. Der Inspektor jedoch war so viel wie sicher, daß sie möglicherweise auf irgendeinen Teil der Hampstead-Heide stoßen würden. Unerwartet unterbrach ein hervortretendes, gasbeleuchtetes Fenster wie eine Blendlaterne das blaue Zwielicht und Valentin blieb einen Augenblick vor einem kleinen zierlichen Zuckerbäckerladen stehen. Nach einer Sekunde Zögerns trat er ein. Inmitten der bunten Farben der Konditorei seinen vollen Ernst bewahrend kaufte er mit einer gewissen Sorgfalt dreizehn Schokoladezigarren. Offensichtlich bereitete er eine Anrede vor, doch bedurfte es derselben nicht.
Eine steife ältliche Jungfer im Laden hatte rein automatisch prüfend seine elegante Erscheinung betrachtet; als sie jedoch die Türe hinter ihm von der blauen Uniform des Inspektors verstellt sah, schienen ihre Augen aufzuwachen:
»O,« sagte sie, »wenn Sie wegen des Paketes gekommen sind, das habe ich schon weggeschickt.«
»Paket!« wiederholte Valentin, und nun war es an ihm, fragend zu blicken.
»Ich meine das Paket, das der Herr hier gelassen hat – der Geistliche.«
»Ums Himmels willen!« rief Valentin und beugte sich vorwärts, zum ersten Male wirkliche Begierde auf dem Gesichte. »Ums Himmels willen, sagen Sie uns genau, was vorgefallen ist!«
»Nun,« erzählte die Frau etwas unsicher, »die Geistlichen kamen vor einer halben Stunde herein und kauften etwas Pfefferminz und plauderten ein wenig, und dann gingen sie weg, der Heide zu. Aber eine Sekunde darauf kommt der eine von ihnen in den Laden zurück und sagt: ›Habe ich ein Paket liegen gelassen?‹ Well , ich sah überall nach und konnte keines finden; somit sagt er: ›Es tut nichts, aber wenn es zum Vorschein kommt, schicken Sie es, bitte, an diese Adresse‹ und hinterließ mir die Adresse und einen Schilling für meine Mühe. Und wirklich, obwohl ich geglaubt hatte, ich hätte überall nachgesehen, fand ich, daß er ein Paket aus braunem Papier liegen gelassen hatte, und so schickte ich es dorthin, wo er gesagt hatte. Ich erinnere mich nicht mehr der Adresse, es war irgendwo in Westminster. Aber nachdem das Ding so wichtig schien, dachte ich, vielleicht sei die Polizei darum gekommen.«
»Ist sie auch,« sagte Valentin kurz. »Ist die Hampstead-Heide weit von hier?«
»Geradeaus fünfzehn Minuten.« erwiderte die Frau. »und Sie kommen direkt hinaus ins Freie.«
Valentin sprang zum Laden hinaus und begann zu laufen und die anderen Polizisten folgten ihm in widerwilligem Trapp.
Die Straße, durch welche sie kamen, war so enge und in Schatten gehüllt, daß, als sie unerwartet unter den weiten Himmel hinaus ins Freie kamen, es sie überraschte, den Abend noch so hell und klar zu finden. Eine vollendete Kuppel von Pfauengrün senkte sich in Gold zwischen den schwärzlichen Bäumen und den dunkelvioletten Farnen hernieder. Die glühendgrüne Färbung war gerade tief genug, wie Kristallpunkte einen oder zwei Sterne hervorzuheben. Alles, was von Tageslicht übriggeblieben war, lag in einem goldenen Schimmer über dem Rande von Hampstead und jener volkstümlichen Mulde, die den Namen Heidetal trägt. Die Sonntagsausflügler, welche in dieser Gegend umherschweifen, hatten sich noch nicht ganz verlaufen; unförmlich saßen einige Paare auf Bänken und hier und da kreischte noch in der Ferne in einer der Schaukeln ein Mädchen. Rings um die erhabene Niedrigkeit des Menschen vertiefte und erhöhte sich die Pracht des Himmels und auf dem Abhang stehend und über das Tal hinwegblickend erspähte Valentin, was er suchte.
Unter den dunklen und sich verlierenden Gruppen dieser Ferne war eine besonders schwarz, die sich nicht verlor – eine Gruppe von zwei Gestalten in geistlicher Kleidung. Obwohl sie so klein schienen wie Insekten, konnte Valentin doch sehen, daß dieeine viel kleiner als die andere war. Obwohl die andere die Haltung eines Studierenden und ein unauffallendes Benehmen zeigte, konnte er sehen, daß der Mann gut sechs Fuß hoch war. Er preßte die Zähne aufeinander und rannte, ungeduldig seinen Stock schwingend, weiter, während sich so die Entfernung erheblich verringert hatte und die beiden schwarzen Gestalten wie in einem umfangreichen Mikroskop an Größe zunahmen, hatte er etwas entdeckt, was ihn überraschte und was er dennoch irgendwie erwartet hatte. Wer immer der lange Priester sein mochte, bezüglich der Identität des kürzeren konnte kein Zweifel bestehen. Es war sein Freund aus dem Harwichzuge, der untersetzte kleine Curé von Essex, den er wegen seines braunen Papierpaketes gewarnt hatte.
Soweit also fügte sich schließlich alles ganz vernünftig ineinander. Valentin hatte durch seine Erkundigungen am Morgen erfahren, daß ein Father Brown von Essex ein silbernes Kreuz mit Saphiren, eine Reliquie von hohem Werte, mit sich gebracht hatte, um es einigen der fremden Geistlichen auf dem Kongresse zu zeigen. Dies war unzweifelhaft das »Silber mit blauen Steinen«; und Father Brown war zweifellos der kleine Grünschnabel vom Zuge. Nun lag nichts Wunderbares in der Tatsache, daß, was Valentin herausgefunden, hatte, auch Flambeau herausfinden konnte. Es lag auch nichts Wunderbares in der Tatsache, daß, wenn Flambeau von einem Saphirkreuze hörte, er es zu stehlen versuchenwürde; das war vielmehr das natürlichste von allen natürlichen Dingen. Und ebensowenig lag etwas Wunderbares in der Tatsache, daß Flambeau mit so einem einfältigen Schafe, wie es der Mann mit seinem Regenschirm und den Paketen war, seine eigenen Wege ging. Gehörte dieser doch zu jener Sorte, daß ihn der Nächstbeste an einem Bindfaden bis zum Nordpol geschleppt hätte; es lag also nichts Überraschendes darin, daß ein Schauspieler wie Flambeau in der Verkleidung eines Priesters ihn nach der Hampstead-Heide schleppen konnte. Soweit schien das Verbrechen klar genug, und während der Detektiv den Priester ob seiner Hilflosigkeit bemitleidete, empfand er etwas wie Verachtung für Flambeau, daß dieser sich dazu hergab, sich ein so leicht zu täuschendes Opfer auszusuchen. Doch als Valentin alles überdachte, was sich inzwischen ereignet hatte, all das, was ihn zu seinem Triumph geführt hatte, spannte er sein Gehirn aufs äußerste an, um wenigstens ein ganz klein wenig Sinn oder Verstand herauszufinden. Was hatte es, wenn jemand einem Priester aus Essex ein Silberkreuz stahl, damit zu tun, daß man die Suppe auf die Papiertapete an der Wand schüttete? Oder damit, daß man Nüsse Orangen nannte, oder Fenster zuerst bezahlte und sie dann einwarf? Gewiß, er war am Ende seiner Jagd angekommen, aber das Mittelstück hatte er verfehlt. Wenn er sich einmal täuschte (was selten vorkam), hatte er gewöhnlich den Faden erhascht, aber nichtsdestoweniger den Verbrecher verfehlt.Hier hatte er den Verbrecher erhascht, noch aber konnte er des Fadens nicht habhaft werden.
Die beiden Gestalten, denen sie folgten, krochen wie schwarze Fliegen über den mächtigen, grünen Umriß des Hügels. Sie waren sichtlich in ein Gespräch vertieft und möglicherweise achteten sie gar nicht darauf, wohin sie gingen; sicherlich aber schritten sie den verwilderteren und stilleren Höhen der Heide zu. Als die Verfolger näherkamen, mußte Valentin sich zusammenkauern wie ein Indianer, sich hinter Baumgruppen decken und selbst lang ausgestreckt im tiefen Grase kriechen. Mittels dieser ungewöhnlichen Finten kamen die Jäger ihrem Wilde nahe genug, um das Gemurmel der Unterhaltung zu vernehmen, doch ließ sich nichts unterscheiden als das Wort »Vernunft«, das oft in einer hohen und beinahe kindlichen Stimme wiederkehrte. Einmal hinter einem steilen Abhange verloren die Verfolger wirklich die beiden Gestalten, denen sie folgten. Zehn angstvolle Minuten hindurch fanden sie die Spur nicht wieder und dann führte sie um einen Vorsprung eines großen, kuppelartigen Hügels, von dem man ein Amphitheater reicher und einsamer Sonnenuntergang-Szenerie überblickte. Unter einem Baume auf diesem beherrschenden, jedoch vernachlässigten Platze stand eine alte, baufällige Bank und auf dieser Bank saßen die zwei Priester immer noch in ernstem Gespräch. Das prächtige Grün und Gold hing noch am dunklen Horizonte, aber die Kuppel darüber ging langsam aus Pfauengrün in Pfauenblau über unddie Sterne traten mehr und mehr als wirkliche Diamanten hervor. Stumm sich gegen seine Begleiter wendend gelang es Valentin, sich hinter dem großen ästereichen Baume hinaufzuschleichen, und in tödlichem Schweigen dort stehend vernahm er zum ersten Male die Worte der sonderbaren Priester.
Ein teuflischer Zweifel erfaßte ihn, nachdem er anderthalb Minuten gelauscht hatte. Vielleicht hatte er doch die zwei englischen Polizisten in die Einöde einer nächtlichen Heide zu einem Gange mitgeschleppt, der nicht vernünftiger war, als wollte man Feigen auf den Disteln suchen. Denn die zwei Priester sprachen genau wie zwei Priester, fromm, gelehrt und gelassen über die luftigsten Rätsel der Theologie. Der kleine Priester aus Essex, mit seinem runden Gesichte zu den erstarkenden Sternen gewendet, sprach einfacher; der andere hingegen sprach mit gebeugtem Kopfe, als wäre er nicht einmal wert, zu ihnen aufzublicken. Aber man hätte sich keine unschuldigere geistliche Unterhaltung denken können, weder in einem weißen italienischen Kloster noch in einer schwarzen spanischen Kathedrale.
Das erste, was er auffing, war der Schluß eines von Father Browns Sätzen »... was man im Mittelalter wirklich unter den ›unbestechbaren Himmeln‹ verstand«.
Der größere Priester nickte mit dem gebeugten Klopfe und sagte:
»Ah, ja, diese modernen Ungläubigen appellieren an ihre Vernunft, aber wer kann all diese Millionenvon Welten anblicken, ohne das Gefühl zu haben, daß es ganz gut noch Wunderbarere Welten über uns gebe, wo die Vernunft etwas überaus Unvernünftiges ist?«
»Nein,« entgegnete der andere Priester, »Vernunft ist immer vernünftig, selbst in der letzten Vorhölle, im verlassenen Randgebiete der Dinge. Ich weiß, man wirft der Kirche vor, sie erniedrige die Vernunft, aber genau das Gegenteil trifft zu. Die Kirche allein auf Erden erhebt die Vernunft wirklich auf ihren Gipfel. Die Kirche allein auf Erden hält daran fest, daß Gott selbst an die Vernunft gebunden ist.«
Der andere Priester erhob sein strenges Gesicht zum flimmernden Himmel und meinte:
»Und dennoch, wer weiß, ob nicht in jenem unendlichen Universum –?«
»Nur physisch unendlich,« erwiderte der kleine Priester, rasch sich zur Seite wendend, »nicht unendlich in dem Sinne, daß es sich den Gesetzen der Wahrheit entzöge.«
Valentin hinter seinem Baume zerrte in stummer Wut an seinen Fingernägeln. In seinen Ohren klang schon das Gekicher der englischen Geheimpolizisten, die er auf eine phantastische Vermutung hin soweit mitgejagt hatte, nur um dem metaphysischen Geplauder zweier sanfter, alter Geistlichen zu lauschen. In seiner Ungeduld entging ihm die ebenso überlegte Antwort des großen Priesters, und als er wieder hinhörte, war es nochmals Father Brown, der sprach.
»Vernunft und Gerechtigkeit umfassen die fernsten und einsamsten Steine. Blicken Sie auf diese Steine. Sehen sie nicht aus, als wären sie ein jeder ein Diamant oder Saphir? Gut, Sie können sich jede tolle Botanik oder Geologie, die Sie wollen, vorstellen. Denken Sie an Wälder von Diamant und mit Blättern von Brillanten. Denken Sie, der Mond sei ein blauer Mond, ein einziger, riesiger Saphir. Aber bilden Sie sich nicht ein, daß all diese wahnsinnige Astronomie auch nur den kleinsten Unterschied für die Vernunft und Gerechtigkeit unseres Tuns ausmachen würde. Auf Ebenen von Opal und unter aus Perlen geschnittenen Klippen würden sie immer noch eine Warnungstafel finden: Du sollst nicht stehlen.«
Valentin war eben im Begriffe, sich aus seiner steifen und kauernden Lage zu erheben und so leise wie möglich wegzukriechen, ergrimmt über diese eine große Torheit seines Lebens. Aber etwas in dem Schweigen des großen Priesters selbst ließ ihn noch warten, bis dieser sprach. Und als er endlich sprach, sagte er einfach, den Kopf gebeugt und die Hände auf den Knien:
» Well , ich glaube nach wie vor, daß andere Welten vielleicht noch über unsere Vernunft hinausragen. Das Geheimnis des Himmels ist unergründlich und ich für mich kann nur mein Haupt beugen.«
Dann, immer noch mit gesenkter Stirne und ohne im mindesten Haltung oder Stimme zu verändern, fügte er hinzu:
»Geben Sie mir nur Ihr Saphirkreuz herüber, ja? wir sind hier ganz allein und ich könnte Sie niederschlagen wie eine Strohpuppe.«
Die völlig unveränderte Stimme und Haltung verliehen der unerwarteten Wendung des Gespräches etwas eigenartig Gewalttätiges. Aber der Hüter der Reliquie wandte nur den Kopf um ein winziges. Er schien noch immer ein etwas albernes Gesicht den Sternen zuzuwenden. Vielleicht hatte er nicht begriffen. Oder vielleicht auch hatte er begriffen und saß nun starr vor Schrecken.
»Ja,« sagte der große Priester mit derselben leisen Stimme und immer noch derselben Haltung, »ja, ich bin Flambeau.« Dann nach einer Pause fügte er hinzu: »Nun also, wollen Sie mir das Kreuz herübergeben?«
»Nein,« erwiderte der andere und das Wort hatte einen eigenartigen Klang. Flambeau ließ plötzlich seine ganze priesterliche Maske fallen. Der große Räuber lehnte sich auf seinem Sitze zurück und lachte leise, aber lange.
»Nein,« rief er, »Sie wollen es mir nicht geben, Sie kleiner zölibatärer Einfaltspinsel? Soll ich Ihnen sagen, weshalb Sie es mir nicht geben werden? Weil ich es schon in meiner Brusttasche habe.«
Der kleine Mann aus Essex wandte im Dämmerlichte sein wie es schien verdutztes Gesicht und meinte mit furchtsamer Neugierde:
»Sind – sind Sie sicher?«
Flambeau krähte vor Vergnügen.
»Wirklich, Sie sind so gut wie eine Dreiakter-Komödie,« rief er aus. »Ja, du Kohlkopf, ich bin ganz sicher. Ich hatte die Idee, von dem richtigen Paket ein Duplikat zu machen, und jetzt, mein Freund, haben Sie das Duplikat und ich die Juwelen. Ein alter Kniff, Father Brown. ein sehr alter Kniff.«
»Ja,« sagte Father Brown und fuhr immer noch mit derselben eigentümlichen, unbestimmten Weise sich mit der Hand durchs Haar.
»Ja, ich habe davon gehört.«
Der Verbrecher beugte sich mit einer Art plötzlich erwachten Interesses nach dem kleinen Landgeistlichen hinüber.
»Sie haben davon gehört?« fragte er. »wo haben Sie davon gehört?«
» Well , ich darf Ihnen natürlich seinen Namen nicht nennen,« sagte der kleine Mann einfach. »Er war ein Beichtkind, Sie verstehen. Er hatte mit Erfolg an die zwanzig Jahre allein von Duplikaten brauner Papierpakete gelebt. Und als ich anfing, Verdacht zu schöpfen, dachte ich daran, wie es der arme Bursche gemacht hatte, und machte es gleich nach.«
»– begannen Verdacht zu schöpfen?« wiederholte der Geächtete mit vermehrter Spannung. »Hatten Sie wirklich die Grütze, Verdacht zu schöpfen, nur weil ich Sie nach diesem verlassenen Teile der Heide gebracht habe?«
»Nein, nein,« sagte Brown in entschuldigendem Tone. »Sie kamen mir verdächtig vor, schon als ich Sie zum ersten Male sah. Es ist jene kleine Anschwellung oben am Ärmel, wo ihr das Stachelarmband tragt.«
»Wie, beim Tartarus,« schrie Flambeau, »haben denn Sie vom Stachelarmband gehört?«
»O, unsere Pfarrkinder, Sie verstehen,« sagte Father Brown, seine Augenbrauen hochziehend. »Als ich Kurat in Hartlepool war, hatte ich drei von ihnen mit Stachelarmbändern. Und da ich Sie somit von Anfang an in Verdacht hatte, sehen Sie, da sorgte ich dafür, daß das Kreuz auf alle Fälle in Sicherheit käme. Unglücklicherweise habe ich Sie beobachtet, ja. Und so sah ich Sie schließlich die Pakete vertauschen. Dann, Sie verstehen, habe ich sie wieder zurückgetauscht. Und dann ließ ich das richtige zurück.«
»– ließen Sie das richtige zurück?« wiederholte Flambeau, und zum ersten Male war ein anderer Ton in seiner Stimme außer dem des Triumphes.
» Well , ich habe das so gemacht,« sagte der kleine Priester in derselben ungekünstelten Weise. »Ich ging zu jenem Zuckerbäckerladen zurück und fragte, ob ich nicht ein Paket liegen gelassen hätte, und gab eine genaue Adresse an für den Fall, daß es gefunden würde. Well , ich wußte, ich hatte keines liegen gelassen, aber ich tat es, als ich wegging. Und anstatt mit jenem wertvollen Pakete hinter mir herzulaufen, haben sie es direkt an einen meiner Freunde in Westminster geschickt.« Dann fügte er etwas traurig hinzu: »Ich habe das auch von einem armen Burschen in Hartlepool gelernt. Er pflegte das mit Handtaschen zu tun, die er auf den Bahnhöfen stahl, aber er ist jetzt in einem Kloster. O, man erfährt das eben so,« fügte er hinzu, indem er sich mit derselben Art verzweifelten Sichentschuldigens den Kopf rieb. »Wir können nichts dafür, wir sind nun einmal Priester. Die Leute kommen und sagen uns diese Dinge.«
Flambeau zog ein Paket von braunem Papier aus seiner inneren Tasche und riß es auf. Es war nichts als Papier und Bleistücke darin. Mit einer riesenhaften Bewegung sprang er auf die Füße und schrie:
»Ich glaube Ihnen nicht. Ich glaube nicht, daß ein Bauerntölpel wie Sie all das zustande bringt. Ich glaube, Sie tragen das Zeug noch bei sich – und wenn Sie es nicht herausgeben – nun, wir sind ganz allein und ich werde es mir mit Gewalt nehmen!«
»Nein,« sagte Father Brown einfach und stand ebenfalls auf. »Sie werden es nicht mit Gewalt nehmen. Erstens weil ich es wirklich nicht mehr habe, und zweitens, weil wir nicht allein sind.«
Flambeau stockte in seiner Vorwärtsbewegung.
»Hinter jenem Baume,« sagte Father Brown darauf deutend, »sind zwei starke Polizisten und der bedeutendste lebende Geheimpolizist. Wie die hierherkommen, fragen Sie? Nun, ich brachte sie her,natürlich! Wie ich das gemacht habe? Gut, ich will es Ihnen sagen, wenn Sie es wissen wollen! Mein Gott, wir müssen tausenderlei solcher Dinge wissen, wenn wir unter der Verbrecherklasse arbeiten! Also, ich war nicht sicher, ob Sie ein Dieb seien, und es ginge niemals an, Skandal gegen jemanden aus unserem eigenen Klerus zu machen. Deshalb habe ich Sie geprüft, um zu sehen, ob irgend etwas Sie verraten würde. Gewöhnlich macht ein Mensch eine kleine Szene, wenn er Salz in seinem Kaffee findet; wenn er es nicht tut, hat er einen Grund, sich ruhig zu verhalten. Ich tauschte das Salz und den Zucker aus und Sie blieben stille. Gewöhnlich erhebt ein Mensch Einwendungen, wenn seine Rechnung dreimal zu hoch ist. Wenn er sie bezahlt, hat er einen Grund, unbeachtet bleiben zu wollen. Ich änderte die Rechnung und Sie bezahlten sie.«
Die Welt schien darauf zu warten, daß Flambeau wie ein Tiger losstürze, aber er wurde wie durch einen Zauber zurückgehalten; die ungeheure Neugierde betäubte ihn.
» Well ,« fuhr Father Brown mit schwerfälliger Deutlichkeit fort, »da Sie selbst keine Spur für die Polizei hinterlassen wollten, mußte das natürlich jemand anderer besorgen. An jedem Orte, wo wir hinkamen, sorgte ich dafür, etwas zu tun, das mindestens für den Rest des Tages von uns reden machen würde. Ich habe nicht viel Schaden angestellt, einen Flecken an der Wand, verschüttete Äpfel, ein zerbrochenes Fenster, aber ich brachte das Kreuz in Sicherheit, wie denn das Kreuz immer in Sicherheit sein wird. Es ist jetzt in Westminster. Ich wundere mich einigermaßen, daß Sie es nicht mit der ›Eselspfeife‹ aufhielten.«
»Womit?« fragte Flambeau.
»Es freut mich, daß Sie nie davon gehört haben.« sagte der Priester. »Es ist eine faule Sache. Ich bin sicher, Sie sind dafür ein viel zu guter Mensch. Ich hätte es nicht einmal mit den ›Spots‹ mehr aufhalten können; ich bin nicht stark genug auf den Beinen.«
»Wovon in aller Welt sprechen Sie?« fragte der andere.
»Nun, ich glaube nicht, daß Sie wissen, was man unter den Spots versteht,« sagte Father Brown angenehm überrascht. »O, Sie können nicht so tief gesunken sein.«
»Aber wie um's Himmels willen wissen denn Sie von all diesen Schrecknissen?« schrie Flambeau. Der Schatten eines Lächelns huschte über das runde, einfache Gesicht seines geistlichen Gegenübers.
»O, wenn man ein zölibatärer Einfaltspinsel ist, vermute ich,« erwiderte er. »Ist es Ihnen niemals aufgefallen, daß ein Mensch, der so gut wie nichts tut als anderer Leute wirkliche Sünden anzuhören, wahrscheinlich in menschlicher Schlechtigkeit nicht ganz unerfahren ist? Übrigens, um die Wahrheit zu gestehen, eine andere Seite meines Berufes gab mir die Sicherheit, daß Sie kein Priester seien.«
»Was?« fragte der Dieb, beinahe starr vor Staunen.
»Sie griffen die Vernunft an.« sagte Father Brown. »Das tut kein Theologe.«
Und eben als er sich zur Seite wandte, sein Eigentum zusammenzuraffen, kamen die drei Polizisten unter den dunklen Bäumen hervor. Flambeau war Künstler und Sportsmann. Er trat zurück und machte vor Valentin eine große Verbeugung.
»Nicht mir, mon ami ,« wehrte Valentin mit silberner Klarheit ab, »beugen wir uns beide vor unserem Meister.«
Und sie standen einen Augenblick unbedeckten Hauptes, während der kleine Priester aus Essex nach seinem Regenschirme suchte.